5.3
Adalbert Stifter: Bergkristall[1] (1853)Adalbert Stifters
(1805-1869) Werk tendiert „trotz unverkennbarer zeittypischer Erscheinungsformen
[...] ins Überzeitliche“. Es handelt sich um „literarische Entwürfe“ gegen die revolutionären politischen und
sozialen Strömungen seiner Zeit, etwa der Revolution von 1848, den Schlachten
von Magenta und Solferino (1859), aus denen Österreich als Verlierer hervorging
und die zur Einigung Italiens führten, der verlorene Krieg 1866 gegen die
Preußen, aber auch gegen „die einsetzende Verstädterung und die Anzeichen der
industriellen Revolution, des beginnenden Maschinenzeitalters“[2]. Stifters Werk stellt diesen historischen
Ereignissen das „sanfte Gesetz der Mäßigung“[3] gegenüber, eine Darstellung „der trotz
Unnatur und Störung ewigruhigen, klaren Harmonie“[4], weist dabei aber auch Tendenzen einer
„rückwärtsgewandten [politischen und historischen] Utopie“[5], einer Flucht in die ‚gute, alte Zeit’ auf.
Bergkristall erschien erstmals 1845
„unter dem Titel ‚Der Heilige Abend’, in überarbeiteter Fassung 1853 in der
Sammlung ‚Bunte Steine’“[6]. Inhaltsangabe: Zwei Dörfer sind
nur durch einen engen Pass mitten in den Bergen verbunden. In Gschaid, der
ärmeren der beiden Ortschaften, lebt ein Schuster, Sebastian, der durch
fleißige Arbeit zu Wohlstand kommt. Er heiratet die Färberstochter Susanna aus
dem Nachbardorf Millsdorf, was deren Vater nicht gerne sieht. Susanna schenkt
ihm später zwei Kinder, Konrad und Sanna. Diese beiden gehen, sobald sie ein
entsprechendes Alter erreicht haben, regelmäßig über den Pass, den so genannten
Hals, zu den Großeltern nach Millsdorf, um diese zu besuchen. Doch in der
Weihnachtsnacht geraten sie auf dem Rückweg in einen Schneesturm, verlieren den
Weg und müssen die Nacht auf dem Gletscher verbringen. Am nächsten Morgen
werden sie von den Suchmannschaften lebend gefunden. Durch dieses Ereignis
werden Mutter und Kinder, früher in Gschaid als Nicht-Einheimische behandelt,
zu Einheimischen. Gleichzeitig findet eine Aussöhnung zwischen Sebastian und
Susannas Vater statt, der sich ebenfalls an der Suche beteiligte und erstmals
seit der Hochzeit seine Tochter in Gschaid besucht. 5.3.1 HypotheseBergkristall ist eine gelungene Umsetzung von Stifters
Lebensphilosophie. Die kleinen Dinge – Kinder, das Knacken des Eises, der leise
Sonnenaufgang – führen zwei Dörfer, zwei Familien, Einheimische und
Nicht-Einheimische zusammen. 5.3.2 ÜberzeugungssystemStifter hat sein
Überzeugungssystem teilweise in der Vorrede der Bunten Steine veröffentlicht. Diese Vorrede ist die Entgegnung
Stifters auf einen Vorwurf Hebbels, er sei ein „Dichter der Käfer und
Butterblumen [...], dem nur das Kleine gelingt, weil ihm die Natur ‚das Große’“[7] entrückt. Stifter antwortet: Weil wir aber
schon einmal von dem Großen und Kleinen reden, so will ich meine Ansichten
darlegen, die wahrscheinlich von denen vieler anderer Menschen abweichen. Das
Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen
des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne
halte ich für groß.[8] Des Weiteren
schreibt Stifter, dass er große Dinge wie Blitze, Stürme und Vulkanausbrüche
nicht für größer als obige Werte erachte, im Gegenteil, Stifter vergleicht
diese mit den menschlichen Emotionen: auf der einen Seite „Gerechtigkeit,
Einfachheit, Bezwingung seiner selbst“, auf der anderen Seite „Bewegungen des
Gemüts, Zorn, Begier nach Rache“. Die Ruhe der inneren Natur, „das sanfte
Gesetz“[9], wird der Gewalt gegenübergestellt, wobei
Stifter eindeutig für eine gemäßigte, ruhige Änderung der Dinge und gegen die
Revolution eintritt, denn eine Revolution des Proletariats würde „wie ein
anderer Hunnenzug über den Trümmern der Musen- und Gottheitstempel in trauriger
Entmenschung prangen“[10]. Diese Überzeugung
zeigt sich in der Erzählung Bergkristall,
denn auch dort sind es letztlich kleine Naturphänomene, die die Menschen
zusammenbringen. Der Pass, Hals genannt, ist die einzige Verbindung zwischen
den beiden Ortschaften und im Verhältnis zu den umliegenden größeren Bergen nur
ein kleiner Bergrücken, ein Einschnitt. Genauso verhält es sich mit den
Menschen: Während der Schuster Sebastian aus Gschaid und sein Schwiegervater,
der Färber von Millsdorf, der, „was im Thale etwas Unerhörtes war, mit
Maschinen arbeitete“[11], von der jeweiligen Bevölkerung als einer
der ihrigen akzeptiert und groß angesehen sind, bringen letztlich die beiden
Kinder die Dörfer, die Menschen und die eigenen Familien zusammen. „An der rothen
Unglüksäule des Bekers [sic]“[12] bemerkt man ebenso die kleinen Kräfte, die
die Säule zum Einsturz brachten. Regen, Schnee, Kälte und Wärme haben das Holz
morsch werden lassen, sodass diese umgefallen ist. Die großen menschlichen
Zeichen verschwinden demnach wieder, übrig bleibt dieselbe
Orientierungslosigkeit wie nach Revolutionen. Da diese kleinen Veränderungen
der Säule nicht bemerkt wurden, diese abgefault ist, haben die Kinder dadurch,
dass bei der Rückkehr von Millsdorf in ihr Heimatdorf starker Schneefall
einsetzt, keinen Anhaltspunkt mehr und verlaufen sich in einer ungeordneten
Welt, in der keine Straße, kein Himmel, keine Säule zu sehen ist. Nachdem sie
zu hoch aufgestiegen sind, irren die Kinder zwischen Gletscher und Eis hin und
her. Schließlich finden sie einen von Steinen gebildeten Unterstand, wo sie die
Nacht über bleiben. Helfend wirken die von der Großmutter mitgegebenen
Kleinigkeiten, welche die Kinder stärken. Ist später die Versuchung noch so
groß, einfach einzuschlafen, so wirkt Kaffee, den sie für ihre Mutter dabei
haben, „den zum Schlummer ziehenden Gewichten entgegen“[13]. Die Kinder können sich so wach halten,
gehen etwas umher, um nicht zu erfrieren und wärmen dadurch – und durch den
Kaffee – ihre Körper. Mitten in der
Nacht, als die Verlockung des Schlafs am größten ist und im Dorf die
Christmette gefeiert wird, steht ihnen „die Natur in ihrer Größe“ bei, denn
„das Krachen des Eises“ hält sie wach. „Was das Starrste scheint, und doch das
Regsamste und Lebendigste ist, der Gletscher, hatte die Töne hervorgebracht.“[14] Dreimal kracht es entsetzlich, als ob die
Erde entzweigesprungen wäre, Laute, die man sonst wohl nicht vernehmen würde.
In Die Grenzen der Seele wirst du nicht
finden (1996) äußert sich Reinhold Messner auf ähnliche Weise: „Anders das
Knacken im Eis am Nordpol. Der Weltuntergang ist nichts dagegen.“[15] Die Kinder
betrachten den Sternenhimmel, der Mond vergeht langsam und schließlich bricht
der Tag an. „Eine riesengroße blutrothe Scheibe erhob sich an dem Schneesaume
in den Himmel, und in dem Augenblike erröthete der Schnee um die Kinder, als
wäre er mit Millionen Rosen überstreut worden“[16]; dies ist wiederum ein Indiz für die
lautlosen Veränderungen in der Natur. Kein Blitz, kein Donner, kein Lärm
begleiten den Sonnenaufgang, sondern nur die Ruhe und die Stille. Als die Kinder
versuchen, den Weg zurück zum Pass zu finden, werden sie von den Bewohnern von
Gschaid, die sie gesucht hatten, endlich gefunden und gerettet. Der Vater nimmt
sie in die Arme, bedankt sich bei den Helfern und findet endlich auch den
Kontakt zu seinem Schwiegervater, der ebenfalls an der Suchaktion teilgenommen
hat. „Der aus Angst aschenhaft entfärbte Färber“[17] begleitet Tochter, Schwiegersohn und Enkel
in ihr Haus in Gschaid, wo die Oma der Kinder bereits auf sie wartet. Diese kritische
Situation hat die Familie und die Dörfer einander näher gebracht; die Kinder
wurden „als Eingeborne betrachtet, die man sich von dem Berge herab geholt
hatte. Auch ihre Mutter Sanna war nun eine Eingeborne von Gschaid“[18]. So zeigt sich – aus Stifters
Überzeugungssystem heraus –, wie dieses kleine Ereignis ein entscheidendes
großes, die Einkehr des Friedens in Familie und Dorf, ausgelöst hat, eine
versöhnende „Wiedergeburt, die Stifter in diesem Text gestaltet“[19] und die gerade deshalb am Weihnachtstag
angesiedelt ist. Stifters
nachfolgende Worte aus einem Brief vom 12.07.1856 an seinen Verleger Gustav
Heckenast drücken die Aufnahme der Kinder in die Dorfgemeinschaft treffend aus: Bei der Geburt
sehen wir plötzlich den neuen Menschen, wir glauben ihn in dem Augenblick
entstanden, weil er für unser Auge da ist; aber der Beginn seiner Entstehung
liegt anderswo und ist so unscheinbar und klein, daß ihn kein menschliches
Werkzeug der Wissenschaft entdecken kann.[20] Waren Kinder und
Mutter bis zu diesem Tag nicht in der Gemeinschaft anerkannt, so ändert sich
dies fortan, gelten sie doch jetzt als Einheimische. 5.3.3 KritikDie
Berglandschaft fungiert somit als ein Frieden stiftender Ort, der die Menschen
der beiden Dörfer verbindet, der, wenn auch bedrohlich aussehend, den Kindern
in Form der Felsformation, die wie eine Hütte aussieht, und durch das laute
Knacken des Eises ein Überleben ermöglicht, Hilfe nicht verweigert! Die
Bergsteiger in dem Werk sind jene, die die Kinder suchen und finden und die auf
den höchsten Gipfel klettern, um jenes Signal zu senden, dass die Kinder
gefunden wurden, eine alte Tradition, die seit den Tiroler Freiheitskämpfen
1809 in der k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn bekannt war. Hier verkündeten
die Kreidefeuer „auf den Berggipfeln“[21] das Zeichen des beginnenden Aufstandes
gegen Napoleons Truppen. Doch auch
Stifters Werk kommt letztlich nicht um die Weltpolitik herum, denn mit den
zunehmenden politischen Ereignissen, die eingangs in Form der Revolutionen und
Kriege erwähnt wurden, öffnete sich eine immer größere Diskrepanz zwischen den
Werken Stifters und der Realität. Diese Problematik findet sich bereits in den Phantasien über die Kunst (1799), in
Wackenroders Brief Joseph Berglingers[22]. Dort heißt es: Wenn ich nun die
Botschaft höre […], wie auch außer den entsetzlichen Kriegen der Völker der
blutige Krieg des Unglücks überall auf dem ganzen Erdenrund wütet und jeder
Sekundenschlag ein scharfes Schwert ist, […] wenn leidende Menschen, Väter,
Mütter und Kinder, dicht vor mir stehen, die zusammen weinen und die Hände
ringen und heftiglich schreien vor Schmerz […], [dann sind das] herzzerreißende
Töne, und das verweichlichte Künstlergemüt gerät in Angst […].[23] Letztlich dürften
es diese unüberbrückbaren Gegensätze gewesen sein, die Stifter in eine große
Krise stürzten, denn „wie wenig Stifter in Wirklichkeit diesen Entwürfen
getraut haben mag, zeigt die Tatsache, daß er durch Selbstmord endete“[24]. [1] Stifter, Adalbert: Bergkristall. In: Doppler, Alfred / Frühwald, Wolfgang (Hrsg.): Adalbert Stifter. Werke und Briefe, Bd. 2,2. Stuttgart 1982, folgend zitiert als Stifter: Bergkristall 1982 [2] Lutz: Metzler 1994, S. 763 [3] Hoffmann, Friedrich G. / Rösch, Herbert: Grundlagen, Stile, Gestalten der deutschen Literatur. Eine geschichtliche Darstellung. 9. Aufl. Frankfurt am Main 1984, S. 219, folgend zitiert als Hoffmann: Grundlagen 1984 [4] Hoffmann: Grundlagen 1984, S. 219 [5] Lutz: Metzler 1994, S. 765 [6] vgl. Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 15. München 1998, S. 105, folgend zitiert als Jens: Kindlers Literaturlexikon1998 [7] Glaser, Hermann / Lehmann, Jakob / Lubos, Arno: Wege der deutschen Literatur. Ein Lesebuch. Frankfurt a. Main 1986, S. 364, folgend zitiert als Glaser: Wege 1986 [8] Killinger: Literaturkunde 1998, S. 194 [9] Killinger : Literaturkunde 1998, S. 195 [10] Hoffmann: Grundlagen 1984, S. 219 [11] Stifter: Bergkristall 1982, S. 194 [12] Stifter: Bergkristall 1982, S. 205; es handelt sich um den Stifters Originaltext, weshalb sich auch in den folgenden Passagen einige Abweichungen zur Neuen Rechtschreibung finden werden. [13] Stifter: Bergkristall 1982, S. 226 [14] Stifter: Bergkristall 1982, S. 227 [15] Messner, Reinhold: Die Grenzen der Seele wirst du nicht finden. Michael Albus im Gespräch mit einem modernen Abenteurer. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau 1998, S. 116, folgend zitiert als Messner: Grenzen der Seele 1998 [16] Stifter: Bergkristall 1982, S. 230 [17] Stifter: Bergkristall 1982, S. 237 [18] Stifter: Bergkristall 1982, S. 239f. [19] Jens: Kindlers Literaturlexikon 1998, Bd. 15, S. 1005 [20] Glaser: Wege 1986, S. 364 [21] Wieninger, Karl: Südtiroler Gestalten. Das biographische Bild der deutschen Grenzlandschaft im Süden. Bozen 1977, S. 155, folgend zitiert als Wieninger: Südtiroler Gestalten 1977 [22] Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Ein Brief Joseph Berglingers. In: Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Phantasien über die Kunst. In: Vietta, Silvio / Littlejohns, Richard (Hrsg.): Wilhelm Heinrich Wackenroder. Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1, Werke, hrsg. von Vietta, Silvio, Heidelberg 1991, S. 224-227, folgend zitiert als Wackenroder: Phantasien 1991 [23] Wackenroder: Phantasien 1991, S. 225f. [24] Lutz: Metzler 1994, S. 765 |