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5.4 Peter Rosegger: Die Schriften des Waldschulmeisters[1] (1875)

Peter Rosegger (1843-1918) gestaltet in seinen Werken „kaum die Bewohner der Städte - diese allenfalls kontrastiv -, vielmehr die auf dem Lande, im (Wald-)Gebirge, im Wald“. Es sind die Geschichten der Menschen der „dunklen Gründe“ [2] , die bisher weder von der Kultur noch von der Geschichte beachtet wurden. Hier zeigen sich bereits Parallelen zu seinem „großen Vorbild A[dalbert] Stifter“[3], doch Rosegger konzentriert den Blick vorwiegend auf seine steirische Heimat und die dort archaisch lebende ländliche Bevölkerung. Diese bleibt von den großen Ereignissen und Entwicklungen der Welt teilweise unberührt oder wird erst viel später von ihnen erreicht. Die Opposition zu dieser verschlossenen Welt bildet die städtische Bevölkerung.

Inhaltsangabe:

Mittels aufgefundener Tagebuchaufzeichnungen wird die Geschichte des Andreas Erdmann erzählt. Dieser ist aufgrund seiner Anklage gegen das Schulsystem, den Geist zu knechten, durch die Prüfung geflogen und muss sich nun seinen Lebensunterhalt verdienen. Er kämpft bei den Tiroler Aufständen unter Andreas Hofer gegen die französisch-bayrische Besatzung mit (1809), wird dabei gefangen genommen, wechselt zur französischen Armee, mit der er gegen Russland zieht, ehe er in der Vielvölkerschlacht bei Leipzig seinen besten Freund Heinrich tötet. Die Folge ist eine totale Weltentsagung, sodass er nach Winkelsteg in die Wildnis geht. Es gelingt ihm, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, eine Kirche und Schule zu errichten und einen Friedhof anzulegen. Dabei ist er als Lehrer, Amtmann und Arzt tätig. Doch je weiter die Zeit fortschreitet und je mehr die moderne Welt in Winkelsteg Einzug hält, umso einsamer und fremder fühlt er sich. Ruhe und Halt bieten noch die Ausflüge in die Berge, auf den Grauen Zahn, von dem er sich immer schon den Blick bis zur Adria erhofft hat. Als Erdmann nach der Christmette 1864 verschwunden ist, klettert der Erzähler selbst auf den Grauen Zahn, wo er die Leiche des Mannes findet. Die Dorfbevölkerung holt den Toten aus den Bergen und beerdigt ihn auf dem Friedhof.

5.4.1 Hypothese

In Die Schriften des Waldschulmeisters findet sich die Entdeckung des kleinen, unbedeutenden Menschen, der abseits der Weltereignisse im Wald lebt, ehe auch hier Fortschritt und Wohlstand einziehen. Als letztes Refugium vor der Technik bleibt nur noch die Bergwelt.

5.4.2 Intertextuelle Bezüge

In Roseggers Werk finden sich, wie bereits erwähnt, Bezüge zu Adalbert Stifter, aber auch historische und zeitgenössische Ereignisse finden ihren Niederschlag in den Schriften des Waldschulmeisters. Des Weiteren zeigen sich Entlehnungen aus der Sagen- und Märchenwelt. „Versunkene Riesenburgen, die da oben ragen und vormaleinst ein Eden gewahrt haben, das heute versteinert und in Starrnis versunken ist“[4], erinnern an König Laurin und seinen Rosengarten. Laurins Reich und sein viel gerühmter Rosengarten liegen in der Rosengartengruppe in der Nähe von Bozen, schon zu Zeiten Andreas Hofers die wichtigste Stadt Südtirols. Da die Rosen Laurins Widersachern den Weg in sein Reich weisen, sodass sie ihn gefangen nehmen können, verflucht er die Rosen, lässt „den ganzen Rosengarten zu Stein werden“[5], sodass fortan „die Rosen weder bei Tage noch bei Nacht“ zu sehen sind, vergaß dabei „jedoch die Dämmerung“, in welcher der Rosengarten nach wie vor, wie „eine Ahnung von der guten, alten Zeit, wo es noch keinen Haß gab und keinen Totschlag und wo alles schöner und besser war“[6], erstrahlt. Rosegger schreibt: „Alpenglühen nennen es die Leute, und wenn ich ein Dichter wäre, ich wollte es besingen“[7].

Ferner sind Ungeheuer, die Schätze bewachen, genauso präsent wie das Nibelungenlied. Die Liebe zu seinen Kindern „ist die verwundbare Stelle des ‚Waldteufels’, der am Ende ein gehörnter Siegfried ist“[8]. Auch die griechische Mythologie wird mit der Nennung der Lethe ins Spiel gebracht: „Das ist ein eigen Wasser gewesen, wer davon getrunken, hat der Vergangenheit vergessen.“[9] Kritik an der städtischen Lebensart, die „inneren Frieden suchend [...] abseits an der Kirchhofsmauer“[10] umherschleicht, wird mit den Worten des „unseligen Doktor[s]: Die Botschaft hör ich wohl ...“[11] – Goethes Faust – angebracht.

5.4.3 Überzeugungssystem

Rosegger stellt in seinem Werk, genauso wie Stifter, die ländliche Lebensart der städtischen gegenüber. Deutlich zeigt sich dies im Brief der Muhme-Lies[12], die an Andreas Erdmann schreibt:

[W]enn du im Gebirge bist, so gehe nicht mehr zurück. Alles ist eitel. In guten Tagen sind mir meine Freunde getreu gewesen; jetzt lassen sie mich in der Armut sterben[13].

So wird der Frieden in den Wäldern, in den abgelegenen Gegenden bzw. auch auf den Bergen zum einzigen „Eden, das dem Glücklosen noch geblieben ist“ [14] denn während die Stadt dem Lethe Strom gleicht, in dem das Individuum vergessen wird, sieht Rosegger in den „Wellen des Waldbächleins [...] ein noch eigeneres Wasser, [denn] wessen Seele auf denselben schaukelt, und trüge er auch den Winter im Haar, der findet wieder die längst vergangene Zeit seiner Kindheit und Jugend“[15]. Die Luft der Waldgegend – „oh, diese reine heilige Luft!“[16] – wird der durch die Industrialisierung verpesteten Stadtluft, die „krank“[17] macht, als Gegenpol gegenübergestellt, denn „diese [Wald-]Luft heilt“[18].

Die Zeit scheint in Winkelsteg und Umgebung still zu stehen, denn hier hat der „Wagen der Zeit [...] das vierte Rad verloren [...]. Draußen, sagt man, wollen sie wieder die Welt umkehren. Von Krieg wird gesprochen. Um uns Winkelsteger kümmert sich kein Mensch mehr.[19] Doch dieser äußeren Welt hat Erdmann lange schon entsagt, denn er „ist ihrer satt“[20], wenngleich er gerade durch seine Taten – Kirchenbau und Schulhausbau – diese Landschaft, wenn auch langsam, verändert, ehe er sich in dieser am Schluss nicht mehr zurecht findet:

Heute sehe ich ein neues Geschlecht. [...] Zum Sonntag kommen schmucke Menschen aus allen Gräben. Die Männer tragen in ihrer Eigenart schwarze Knielederhosen und grüne Strümpfe; die Weiber bauschige Samtspenser und wunderspaßhafte Drahthauben mit Vergoldung und Bänderwerk. Das ist keine Kleidung mehr, wie sie im Walde wächst.[21] 

Dadurch verliert die Wildnis ihren Reiz, das „Dämmerige und [das] Ungewisse“ gehen verloren. Meint Erdmann zu Beginn noch: „was ich ahne, reizt mich mehr, als das, was ich weiß; was ich hoffe, ist mir lieber, als das, was ich habe“, so verliert diese Aussage gegen Ende des Werkes ihre Kraft.

Der größte Reiz ruht mehr und mehr in den Bergen, „wo kein Weg geht“[22], denn ist im Tal „doch allzu viel Schatten, [...] [so] steht man [da oben] im Lichtrunde der weiten Welt“[23]. Die Sehnsucht nach dem Berge, der verheißene Blick auf das Meer wird immer mehr zum Lebensinhalt Erdmanns. „Sehnsucht nach dem Weiten, nach dem Unbegrenzten ist nicht ganz der rechte Name dafür; Durst nach dem Lichte möchte ich sie heißen“[24]. Dieses Licht im Herzen trägt er immer wieder vom Berg herab, so, wie später das Kreuz für die Kirche aus der Einöde, „von dem Berge Sinai herab [...], dem Volke als wahres Bild Gottes“[25] geholt und zu Tal getragen wird.

Doch mit jedem Abstieg vom Berg wächst die Lust am Aufstieg, sodass das ewige Aufsteigen zum Berg und die Hoffnung, nur einmal das Meer zu erblicken, zum Symbol einer „dürstenden Seele“ wird, die im „Meer des Lichtes“[26] ertrinken will. Rosegger drückt dieses Streben nach dem Licht treffend aus:

Die niedergehende Sonne blitzt schräge hinter dem Gefelse hervor und spinnt in den uralten, kahlästigen Baumrunen und bescheint den rechten Arm des Kreuzes. Ein braunes Würmchen kriecht über den Balken dem sonnigen Arme zu, doch kaum es den Arm erreicht, ist die Glut erloschen.[27]

Am Ende des Werkes erblickt Erdmann vom Gipfel des Grauen Zahns erstmals das Meer, doch verliert er dabei das Augenlicht und erfriert am Gipfel. Seine Leiche wird vom Erzähler und dem Reiter Peter gefunden, die den Abtransport der fast mumifizierten Leiche durch die Dorfgemeinschaft veranlassen. Erdmann, dem es „im Hause [...] zu eng, im Freien nicht weit genug“[28] war, wird feierlich beerdigt, denn „alles strömte herbei zum Begräbnisse“[29].

Die Worte, die Erdmann am Grabe seines Freundes Einspanig gesprochen hatte, können auf ihn selbst übertragen werden:

So unbegrenzt der menschliche Geist auch fliegen mag in den Weiten, sein letztes Ziel wird umschlossen von den Brettern des Sarges – Glücklicher Schläfer, dir ist ein unendlicher Raum jetzt die Truhe. Noch nicht lang’, und dir war zu eng die unendliche Welt.[30]

Damit ist das Überzeugungssystem Roseggers klar umrissen: die einfache gesunde Landschaft, die gute alte Zeit, der einfache Mensch bilden das Zentrum seiner Schriften. Da der Fortschritt, egal wie gut gemeint, die Urnatur verändert, gibt es aber keinen Weg zurück. Nur in Gedanken oder außerhalb der Zivilisation, etwa in den Bergen, zeigt sich „das Heil für unser kurzes irdisches Dasein [...]: in freier Natürlichkeit, erdverbunden und vertrauend auf eine höhere Schickung“[31].

5.4.4 Kritik

Peter Rosegger, der  Volks- oder volkstümliche Schriftsteller, setzt der historischen Realität der Geschichtsbücher eine differenzierte Realität der Welt gegenüber, wenngleich Rosegger Gefahr läuft, dieses einfache Leben zu heroisieren, dabei wie Stifter Tendenzen einer „Fluchtbewegung“[32] aufweist und damit Anzeichen für eine „ideologische Verherrlichung von Bauerntum und Naturverbundenheit“[33] zeigt.

Die Zeit verläuft bei Rosegger nicht so linear, wie dies in Geschichtsbüchern gerne dargestellt wird, denn in ‚seinen’ Seitentälern der Steiermark hat die Zeit ein Rad verloren, ist viel langsamer vorangeschritten als etwa in Wien. Dies zeigt sich auch in den Ansichten der ländlichen Bevölkerung, die noch von mythischen Elementen bestimmt wird, denn was sie glauben, „ist [...] ihnen so viel als wahr“[34], Überlegungen wie sie später von Ernst Cassirer in Das mythische Denken[35] (1924) vertreten werden. Doch hat diese Welt nur eine begrenzte Dauer: Technik, Fortschritt, historische Ereignisse holen auch sie ein. Selbst der Weltverbesserer Erdmann nimmt der von ihm geliebten Urlandschaft letztlich das Urige, indem er den Menschen Bildung bringt und sie medizinisch versorgt, sodass sich die Urnatur immer höher und höher zurückziehen muss und Erdmann sie schließlich nur noch auf dem Grauen Zahn findet, der somit zu einem letzten Zufluchtsort außerhalb moderner gesellschaftlicher Zwänge – und damit zur Flucht vor der sich verändernden Welt – wird.

Den Einzug der modernen Welt, etwa des Kapitalismus, in diese ländlichen Regionen und „die [damit verbundene] Zerstörung der Bauernwirtschaft und -kultur, [...], die Vernichtung der Berglandschaft, seiner ‚Waldheimat’“[36] kann Rosegger nicht gutheißen, führt sie doch zu dem Ruin der Alpenregion. Dieses Paradoxon, einerseits der Segen der Verbesserung der Lebensqualität, andererseits der Fluch des Kapitalismus, wo von der Lebensqualität der Einheimischen gegenüber der Tourismusbranche gesprochen wird, konnte bis heute nicht definitiv gelöst werden.

 



[1] Rosegger: Waldschulmeister 1928

[2] Lutz: Metzler 1994, S. 689

[3] Jens: Kindlers Literaturlexikon 1998, Bd. 14, S. 306

[4] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 87

[5] Wolff, Karl Felix: König Laurin und sein Rosengarten. Höfische Märe aus den Dolomiten. 13. Auflage Bozen 1999, S. 99, folgend zitiert als Wolff: Laurin 1999

[6] Wolff: Laurin 1999, S. 99/100

[7] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 172                                                                                                                              

[8] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 85

[9] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 152

[10] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 258

[11] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 258; vgl.: Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Erster Teil. In: Goethe, Johann Wolfgang von: Götz von Berlichingen. Faust – der Tragödie erster Teil. Neuauflage München 2001, V. 765, S. 153

[12] vgl. Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 261                                                                             

[13] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 262

[14] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 68

[15] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 152

[16] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 299

[17] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 25

[18] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 299

[19] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 230

[20] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 45

[21] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 308f.

[22] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 61

[23] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 115

[24] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 173

[25] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 185

[26] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 173

[27] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 185

[28] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 206

[29] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 327

[30] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 278f.

[31] Rosegger: Waldschulmeister 1928, Vorwort, S. VII

[32] Lutz: Metzler 1994, S. 689

[33] Jens: Kindlers Literaturlexikon, Bd. 14, S. 306

[34] Rosegger: Waldschulmeister 1928, S. 73

[35] Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken. Hamburg 2002

[36] Lutz: Metzler 1994, S. 691


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