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dietmar kamper

Philosoph · Kulturanthropologe · Soziologe · ...

Dietmar Kamper: Über Ehe und Liebe

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Ehe und Liebe sind zwei unterscheidbare historische Erfindungen, die auf je eigene Weise den menschlichen Umgang miteinander zu organisieren versprechen, und zwar so, daß darin Begehren und Erfüllung des Begehrens einen Ausgleich im Glücken finden können. Als Lebensformen der Intimität binden sie normalerweise zwei Menschen verschiedenen Geschlechts aneinander.

Ehe und Liebe sind also exklusiv und aufs Ganze gerichtet. Sie sind keineswegs bloße, leere Versprechungen. Sie können gelebt werden und mobilisieren dann mehr Kraft, als sie verbrauchen. Aber sie sind von Anfang an und im Verlauf ihrer Geschichte immermehr, von den Rändern her und aus ihrer Mitte heraus, gefährdet gewesen. Deshalb bleiben sie geschichtliche Experimente.

Die Ehe ist eine alte Erfindung. Im Prinzip wird sie von anderen, von der Familie, von einem Vormund für die Zwei, die zusammengehören wollen, abgeschlossen. Sie basiert mithin nicht auf dem Gefühl, konnte aber immer wieder ein solches erzeugen. Dann ergab das Zusammengehören einen unverwechselbaren Farbion. In ihrer Verfallsform allerdings wurde sie bald als unerträglich empfunden und durch nicht-exklusive Lebensgemeinschaften ersetzt. Die Liebe ist eine "mittelalterliche" Erfindung. In ihrer leidenschaftlichen Form ("amour Passion") wurde sie gegen die Ehe konstruiert und daneben gelebt. Das führte zu komplementären undk-iitradiktorischen Spannungen. Aber erst in der europäischen Romantik, also vor zweihundert Jahren, wurde die Liebe zur Grundlage der Ehe gemacht. Der Niedergang dieser "Liebesheirat" ist schlimm und dauert an.

Es gibt inzwischen Unterbietungen der Ehe und der Liebe: z.B. die bloße Zweckehe wegen der Nachkommen oder wegen des Besitzes; z.B. die Liebe als Vergnügen oder als Spiel oder als Sport, sei es als "weiße Sexualität". Es gibt aber auch Überschreitungen: z.B. die asketische "Verhimmelung", die alle irdische Erfüllung in den Dreck zieht ("schwarze Sexualität"); z.B. Entsagung und Verzicht, die auf Opferung des Selbst oder/und des Anderen hinausläuft.

Liebe wird erklärt wie Krieg oder das Weltall. Sie ist ein Denken mit dem Körper, provoziert zu Konkurrenz und Rivalität und endet meist tödlich. Sie macht blind in allen Angelegenheiten der kalkulierenden Macht, aber sehend in den wichtigen Dingen des Lebens Ehe wird geschlossen wie Frieden oder irgendeine andere Ordnung gegen die menschliche Selbstzerstörung, die wie alle Gewalt offen und subtil zugleich sein kann. Ehe ist mit dem Gericht und der Moral im Bunde, ohne von ihnen abhängig zu sein.

Seit etwa hundert Jahren versuchen immer mehr Menschen aus Ehe und Liebe und ihren Verspannungen auszusteigen, die zwischen Komplementarität und Kontradiktion, zwischen guter Ergänzung und schlimmer Gegensätzlichkeit immer mehr schwanken. Aber es ist ver trackt: Männer und Frauen sind beteiligt am Aufbau der Widerstände, die sie überwinden wollen. Nirgends gilt der Satz so genau wie auf dem Feld zwischen Ehe und Liebe, daß der Mensch seines Unglücks Schmied sei.

Unglück heißt zu deutsch: ohne Lücke. Ehe und Liebe, vor allem als Alternative organisiert und verstanden, produzieren längst ihre je spezifische Ausweglosigkeit. Das Feld ist von Fallen geradezu übersät. Wer der einen entgeht, steckt bereits in der anderen. Es hilft auch nicht, die jeweiligen Ideale gegen die jeweiligen Wirklichkeiten auszuspielen. Liebe und Ehe ersticken am eigenen Bild- und Wortmüll. Ein ehrlicher Mensch kann heute weder verliebt noch verheiratet sein.

Es muß etwas Drittes geben. Aber es ist ungewisser denn je, ob dieses Dritte, der wahre "andere Zustand", durch Ausstieg (Überschreitung, Unterbietung) erreicht werden kann, ob die Lösung. des Knotens nicht vielmehr in der Form der Ehe, in der Form der Liebe und in der Form ihrer Verspannung liegt. Man muß wohl endlich weitergehen als bis zur endlosen Wiederholung, die eine Vollstreckung der Gesetze, nicht ihre Verwindung ist.

Das "Dritte", diesseits der Ehe, jenseits der Liebe, ist noch namenlos. Aber es kann durch gegen- strebige Fügungen zumindest bezeichnet werden: Ebenbürtigkeit in der Weise fundamentaler menschlicher Solidarität; enttäuschungsfeste Gegenseitigkeit; Souveränität in der Selbstveraus- gabung, begrenzt nur durch die Freiheit des Anderen, aufzubrechen, wohin er/sie will; Lob der eigenen Sterblichkeit als Ehre der Unsterblichkeit der Menschen...

Berlin, 8.1.1995

Anmerkung E.H.:
Bislang unveröffentlichter Text, der einer Typoskript-Fassung vom Januar 1995 entspricht. Der Text dieser Fassung enthält Korrekturen eines vorausgehenden Manuskriptes.
[...] = Auslassung, E.H.

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