"Während Filme und Theaterstücke aus Quebec zumindest vereinzelt auch in Deutschland ein recht großes Publikum fanden, ist die Literatur hierzulande, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ein noch gänzlich unbekanntes und kaum wahrgenommenes Terrain. Auch das Interesse der deutschen Medien an der aktuellen politischen Entwicklung Quebecs (Referendum) konnte daran bisher nichts ändern.
Dabei ist sich die frankokanadische Literatur seit den sechziger Jahren immer stärker ihrer Eigenständigkeit bewußt geworden. Symptomatisch ist, daß viele der zeitgenössischen Romane die Suche des Protagonisten nach einer eigenen Identität zum Thema haben. Auch in Jacques Poulins Werk ist das Motiv der Suche in immer neuen Formen wiederkehrend. Im Dualismus von anglophoner und frankophoner Bevölkerung nehmen die Schriftsteller Jahren nicht nur eine wichtige Rolle in der Verteidigung der französischen Sprache ein. Französisch schreibende kanadische Autoren haben maßgeblich dazu beigetragen, ein Bewußtsein für eine eigene kulturelle Identität zwischen Amerika und Frankreich zu entwickeln, die behelfsmäßige Bestimmung als 'américains français' oder 'français américain' oder gar 'français égaré' durch 'québécois' zu ersetzen. Überdies haben seit den 80er Jahren auch Immigranten, vor allem aus Südeuropa, Lateinamerika und Asien, auf französisch zu schreiben begonnen, und die québecker Literatur um ihre „Minderheitenliteraturen“ erweitert. Für die deutsche Diskussion um die multikulturelle Gesellschaft wäre ein Blick auf Kanada interessant, wo verschiedene Literaturen in verschiedenen Sprachen koexistieren und ein starkes Bewußtsein für das Neben-und Miteinander unterschiedlicher Kulturen in einem Land herrscht.
Welch weites Feld für interessante Leseentdeckung die frankokanadische Literatur bietet, hat nicht zuletzt der diesjährige Salon du Livre de Paris gezeigt, der Qubec als „invité d'honneur“ eingeladen hatte, um die kulturelle Mannigfaltigkeit der quebecker Literatur auch einem europäischen Publikum nahezubringen."
"In seiner Heimat Québec ist Jacques Poulin einer der bekanntesten zeitgenössischen frankophonen Autoren. 1937 in Saint-Gédeon de Beauce (Québec) geboren, studierte er Psychologie und Literatur in Québec 1967 veröffentlichte er seinen ersten Roman Mon cheval pour un royaume. Sein Werk, das heute neun Romane umfaßt, wurde mit zahlreichen Preisen, darunter der Prix du Gouverneur général du Canada, ausgezeichnet. Für Le Vieux Chagrin erhielt er den Prix France-Québec-Jacques Hamelin. Parallel zu seiner Arbeit als Schriftsteller hat er als Übersetzer gearbeitet."
"Immer wieder begegnet uns in seinem Werk, von Mon cheval pour un royaume bis La tournée d'automne (1993), die Figur des Schriftstellers. Mal ist es der sanfte „Schreibergeselle“ Amadou, mal der unternehmerische Chauffeur eines Bücherbusses, in Le Vieux Chagrin der verträumte Protagonist Jim, die die Suche nach einem erfüllten Dasein in die Welt der Literatur verlegen. Sie alle leben in einer Welt tiefer menschlicher Wärme, die den Leser einfängt und in ihm das Gefühl einer stillen Zärtlichkeit zurückläßt. - Jacques Poulin lebt heute in Paris."
"Der Reiz an Jacques Poulins Roman Le Vieux Chagrin, vielleicht sein beliebtestes und in meinen Augen sein gelungenstes Buch, liegt im Hintergründigen, dabei aber so Leichten und Schwebenden seines Erzählens. Poulin schreibt in kleinen Episoden, in einer ironischen und zärtlichen, dabei äu-ßerst unprätentiösen Sprache. Er verzichtet auf Effekte und große Gesten. Unter dieser vordergründigen Einfachheit flechten narrative Figuren der Verdopplung von Strukturen,wie mise en abyme und Intertextualität, ein komplexes „Gewebe“, in dem sich für den Leser wie für den Protagonisten - in Le Vieux Chagrin wie in fast allen Romanen Poulins die Figur des Schriftstellers oder Bücherliebhabers - die Bereiche von Lebensrealität und literarischem Werk, Traum und Wirklichkeit, Wunsch und Projektion fortschreitend verwirren und gegenseitig zu unterlaufen.
Der Protagonist in Le Vieux Chagrin, Icherzähler Jim, ist ein Schriftsteller um die fünfzig und lebt zusammen mit einer Katze am Ufer des St. Lorenz-Stroms nördlich von Québec: ein stiller, schüchterner Einzelgänger, dennoch weit entfernt vom europäischen Weltschmerz. Er liebt sein einsames, geordnetes Dichterleben, wenn er auch die Hoffnung, von einer Frau daraus befreit zu werden, nicht aufgibt. Sein Ziel ist es, die „schönste Liebesgeschichte der Welt“ zu schreiben - noch lieber würde er sie jedoch selbst erleben. Vorgeblich nur um seinem Roman auf die Sprünge zu helfen beschließt er, sich auf eine Maxime seines großen Vorbilds Hemingway berufend, das eigene Leben auf die Fiktion einzustimmen. So beginnen sich Jims Leben, seine Träume und sein begonnener Roman gegenseitig immer tiefer zu durchdringen; die Kontrolle über sie entgleitet Jim mehr und mehr.
Eines Tages entdeckt Jim Fußspuren am Strand, wo er sich doch ganz alleine glaubte. Jemand hat sich in einer Höhle in der Nähe eingerichtet, ein Segelboot liegt in der Bucht vor Anker. Er deutet die spärlichen Zeichen in seinem Sinne: Es muß die Frau sein, auf die er immer gewartet hat. Er muß sie nur noch kennenlernen. Hemingway hätte da keine Schwierigkeiten gehabt, Jim jedoch hat weniger Erfolg. Er schreibt ihr kleine Briefe, glaubt, einmal ihre Silhouette erkannt zu haben, schickt schließlich seinen Bruder zu ihr. Immer wieder wird ihm ihre Existenz bestä-tigt, er selbst bekommt die anwesend-Abwesende nie zu Gesicht. Läge in der Höhle nicht Marikas (so nennt Jim die mysteriöse Besucherin) Band der Märchen aus tausendundeiner Nacht, in dem ein Lesezeichen ihre fortschreitende Lektüre anzeigt, Jim würde wohl selbst nicht mehr an ihre Existenz glauben.
Dennoch hat Jim Gesellschaft. Bungalow erscheint plötzlich, eine Frau in Jims Alter, die Mann und Kinder verlassen hat und ein Haus für heimatlose Mädchen in Quebec leitet, und mit ihr La Petite, eines der Mädchen aus Bungalows Gruppe. Selbstbewußt und doch anlehnungs-bedürftig geht diese fortan in seinem Haus ein und aus und holt Jim mit ihren klugen Fragen aus seinen Träumereien. Eine zärtliche Freundschaft entwickelt sich zwischen den beiden - ist es nicht das, was der Schriftsteller gesucht hat?
Eines Tages ist das Boot, das in der Bucht vor Anker lag, verschwunden, die Höhle leer, nur noch die Fußspuren am Strand sind geblieben, so groß wie Jims eigene. Hat es Marika nie gegeben? Doch wem gehörten dann das Schiff und die Märchen aus Tausendundeiner Nacht? Das Verschwinden des Bootes bedeutet für Jim nicht die Rückkehr in seine Einsamkeit: La Petite fragt ihn, ob er sie adoptieren wolle, und - überrascht - willigt er ein."
Hubert Joly Secrétaire Général, C.I.L.F. |
Gert Kaiser Rektor der HHU Düsseldorf |
Vittoria Borso Dekanin der Philosophischen Fakultät |
Fritz Nies Romanistisches Seminar III |