Dietmar Kamper: Der Augenblick des Ketzers
Methodologische Präliminarien
Für Rudolf Heinz
Es ist riskant, zuletzt immer auf dieselbe Manifestation zu sprechen zu kommen: auf die Konfrontation von Sterblichkeit und Unsterblichkeit, von Geistesgegenwart und geistiger Gegenwartsunfähigkeit, von "wahrem" Augenblick und "falscher" Ewigkeit. Die inquisitionsgeborene Orthodoxie kannte keine größere Sünde als die Behauptung, es gäbe ein erfülltes Dasein im Diesseits und es könne der einzelne Mensch in Freiheit dafür einstehen. Sobald sich diese "Sünde wider den Heiligen Geist" regte, oft schon vorher, wurde sie mit allen Mitteln "plattgemacht", auch dadurch, daß man sie beim Namen nannte. Das ist die Crux. Der Augenblick weiß sich nicht. Er kann sich nicht verteidigen, weil der Widerstreit, dem er ausgesetzt ist, nicht auf der Ebene gelehrten Wissens stattfindet. Die Gerichtsszene selbst ist bereits der Sieg über den vermeintlichen Kontrahenten und damit das Ende aller Gerechtigkeit. Deshalb läßt sich mittels der Ketzerakten nicht, auch nicht durch die sorgsamste Eruierung möglicher Gegenbilder herausfinden, um was es bei den Prozessen wirklich gegangen ist. Auch die Ketzer, einmal vor die Schranken des Gerichts gezerrt, wußten es nicht. Es kommt immer derselbe todgeredete Quatsch heraus, der sich aus den Unterstellungen der Anklage nährt und viel mehr vom Todhaß auf das Leben verrät, als den Anklägern lieb sein kann. Deshalb also ist die umgekehrte Perspektive fällig, nämlich nachzuforschen, wie die Orthodoxie ihre Großherzigkeit verlor und zu diesem miesen, kleinkarierten Tribunal wurde, das bis heute in vielerlei Gestalt folgenschwer am Werk ist. Häresie heißt selber denken, wobei der Ausgang ungewiß ist. Orthodoxie ist Denken im Auftrag und wird so zwangsläufig zum Prüfen und Überprüfen bereits feststehender Resultate. "Die richtige Lehre" existiert immer schon, auch zum Zeitpunkt ihrer Ausarbeitung. Eine richtige Häresie gibt es nicht, insofern sie von Anfang an insuffizient ist in Betracht des Unaussprechlichen, das sie am Leben erhält. Diese "Schwäche" haben sich die Gegner zu nutze gemacht und mit allen Mitteln versucht, den Nachweis zu führen, daß es ein Unaussprechliches nicht gibt und daß, falls es doch ein Unaussprechliches gibt, es bereits "richtig", d.h. orthodox formuliert wurde. Alle Ketzerei sei, so betrachtet, verlorene Liebesmüh. Viele haben aufgegeben in der Not der Verzweiflung, aber nicht alle. Gelegentlich kam eine Antwort durch, die ins Herz der verschatteten Vernunft traf, mittels der eigenen Ungewißheit die lächerliche Gewißheit des rechten Glaubens attackierte und ausdrücklich bezweifelte, ob es überhaupt eine Orthodoxie gibt. Dann zumeist wurde Feuer und Schwert zur Klärung der Lage eingesetzt.
Es war nie die Stärke, sondern die Schwäche des Glaubens, die zur Orthodoxie-Bildung führte. Der Orthodoxe braucht den Ketzer, um sich zu festigen. Ein Mechanismus von brutaler Einfachheit. Man lebt vom Tod des Anderen. Nach und nach erfaßt die Brutalität auch den Ketzer, der seinerseits nach "Rechtgläubigkeit" verlangt, so daß über lange Zeiten der Auseinandersetzung hin nur noch zwei Orthodoxien im Spiel sind. Das gibt zu manchen Verwirrungen Anlaß, von denen die Ketzergeschichten voll sind. Fast alle Autoren sehen sich genötigt, angesichts der erscheinenden Symmetrie die Standpunkte zu klären, ob man heute dafür oder dagegen ist. Damit aber reiht man sich ein in eine "mentale" Orthodoxie, die für das notwendig asymmetrische Verhältnis, das ihr vorausgeht, keinen Sinn mehr hat. Orthodoxie ist eben zunächst kein Register zur Reinigung verschmutzter Institutionen, sondern ein transzendentales Selbstverhältnis des Denkens selbst. Das gilt sowohl für die "Gegenstände" der Untersuchung, als auch für die "Methode" der Untersuchung. Dadurch, daß das untersuchende Denken nah bei sich selbst eine Art Zwangsvollstreckung übt, setzt es sich außer Kompetenz, bei dem Wort Freiheit etwas anderes zu hören als Bedrohliches und Gefährliches. Freiheit aber ist das große Schlüsselwort der Häresie.
"Die Historiker müssen der Inquisition dankbar sein." (Steven Runciman) Ein hochverräterischer Satz. Denn sie haben fortzusetzen, was sie begann: das todbringende Verstehen. In Betracht der Freiheit ist das Geschäft der Historiker noch immer dasselbe wie das der Inquisition: die Ausrottung. Es ist gerade nicht das Mißverständnis, das tödliche Konsequenzen hat, sondern das faktische Besserwissen. Je genauer die Historiker entziffern, was Ketzer sind, desto gewalttätiger wirkt sich das Wissen aus: es hat nichts auf sich mit der Ketzerei, sprich: mit der Freiheit. Auch die Ketzer unterbieten von nun an sich selbst. Sie lassen sich gehen in Richtung einer Selbstentlarvung, die in Geständniszwängen endet. Schließlich bleibt eine Tautologie, die auf den Abfallhaufen der Geschichte gehört. Es gibt nur noch Orthodoxie, die durch die Kette ihrer kleingemachten Negationen zum Non plus Ultra des Weltverständnisses geworden ist, zum unendlichen Spiegel eines abgestorbenen Wissens. Wissenschaft insgesamt mutiert zur Domäne des toten Gottes. Die letzten freien Geister wechseln in die Kunst, um schließlich auch dort vertrieben zu werden, sei es von ihresgleichen, die sich die Allüren der Ausrottung durch Besserwissen zu eigen gemacht haben. Die Freiheit und ihre Phänomenologie sind historisch zur Blödigkeit verurteilt.
Der Terminus "todbringendes Verstehen" wurde von Tsvetan Todorov ausprobiert, um die 15 Millionen Toten, die bei der Eroberung Amerikas beiläufig gezählt wurden, historisch ins Gewicht fallen zu lassen. Keine der bisher geltend gemachten Ursachen, auch nicht ihre Summe sei hinreichend, um das Ausmaß eines solchen Massakers zu ermessen. Die These dagegen lautet: die Europäer verstehen die Wilden besser, vor allem besser als diese sich selbst. Damit wird die Andersartigkeit des Anderen vernichtet. Kommunikation entfaltet tödliche Wirkungen, schon bevor die als Wilde bezeichneten Anderen umgebracht werden. Man tötet gewissermaßen Totgemachte, sei es durch Feuer und Schwert, sei es durch Süchte, sei es durch Infektionen. Das Muster stammt von der Inquisition. Und so sollte es einen nicht wundern, daß das amerikanische Massaker etwa zeitgleich mit den Höhepunkten der europäischen Ketzer- und Hexenverbrennungen stattfand, dort wie hier fast ohne ein Wissen des Tuns. Denn je gewalttätiger ein Gedankensystem ist, desto bornierter und beschränkter ist seine Wahrnehmung. In Amerika und in Europa herrschte die Prämisse der Rettung und der Erlösung der Seelen vor der Verdammnis. Um die armen Ketzer und die guten Wilden vor der Hölle zu bewahren, brachte man die Hölle wie Pech und Schwefel über sie.
Der Widerstand gegen das Dogma von der Erlösungsbedürftigkeit aller Menschen, wie es im elften Jahrhundert zusammen mit dem Fest "Allerseelen" Gestalt gewann, war schon verloren, bevor es begann. Es war unmöglich, im Dialog darauf zu bestehen, man sei nicht erlösungsbedürftig, unterliege nicht der Erbsünde und verzichte auf das Erlösungswerk Christi. Die hochgradige Selbstverständlichkeit des jüdisch-christlichen Szenarios kannte kein Außen. Sofort schnappte die ausgelegte Falle zu und die häretische Grundverfehlung gewann für Orthodoxe und Ketzer Kontur: Selbsterlösung, pfui Teufel. Damit war ohne jede Rücksicht auf die Realität transzendental vorgeklärt, wie zu interpretieren sei. Was für beide Seiten Verbindlichkeit bekam. Auch die Ketzer hielten sich bald für Anhänger einer Bewegung der Selbsterlösung, die sich unentwegt ausbaute und als einziges Schema der Interpretation fungierte. Dabei wollte man anfangs nur in Ruhe gelassen werden und den Zumutungen von Kirche und Staat entgehen. Erst heute beginnt das Schema sich aufzulösen, obwohl es mit der Zivilisationsgeschichte bis in subtilste Verästelungen der Anthropologie eingedrungen ist.
Am schwierigsten ist die Parteinahme für die Häresie unter der Prämisse, daß sie orthodoxieerzeugt ist. Wir wissen so gut wie nichts von den Ketzern selbst, nur durch die Inquisitionsakten. Das ist in den meisten Neuerscheinungen inzwischen methodisch reflektiert. Was nach wie vor nicht im Blick ist, das ist der Umstand, daß die historischen Quellen per se dubios sind, weil sie nur die dubiose Geschichte der Sieger festhalten. Orthodoxie ist von Anfang an und bis in die Höhen der Objektivitätsanstrengungen "ideologisch". Andererseits ist nichts an der "Geschichte der Verlierer" authentisch, wie sie durch einfache Umkehrung und durch Lesen gegen den Strich rekonstruierbar wäre. Ungewißheit - das hauptsächliche Charakteristikum der Ketzerei - ist kein Faktor des kalkulierenden Verstandes und der rechnenden Vernunft. Vielmehr öffnet sich hier das Tor für das Abenteuer der Einbildungskraft. Dabei geht es sowohl um die Einbildungskraft des Ketzers und des Inquisitors, als auch um die Einbildungskraft des Ketzerforschers, die sich im Rahmen eines maßlos gewordenen historischen Imaginären in die Form einer "exakten Phantasie" (Goethe) gebracht hat. Auf diesen Unterschied käme es an: exakte Phantasie, präzise geschichtliche Einbildungskraft, Körper-Denken gegen Phantastik, streunende Mythologie und ein verludertes Imaginäres, das inzwischen auch die Wissenschaft und die Kunst hinterrücks erfaßt hat.
Der materielle Grund für die umgekehrte Perspektive von der Häresie zur Orthodoxie ist fragil und riskant: "mein" Körpergedächtnis, "meine" passionsgeborene Wahrnehmung, "meine" exakte Phantasie, die ein anderer Name für die menschliche Freiheit ist. Keine dieser Instanzen gehört mir, keine kann zur Kompetenz oder gar zum Eigentum entwickelt werden. Es bleibt nur, hingerissen zu sein, sich in Mitleidenschaft ziehen zu lassen, der Passion den Vorzug vor der Aktion zu geben. Dann stellt die Korrespondenz sich ein, die Korrespondenz zwischen den Freiheiten der Ketzer, die Korrespondenz aber auch zwischen den imperfekten Vergangenheiten ungebrochener Menschen, die das Leben mit dem Tode bezahlten. Das ergibt im Ensemble ein tief hängendes Netz durch die Jahrhunderte, das es wegen außerordentlicher Reißfestigkeit erlaubt, Abgründe zu überbrücken, in dem sich deswegen auch manches andere angesiedelt hat, Aberwissen und Aberglauben, Wissen und Glauben. Die Korrespondenz der Ketzer ist die "wahre Substanz" der Geschichte und somit Grundlage auch für die diversen Strategien ihrer Ausrottung.
Das Tableau der Häresie, wie es hier ansteht, ist beschränkt auf ein Jahrtausend, auf das zweite nach Christi Geburt. Es faßt die Westwärtsrichtung, die auch die Zivilisation nahm: vom Balkan nach Italien, Südfrankreich, den Rhein hinab meerwärts, nach Köln, Flandern und dann in einer Todesspirale rechtsrum in den Untergrund des heutigen Europa. Der Einspruch, den die Ketzer übten, betraf die verkappte Abstraktion des Irdischen. Häresie ist zunächst Zivilisationskritik, dann erst Kirchen- und Staatskritik. Es wird markiert, daß dem Körper, wie er der Geschichte zum Grunde liegt, sein Recht nicht eingeräumt wird. Aber die Argumente erscheinen von Anfang an verzerrt. Sie werden, bevor sie vor Gericht gelangen, umgedeutet in verständliches, aber beliebiges Ketzerlatein und passend gemacht für die kleinlichen Kategorien der Widerlegung. Insofern konnte es dazu kommen, daß in der eingeschränkten Öffentlichkeit der Kirchenbücher und Staatsakten nichts von dem erscheint, was auf dem Spiel stand.
In Betracht der Geschichte bis auf den heutigen Tag, insbesondere in Betracht der Reformen, Reformationen, Revolten und Revolutionen, könnte man annehmen, daß das Verhältnis von Häresie und Orthodoxie definitiv ausgerenkt ist, daß also seine genaue Rekonstruktion nichts mehr zur Klärung der Lage beiträgt. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist das Schicksal der Orthodoxie, das eine dramatische Wendung ins Schlimme genommen hat. Sie ist in Gestalt eines weltweit installierten Imaginären universal geworden. Es wird nicht mehr so oft Gericht gespielt. Statt dessen wird jetzt der Augenblick, die Geistesgegenwart, die Präsenz eines voluminösen Körpers von der Gewalt eines miterrichteten Zweiten Futurs direkt erdrückt. Von der Presse, die nicht zufällig so heißt, bis zu den visuellen Medien wird alles auf die Fläche gebracht und eingeebnet. Auf allen Druckseiten, Leinwänden und Bildschirmen herrscht eine einzige Zeit, die der perfekten Zukunft unter Einschluß ihrer einfachen Verneinung: alles wird immer schon gewesen sein, nichts wird je gewesen sein. Anthropologisch formuliert: Der Mensch wird gewesen sein; er wird nicht gewesen sein. Das ist ein Ende, das kein Ende nimmt. Zwar gibt es ein großes Interesse an den endlich zugänglichen Ketzerakten, aber das dargestellte Elend wird durch das Elend der Darstellung ausgelöscht. Nichts steht mehr auf Anfang. Von Freiheit keine Spur. Man hat Angst, den Blitz zu bewohnen, der den tiefen Raum der europäischen Ketzer-Geschichte erleuchtet.
Otzberg, in den Hundstagen des Jahres 2001
Erschienen unter dem Titel "Statt eines Vorworts", in: Rudolf Heinz: Revival 2. Szenen einer Nicht-Karriere in der Düsseldorfer Philosophie, Verlag Die Blaue Eule, Essen 2002, S. 9-13
Anmerkung B.T.:
Der Augenblick des Ketzers war der erste intern vorgelegte Text Dietmar Kampers zu seinem Projekt, eine Geschichte des Ketzers zu schreiben.
Es ist dazu nicht mehr gekommen. Diese wenigen Seiten und eine umfängliche Bibliographie zum Thema sind die einzigen Dokumente, die vorhanden sind.