Hans-Martin A. Schönherr
Die Einbildungskraft als Dietmar Kamper
Auszüge aus: Die Einbildungskraft als Dietmar Kamper. Ein Portrait von Hans-Martin A. Schönherr, in: Information Philosophie Juli 1987, Nr. 3, S. 12-21, Rubrik “Portrait”
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Dietmar Kamper, Jahrgang 1936, studierte an den Universitäten von Tübingen und München. Zehn Jahre lang arbeitete er als philosophischer Anthropologe am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Marburg, bevor er 1979 nach Berlin an die Freie Universität ging. Seine Publikationsliste ist immens. Er eröffentlichte bei Suhrkamp und bei Hanser. Die Süddeutsche Zeitung interviewte ihn [im Original “er”] zur Postmoderne, für deren philosophische Variante Kamper im Anschluss an Nietzsche, Heidegger und Lacan an renomierter Stelle einsteht. Wenn auch der postmodernen Philosophie in der BRD noch die Infrastruktur fehlt, zur Zeit ist sie zweifellos der Höhepunkt des philosophischen Geschehens, und Kamper ist bundesrepublikanisch wohl momentan die Nr. 1, wenn er auch aus dem Schatten der Franzosen bisher nicht herauszutreten vermochte und gegenwärtig sein Glanz vom Ruhm Umberto Ecos überstrahlt wird. Aber alle miteinander sind zweifellos Produkte der Krise der Industriegesellschaft, des modernen Rationalismus und der Fortschrittshoffnungen.
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In seinen Publikationen zeigt sich ein Dietmar Kamper, dessen postmoderne, philosophische Wende aus dem Scheitern der Achtundsechziger und der Reformbemühungen der Jahre danach resultiert und der zunehmend einsehen muss, dass mit Aufklärung und Verstehen Gewalt- und Opferverhältnisse einherschreiten: Das Andere, das es zu verstehen gilt, wird getilgt, indem es von den Rastern einer allgemeinen, logischen Vernunft erfasst wird. Kein Wunder, dass er damit weite Teile der akademischen Elite gegen sich aufbringt, wenn er die Stützpfeiler aufklärerischer Fortschrittlichkeit angreift. Doch sein Weg führt ihn nicht zurück in den Irrationalismus oder die Ganzheitsmetaphysik, die angesichts der Zersplitterungen der Moderne und der wissenschaftlichen Vernunft populärer werden und die doch höchstens die Fehler der Aufklärung fortsetzen, die Welt mit übergreifenden Ordnungsmodellen zu erfassen. Derart entkommt Aufklärung nicht dem Mythos, wie Adorno und Horkheimer in ihrer "Dialektik der Aufklärung" feststellten. Jener Tradition, -die die Negativität der Dialektik erkennt, steht Kamper viel näher als Habermas. Denn wenn Habermas die Universalität der Vernunft auf der kommunikativen Ebene für gesichert hält, so bleibt für Kamper in der Tradition Adornos auch nichts anderes als Aufklärung, aber eben Aufklärung über Aufklärung. Positivität kann am Ende des Vernunftfortschritts anders nicht mehr verstanden werden: Das markiert ein Ende der Geschichte, wie sie als Progress der Wissenschaften, der Technik und der Gesellschaft seit Galilei gedacht wurde. So treten wir in ein nachgeschichtliches Zeitalter ein, mit Kamper in das Posthistoire oder die Postmoderne.
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Systematisch und biographisch ist daher für Kamper die Kritik an den Wissenschaften Ausgangspunkt seines Denkens. Er kritisiert nicht nur wie Edmund Husserl, dass die Wissenschaften die Verbindung zur Lebens-und Alltagswelt verloren haben, sondern dass gerade durch ihre Komplizenschaft mit der Macht die hoffnungsvolle Entwicklung in den Sozialwissenschaften, die in den Jahren nach 1968 folgte, in den siebziger Jahren wieder aufhörte (2). Vor allein aber geht es Kamper darum, dass die Wissenschaften das Vielfältige in der Lebenswelt so behandeln, dass sie es systematisch unterdrücken, zerstören, und ins Unbewusste verdrängen. Die Wissenschaft trug zu einer Welt bei, in der Wirklichkeit, um mit Hegel zu sprechen, auf das Vernünftige reduziert wurde. Denken und Verstehen verkommen zu einem Zwangsverhalten, das viele menschliche Möglichkeiten aus- schliesst: das Gefühl, die Wünsche, das Spiel und - ich antizipiere Kamper - die Einbildungskraft. Letztere wird immer mehr zu seinem grossen Thema werden, die er aber nicht unkritisch befasst, sie nicht einfach zum Hort der Hoffnungen und Chancen erklären wird.
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Konkret - denn zunächst arbeitet Kamper in den Erziehungswissenschaften - betreibt er Wissenschaftskritik vornehmlich an der Pädagogik. Kamper lässt sich nicht von den heeren pädagogischen Idealen der Aufklärung blenden, zu denen sich zwischenzeitlich auch die Konservativen bekennen. Kamper geht es nicht bloss um die wohl kalkulierte Abwägung und Kritik der sozialen Interessen. Er geht über die klassische Gesellschaftskritik hinaus und hinterfragt, was uns an Werten unhinterfragbar scheint, nämlich die Ideale der Vernunft selbst - das ist die postmoderne Methodik. Zunächst begreift er, was Hegel lange vor ihm einsah, dass Handeln in rational ausgestalteten und ausdifferenzierten Systemen individuell nicht möglich ist. Mit dem alten Ideal der Emanzipation können wir dem nicht mehr begegnen, weil Emanzipation selbst diese rationalisierten Verhältnisse festschreibt und in eine Selbstlähmung des Individuums führt. Emanzipation verändert nach Kamper die objektiven Verhältnisse, so dass diese wirklich zu einer übermächtigen zweiten Natur werden, wie es bereits Hegel - jedoch noch hoffnungsfroh - konstatierte (3). Emanzipation führt damit für Kamper zurück in die Unmündigkeit, aus der sie herausführen sollte, weil der emanzipierte Mensch nicht der selbständige, sondern der funktionierende ist.
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Damit kommen wir zur zweiten Spur, der Kamper gegenüber der europäischen Vernunft folgt. Als gelernter Anthropologe begibt er sich auf den Weg in die Vorgeschichte, auf den skeptischen Weg, den Ulrich Sonne-mann mit seiner negativen Anthropologie parallel zu Adorno vorgezeichnet hat. Die menschliche Natur steht heutzutage radikal in Frage. Von nichts wissen wir mehr gesichert, dass es am Menschen originär natürlich wäre. Erziehung soll das ersetzen. Doch sie versagt und vermag Natur nicht zu simulieren. Sonnemann hat das eingesehen, wenn er die marxistische Anthropologie für gescheitert erklärt, die mittels Geschichte die Einheit von Mensch und Natur wiederherstellen will. Nichts anderes bleibt demgegenüber als eine negative Anthropologie, die sich darüber klar ist, dass rational die menschliche Natur, Sexualität und Spontaneität nur abstrakt zu begreifen ist. Daher geht es einer negativen Anthropologie um die fundamentale Kritik aller Ideen der Menschlichkeit oder des Humanen. Mehr als bloss deren ideologischer Charakter ist zu entlarven. Um nicht in klassische Schulformen des Okzidents zurückzufallen, gilt es in der negativen Anthropologie ä la Sonnemann, das Risiko radikalster Selbstkritik des Denkens auf sich zu nehmen, d.h. als letztes Resultat auch die völlige Orientierungslosigkeit. Aber anders wäre den humanistischen Menschenbildern und höheren Werten nicht zu entgehen (4).
Insofern verschärft Kamper den selbstreflexiven und selbstkritischen Ansatz der Dialektik der Aufklärung. Kampers Denken radikalisiert an Habermas vorbei diejenigen Tendenzen der Frankfurter Schule die mit den Bemühungen um negative Dialektik verbunden sind. In dieser Sinne gelangt er an das Ende der Geschichte als 'Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit' (Hegel) folglich zum Posthistoire.
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Rückkehr ist angesagt. Aber Rückker, wohin? Nach Kamper kann der Weg nur dorthin führen, wo wir etwas finden, was älter ist als die Vernunft: Da ist die Einbildungskraft. Sie wurde von der Aufklärung verdrängt. Fast nichts ist von ihr mehr übrig. Trotzdem erhebt Kamper sie zum Gegenspieler jener verselbständigten Vernunft, die vom Körper und der Lebenswelt sich loslöste. Imaginatio soll dieser Abstraktion des Denkens dieser Rationalisierung der Geschichte entgegentreten und das endgültige Abgleiten in die rationale Barbarei der modernen Massakergesellschaft bremsen. (5)
In seinem programmatischen Buch "Zu Geschichte der Einbildungskraft" eröffnet Kamper eine kritische Theorie der Zivilisation, die der Alternative zwischen neuem Mythos und alter Aufklärung entgehen möchte. Die Wissenschaften sind in eine Dialektik geraten, in der sie progressiv nur noch neue Mythologien produzieren können, seien es solche, die der Zivilisation die Wildniss oder dem bloss Zweckrationalen das Heilige, bzw. eine neue Metaphysik entgegenstellen. Kamper geht es stattdessen um eine Position, die die alte Dialektik von Subjekt und Objekt vermeidet und die die Einbildungskraft als ihr reflexives Zentrum betrachtet. Doch diese Einbildungskraft ist kein philosophisch fixierbarer, systematischer Ort im Sinne dialektischer oder logischer Konzeptionen (6). Geographisch und symbolisch führt ihn Kamper in seinem Buch "Das gefangene Einhorn" vor. Der Ort der reflexiven Eildungskraft ist der Mythos von Atlantis, dem verschwundenen Kontinent - an dieser Stelle weiss ich nie so genau, ob Mythos nicht sehr viel mit Mystik zu tun hat. Atlantis nimmt eine Position zwischen der alten und der neuen Welt ein. Symbolisch verbürgt sie für Kamper das Sowohl-als-auch, das er dem binären Entweder-oder des mathematischen Denkens entgegenstellt. Kampers Position will insoweit die verschiedenen Verbindungen festhalten und von ihnen aus den Weg jenseits der Katastrophe finden. Das soll jedoch weder eine Flucht sein noch als Problemlösung begriffen werden. Kampers Position der Einbildungskraft setzt sich keine bestimmten Zwecke, sondern verharrt in der Ambivalenz einer permanenten Bemühung, die auflärerische Dialektik von Opfer und Gewalt nicht nur zu lähmen, sondern im Lähmungszustand zu halten (7). Das ist wohl auch das äusserste, was wir noch zu erwarten vermögen, wenn auch selbst das mehr als unwahrscheinlich ist.
Die Geschichte der Einbildungskraft ist daher auch keine dialektische Vermittlung, keine Überwindung [im Original Ue] von Krisen, keine Aufhebung von Widersprüchen. Das Sowohl-als-auch soll programmatisch eine Öffnung ergegen, die aber nicht zielgerichtet ist; denn die Position der Einbildungskraft kennt keine bestimmten Zwecke. Sie kann keine Position der Alternative sein, des Wissens, sondern sie muss von einem Dritten, eben jenem Atlantis, ausgehen, von einer Position des Nichtwissens - zweifellos eine urphilosophische und heute immens wichtige Position. Nicht mehr geht es um die demonstrative Handlungswut, noch um den Wahn des Verstehens und des Wissens.
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In der 'Geschichte der Einbildungskraft' propagiert Kamper die Idee der Gelassenheit als Haltung, die dem posthistorischen Zustand angemessen sei. Öffnung, die sich dem berechnenden Entweder-oder zu entziehen vermag, bedarf aber nicht nur der Gelassenheit, sondern: Kamper schreitet unerbittlich weiter – bis zum Zögern, ja zur Unschlüssigkeit -was angesicht der technisch und bürokratisch verstellten Handlungsmöglichkeiten zweifellos gut, aber auch absolut unzureichend ist. Derart aber will die Einbidlungskraft die Geschichte des Mythos dekonstruieren, ohne ihr gleich wieder zu verfallen, ohne dem Mythos vom Subjekt aufzusitzen, den das moderne Denken auf der Flucht vor dem archaischen immer wieder erneut produziert, wenn Subjekt und denkendes Ich mit Entschlossenheit, klareren Entscheidungen und immer wahreren Erkenntnissen die Welt immer besser zu beherrschen trachten. Vielleicht - so unbefriedigend, wie es sein mag - hat Kamper letztlich deswegen recht, weil nichts anderes bleibt, als die Lethargie zur Methode zu erheben, um dem regredierenden Kreis des historischen Fortschritts in ein post-historisches Zeitalter zu entgehen (9).
Das wird als von Kamper so genannte "progressive" Aufgabe jedoch schon deshalb zweifelhaft, weil die Idee des Fortschritts aufklärerisches Denken fortsetzt. In der Begriffswahl hapert hier das Posthistoire. Es gibt allerdings noch andere Einwände: Damit könnte die Postmoderne doch wieder nur eine neue Dimension des Fortschritts der Rationalisierung eröffnen,also gar nicht postmodern sein. Könnte nicht die propagierte Gelassenheit just jene Unzulänglichkeiten des Individuums systemadäquat ausgleichen, die in der Idee der Emanzipation vielleicht doch noch als Unruheherd wirken? Erscheint nicht Atlantis - der verschwundene Hort der Einbildungskraft - eher als haltlose Einstiegsdroge in die total informierte Gesellschaft, der man mit dem öffentlichen Zugang zu allen Datenbänken, wie es Jean-Frangois Lyotard fordert, eher noch mehr aufsitzt? Oder ist die Emanzipation wirklich vollständig aus ihrer / kritischen Funktion herausgefallen? Dann bleibt es allerdings noch immer nicht ausgemacht, ob Gelassenheit sich gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht trotzdem in die blosse Unterwerfung schickt.
Kamper will gegen die Realität der Massakergesellschaft über das kritische Potential der Vernunft hinaus dasjenige der Einbildungskraft mobilisieren. Insofern versucht sich die, Gelassenheit des postmodernen Denkens gegenüber der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Autorität zu sperren.
Kamper erweitert in seinem 1986 erschienenen Buch "Zur Soziologie der Imagination" die Programmatik der Einbildungskraft durch die Spur der Imagination in der gesellschftlichen Realität. Kamper will die Dimension der Soziologie um einen wesentlichen Bereich erweitern, der bisher von ihr verdrängt wurde, So spürte er einer merkwürdigen Spaltung nach, die mit der Phantasie in der Geschichte erfolgte: Einerseits dient das Imaginäre dazu, die Angst vor dem Realen zu bewältigen, vor diesem Realen zu schützen - aus dem Schutzschild Imagination fliessen Mythos und Aufklärung gleichzeitig und entfalten ihre grausame Geschichte. Andererseits vegetiert die Imagination auch als das Verdrängte, das Unbewusste, der verbotene Wunsch und als verfemte Sucht - das vollständig auszubrennen auch einer jahrtausendelangen Entwicklung misslang. Um die Soziologie dieser Spaltung, um die gesellschaftliche Wirklichkeit der Imagination geht es dem Soziologen Kamper. Aber als Philosoph der Einbildungskraft beschreibt er nicht nur das, was ist, nicht nur den katastrophalen Weg einer Imagination als Vernunft und Selbstkontrolle, sondern er sucht nach einem Weg, das Gefängnis jener Imagination als Relität zu verlassen, um aus der Moderne heraus hinter den Mythos zurück zu gelangen. Gerade in der Wissenschaft führt ein solcher Weg die Einbildungskraft in die Dimension des Expressiven, der Kunst. Die Wirklichkeit wird rational immer weniger begriffen. Viel eher ist sie auszudrücken. Die Expressivität und damit die Kunst entgehen den Spaltungen der Vernunft eher als jede Form wissenschaftlicher Überlegung. Doch Imagination hat nicht nur krische Absichten: die Bilder schützen vor der Wirklichkeit. Zugleich können sie auch ihre eigenen Schutzfunktionen wahrnehmbar machen (10). Postmodernes Denken führt insofern nicht in die Kunst; aber es sprengt expressiv Wissenschaft von innen heraus. Das macht es so provokant, weil es selbst kein blosses künstlerisches Spiel, sondern Wissenschaft sein will. Postmoderne Philosophie setzt daher die Tradition der mittelalterlichen Häresien wie auch avantgardistischer Kunstrichtungen fort, wie es Umberto Eco in einem Streichholzbrief der ZEIT erklärte.
In gewisser Hinsicht folgt Kamper Adornos ästhetischer Theorie, wo Kunst enthüllt, was die Ideologie verschweigt. Doch was bei Adorno die Autonomie der Kunst ausmacht, die weder für Klassenherrschaft noch zur Naturbeherrschung unumgänglich notwendig ist, das kehrt bei Kamper in eine umfassende anthropologische Grundkonstituante des Menschen, eben der Imagination, ein. In diesem Kontext ist Kamper trotz, oder wegen seiner posthistorischen Gesinnungen weniger pessimistisch als Adorno. Diesem bleibt ja nur noch die ästhetische Reflexion der Wirklichkeit. Kamper hingegen glaubt gegenüber der Aufklärung, dass wir auf dem Wege der Imagination hinter den Mythos zurück in ein Nachzeitalter am Ende der Geschichte der Aufklärung gelangen.
Fußnoten
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(2) vgl. Interview von Florian Rötzer mit Dietmar Kamper in der Süddeutschen Zeitung vom 19.10.1985.
(3) s. Kamper, Dekonstruktionen, Marburg 1979, S. 50, 158.
(4) ebd. S. 51, 112.
(5) ders., das Ende der Bürgerlichen Revolution - Grundlagen einer Logik der Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Abstraktion und Geschichte - Rekonstruktion des Zivilisationsrozesses, München, Wien 1975, S. 204.
(6) s. ders., Das gefangene Einhorn, München, Wien, 1983, S. 6f.
(7) ders., Christoph Wulf, Im Schatten der Milchstrasse, Tübingen 1981, S. 8.
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(9) s. ders., Zur Geschichte der Einbildungskraft, München 1981, S. 123 f.
(10) s. ders., Zur Soziologie der Imagination, München, Wien, 1986, S. llf, 72 f.