Der Beitrag geht von der Beobachtung aus, daß in der modernen und zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur das koloniale Dominanzschema einen neuen Zugang zur Geschichte des "ser americano" hervorruft. Die nueva novela histórica problematisiert vor allem jene kulturellen Deutungsmuster des eurozentrischen Denkens, die das Eigene und das Fremde über die Hierarchie der Geschlechter regeln. Der koloniale Mechanismus, Fremdheit mit den Paradigmen des Männlichen und Weiblichen zu beschreiben und auszugrenzen, wird diskursiv zitiert, um aber letztlich über Verfahren der Destabilisierung aufgelöst zu werden. Entsprechend sollen in dem vorliegenden Beitrag kulturtheoretische und gender-orientierte Fragen der aktuellen lateinamerikanischen Identitätsentwürfe parallelgeschaltet werden. Der Roman Los perros del paraíso (1983) nutzt die erzählerischen Möglichkeiten der nueva novela histórica, um mit Kolumbus eine postkoloniale Form der "conquista erótica" in die Wege zu leiten. In ihr werden die kolonialen Phantasien der Differenz nicht mehr durch die männliche Beherrschung des Anderen eingelöst. Kolumbus wird als ein kultureller Überläufer dargestellt, der zugleich mit dem Bekenntnis zur paradiesischen Gegenwelt von Las Indias auch die Attribute seiner männlich verstandenen Kulturbestimmtheit abgelegt hat. Mit ihm ist die koloniale Blickordnung des erotischen Begehrens ad absurdum geführt. Sie ist im Sprachmodus karnevalistischer Grenzaufhebungen eingefangen und so angeordnet, daß sich sowohl die geschlechtlichen als auch die kulturellen Identitätszuweisungen in Frage stellen. Die Abkehr von den kolonialen Identitätsentwürfen vollzieht sich kulturell in einer hybriden Aufspaltung der Subjekteinheit, biologisch in der androgynen Anlage des weltoffenen Kulturträgers. Der Grenzgang zum Fremden und zum Anderen setzt ein neues biologisches und kulturelles Subjekt voraus, das sich dialogisch der uneinholbaren Differenzerfahrung stellt.
Audio/Video
Fotografien
Ausgewählte Daten zur Person
Biographische Daten
Karl Hölz, seit 1979 Professor für Romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Seit 1988 zusätzlicher Ruf an das Centre Universitaire de Luxembourg für Spanische Literatur. Zahlreiche Publikationen zur französischen, spanischen, lateinamerikanischen und italienischen Literatur.
Projekte
1. Emanzipation und Integration. Der literarische Dialog Mexikos mit der Alten Welt (1810-1870). Finanziert durch die Fritz-Thyssen Stiftung; 2. Das Subjekt und die Anderen. Geschlechterdifferenz und Interkulturalität. Interdisziplinäres Projekt in Zusammenarbeit mit Vertretern der Germanistik und Kunstgeschichte. Finanziert durch die DFG.
Publikationen
Das Thema der Erinnerung bei Marcel Proust. Strukturelle Analyse der mémoire involontaire in À la recherche du temps perdu. (1972); Das französische Chanson. Ein Spiegelbild unserer Zeit. (1. Aufl. 1975, 2. Aufl. 1977); Destruktion und Konstruktion. Studien zum Sinnverstehen in der modernen französischen Literatur. (1980); Das Fremde, das Eigene, das Andere. Die Inszenierung kultureller und geschlechtlicher Identität in Lateinamerika (zur Zeit im Druck).