5.6 Jakob Christoph Heer: Der König der Bernina[1] (1900)Jakob Christoph
Heer (1859-1925) gilt als einer der erfolgreichsten Vertreter des „Schweizer
Heimatromans“. Der König der Bernina
(1900) spielt in unmittelbarer Nähe des Piz Bernina. In dieser Erzählung wird
„der Fremdenverkehr als Gewinn für die Bergwelt dargestellt“, sodass Tourismus,
Nachrichten und Bilder letztlich eine definitive Abwanderung der Jugend des
Engadins verhindern, wobei Heers Romane indirekt dazu beitragen. „Heers
Heimatromane, die in Auflagen bis zu 744 000 (‚Der König der Bernina’. 1958)
gedruckt [...] wurden, galten zumindest seit dem Ende des Ersten Weltkriegs als
bloße Unterhaltungsliteratur“[2]. Der Roman selbst, der bis zum Ende des
Zweiten Weltkrieges zu den „dreißig meistgelesenen Büchern Deutschland[s]“[3] zählte, fand auch den Weg auf die Leinwand: 1928 verfilmte
Hollywoods Starregisseur Ernst Lubisch den Erfolgsroman ‚Der König der Bernina’
[...], allerdings nicht im Engadin, sondern in den Rocky Mountains. [...]
Studenten störten die Vorführung und riefen zum Boykott dieses
‚unschweizerischen und unbündnerischen Kitschfilms’ auf. [...] Der Film selbst
ist verschollen.[4] Inhaltsangabe: Aufgrund
mangelnder Arbeitsplätze verlässt zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Großteil
der Engadiner Jugend die Heimat. Diejenigen, die dableiben, versuchen mittels
der Heilquellen von St. Moritz den Tourismus im Engadin zu begründen. Für
entsprechende Werbung sorgen die Bilder des Malers Ludwig Georgy, die das
Erscheinen der ersten englischen Touristen im Engadin nach sich ziehen, was
letztlich dazu führt, dass Gasthäuser, Verdienstmöglichkeiten und Arbeitsplätze
für die Jugend entstehen. Haupthandlung ist
die tragische, unerfüllte Liebesbeziehung zwischen Markus Paltram, einem
überdimensional gezeichneten Jäger, der die Stärke der Berge in sich vereint,
und Cilgia Premont. Beide scheinen füreinander bestimmt zu sein, doch wird
Markus Paltram in angetrunkenem Zustand von Pia, einer Ziegenhirtin, verführt.
Da diese schwanger wird, muss Markus sie heiraten, während Cilgia Sigismund
Gruber aus Südtirol ehelicht. Paltrams Heirat entspringen ein Sohn, der jedoch
kurze Zeit nach der Geburt stirbt, und eine Tochter, Jolande. Während eines
Jagdausflugs schießt Gruber, von Paltram als ehrloser Fallensteller entlarvt,
auf ihn, sodass Paltram Gruber in Notwehr tötet. Doch kurze Zeit später kommt
seine Frau Pia im Schneesturm um, während Jolande, auf Lorenz Gruber, den Sohn
Cilgias wartend, auf dem Gletscher, der so genannten Isola Persa, erfriert.
Paltram ist nun ein gebrochener Mann, seine Kraft entschwunden. Als Paltram auf
dem Totenbett liegt, ist Cilgia Premont an seiner Seite, ein letztes
Beisammensein der beiden, ehe er stirbt. 5.6.1 HypotheseDer König der Bernina ist Heers Darstellung, dass Glück und
Unglück der Schweiz von außen kommen, was er mittels eingestreuter Erzählungen
demonstriert. So verhindert der Fremdenverkehr, der von außen kommt, die
Abwanderung der Jugend des Landes und schafft Arbeitsplätze. Zusammenhalt und
Kraft aus dem Inneren verschafft jedoch die Sprache, das Ladinische. 5.6.2 Intertextuelle BezügeIm Werk selbst
sind, neben einigen kleinen, vier größere Erzählungen – eine Kombination
historischer Ereignisse, Sagen, Legenden und Märchen – untergebracht: Die erste
Erzählung ist eine Geschichte des
Glaubens[5] und der Liebe, die den Hass besiegt. Paolo
Vergerio[6], historisch gesicherter Gegner und
Bekämpfer der Reformation, lässt Katharina Dianti[7] foltern, verliebt sich jedoch in sie und
wird selbst zum Reformer und zu ihrem Mann. Es ist eine Geschichte, in der der
Glauben von außen in die Schweiz, in der Vergerio die Liebe von Dianti gebracht
wird. Die zweite
Erzählung kreist um die Sage vom so genannten Camogasker[8]. Als der Burgherr von Guardaval erfährt,
dass der Kastellan sein wahrer Vater ist, lässt er ihn vom Felsen hinabstoßen,
seine Mutter aus dem Grab werfen und zieht fortan als Menschenfeind durch das
Land, dem die Mädchen nicht widerstehen können und deren Wesen er vergiftet.
Auch als ihn der Vater eines Mädchens tötet, zieht er als gespenstischer
Wildjäger, als Dämon, den Unglücksfälle und Unwetter ankündigen, über die
Berge. In dieser Erzählung werden demnach Unglück und Bedrohung durch
unheilvolle Mächte von außen in die Schweiz gebracht. Die dritte
Erzählung berichtet vom Hirten Aratsch[9], der einem Mädchen ewige Treue schwört, ehe
er in den Krieg zieht. Als er zurückkommt, ist sie verheiratet. Aratsch
verschwindet, das Mädchen sucht ihn, bis sie einsieht, dass er tot ist. Da
stürzen die Gletscher ein, erbauen ein Grabmal über den Liebenden, die so
genannte Isola Persa - ‚Verlorene Insel’ -, wo die beiden einen Tag lang für
sich haben werden, ehe die Welt untergeht. Den Liebenden wird somit von außen
ein letzter gemeinsamer Tag vor dem Untergang der Welt geschenkt werden. Die vierte
Erzählung berichtet von einer Sage um die Entstehung der Sprachenvielfalt[10] in der Schweiz, die Gott über dem Bergland
ausstreut. Indes scheint die
Figur des Markus Paltram eine Kopie des „berühmt-berüchtigten Jägerkönigs Gian
Marchet Colani“[11] aus Pontresina zu sein. 5.6.3 ÜberzeugungssystemWas bei allen
vier Erzählungen im Text auffällt, ist, dass die Elemente Glaube, Liebe,
Sprache, Bedrohung und Unglück von außen in die Schweiz gebracht werden. Diese
Erkenntnis bildet das entscheidende Kriterium für die Untersuchung des Romans,
gelangten demnach sowohl die guten als auch die schlechten Elemente von außen
in die Schweiz. Dem steht die Auswanderung der Jugend, die Aushöhlung des
Landes gegenüber, die zu Beginn des Werkes nicht aufgehalten werden kann: Das Leben flutet
von unserem Tal zurück, und wer weiß: Wo heute sich die blühenden Dörfer
Pontresina, Samaden, Sankt Moritz – auch Euer Madulain erheben, werden in
hundert Jahren nur noch Ruinen sein, und es wird wie eine fromme Sage klingen,
daß in diesem Tal einmal ein glückliches Volk gelebt hat.[12] Erst der Bau des
Bades in Sankt Moritz und die Bilder des von Markus Paltram geretteten Malers
Ludwig Georgy verändern diese Situation und lassen den Fremdenverkehr bzw.
Tourismus in dieser bis dahin armen Gegend entstehen: Um so größer war
das Erstaunen, als eines Tages eine malerische Karawane englischer Touristen,
wie vom Himmel geschneit, im Engadin erschien und mit einem ‘Good Morning‚ zu
Sankt Moritz nach dem Maler Ludwig Georgy fragte.[...] Im nächsten Jahr kamen
hinter den Engländern neugierige Franzosen und Deutsche ins Engadin[13]. Plötzlich gibt es
Arbeitsplätze für die Jugend, Gasthäuser entstehen; die Auswanderung, das
Entschwinden des Volkes in die Sagenwelt, kann aufgehalten werden. Dabei
leisten Markus Paltram und Sigismund Gruber einen wichtigen Beitrag. Paltram
ist Büchsenschmied[14], war „drei Jahre lang [...] Gehilfe“[15] des Arztes „Lagourdet in Paris“[16] und ist der beste Jäger weit und breit. Er
wird von Cilgia Premont zum Erlöser des Engadin stilisiert, zum „König der
Bernina, der so viele Menschen aus Lawinen gerettet hat“[17]. Sigismund Gruber, verwundet in den Tiroler
Freiheitskämpfen 1809 und von Cilgia gerettet, kann letztere dank der Hilfe
seines Vaters, Lorenz Gruber, ehelichen. Nachdem sie verheiratet sind, eröffnet
Sigismund in Puschlav eine Saumhalterei, die Arbeitsplätze für die Bevölkerung
bietet. Hier zeigt sich erneut das Muster, dass die Hilfe für das Tal von außen
kommt: Paltram hat sein Handwerk im Ausland gelernt, und Gruber hat aufgrund
der Bitte Cilgias eine Niederlassung in der Schweiz eröffnet. Besonders
interessant ist der Umstand, dass Cilgia diejenige ist, die letztlich an all
diesen Ereignissen beteiligt ist: Sie sorgt dafür, dass Paltram „mit Hilfe des
Pfarrers“[18], ihres Onkels, eine baufällige Hütte
erwirbt und dort eine Schmiede eröffnen kann, sie macht ihn darauf aufmerksam,
dass er zu Höherem als zur Jagd berufen ist, und bringt ihn dazu, Menschenleben
zu retten: Nein, nein,
Markus, deine Ziele liegen höher. Du sollst mir das Licht von der Spitze der
Bernina holen, du sollst das Engadin lösen aus seiner schweren Not. Du bist so
stark wie keiner![19] Damit erhält der
Roman auch eine emanzipatorische Stoßrichtung, denn Cilgia ist es, die
Sigismund dazu überredet, sich „in Puschlav nieder[zu]lassen und dort eine
Säumerei ein[zu]richten“[20]. Damit schafft sie Arbeitsplätze in diesem
entlegenen Winkel der Schweiz. Cilgia unterstützt den Bau des Bades, die
literarischen Arbeiten von Konradin von Flugi, wobei sie auch dessen Heirat mit
Menja Driosch erreicht. Des Weiteren inspiriert und bezaubert sie den Maler
Ludwig Georgy, der mit seinen Bildern die Neugierde Europas auf das Land der
Berge zieht: Und
das war nicht
der Traum eines
phantasievollen Arkadiers, das
war herrlich beobachtete Natur! Im
Engadin gab es wirklich so grüne Weisen, wie er sie malte, es gab die
leuchtenden Blumenteppiche, die Seen, die wie ein Kinderlächeln prangen, die
Berge, die wie silberne Flammen in einen dunkelblauen Himmel steigen, und jene
überirdisch schönen Sonnenuntergänge, wo aus den Schneespitzen das Feuer
bricht, während sich ein magisches Dämmerblau um die Dörfer breitete.[21] Cilgias Geschick,
die Schönheit der Landschaft, die Heilkraft der Natur, verbunden mit der Hilfe
von außen – etwa der Reiseberichte[22] und des Textes eines englischen Referenten[23] – führen dazu, dass sich die Situation im
Engadin drastisch verändert: wo leere und zerfallene Hütten waren, wächst das
Land erneut empor und „eine Volksschule“[24] entsteht. Damit ist es ihr, deren Vater aus
Triest kam, zu verdanken, dass das Land wieder aufblüht. Wird der Roman
aus dieser Perspektive betrachtet, so fallen zwei weitere Ereignisse des Textes
besonders ins Gewicht: Zum einen, dass „das Volk [...] keusch und sparsam ist
[...] in seinem Lob. Von Angesicht zu Angesicht rühmt es keinen, und zuviel
traut es einem Verseschmied nicht“[25], was bedeutet, dass der ‚Prophet im eigenen
Dorfe’[26] wenig Achtung genießt und gerade deshalb
die Hilfe von außen kommen muss. Zum anderen aber auch, dass die unter Napoleon
im sogenannten „Veltliner Raub“[27] verlorenen Gebiete auf dem Wiener Kongress
nicht mehr zurückerhalten wurden, sodass dieser Gefahr von außen nur durch den
inneren Zusammenhalt, vor allem der Sprache, begegnet werden kann, denn
„solange die innigen Seen strahlen, werden seine [Konradin von Flugis
ladinische, J.R.] Lieder klingen“[28]. 5.6.4 KritikHeer, selbst
Lehrer in Oberdürnten am Bachtel, hat in diesem Werk einiges an literarischem
Wissen, geschichtliche Ereignisse von der Reformation über Napoleon bis in
seine Gegenwart, verarbeitet. Mit den eingestreuten Erzählungen hält Heer das
Wissen um diese Begebenheiten wach. Der Piz Bernina (4049 m) selbst wurde
erstmals 1850 von dem aus Chur stammenden Johann Coaz (1822-1918), zusammen mit
Jon und Lorenz Ragut Tscharner, betreten. Die drei Pioniere
bestiegen den Piz Bernina direkt vom Tal aus [...]. Sie irrten durch das heute
unpassierbare ‚Labyrinth’ [durch das auch Markus Paltram irrt, aber keinen
Durchstieg findet, J.R.], kletterten über den Ostgrat empor und hatten beim
nächtlichen Abstieg [...] sehr viel Glück.[29] Im Werk selbst
wird dies einem gewissen Andreas Saratz[30] aus Pontresina angedichtet, für dessen Tat
es allerdings keine historische Bestätigung gibt. Neben dieser
Kleinigkeit kann festgehalten werden, dass Heer in Der König der Bernina den „Fremdenverkehr als Gewinn für die
Bergwelt“[31] darstellt, wenngleich er später kritische
Töne zur Weiterentwicklung anschlägt. Der Roman besticht durch den hohen Anteil
an Schilderungen der Berglandschaft, trägt somit zur Förderung des Tourismus
(man beachte die eingangs erwähnten Verkaufszahlen der Werke Heers) bei, wobei
Heer teilweise – wie auch in seinem bekanntesten Werk An Heiligen Wassern (1898) – „zum Theatralischen“ neigt und eine
„pathetische und schwülstige Sprache“[32] aufweist. Andererseits stellt
Heer Markus Paltram als einen Bergsteiger dar, der nach seiner Verfehlung – der
Nacht mit Pia – den Aufstieg zum Piz Bernina sucht, denn „wenn er als der erste
Sterbliche den Fuß auf den Piz Bernina setzte, wenn er die oberste Zacke reinen
Schnees abbräche und sie weiß und rein zu Cilgia Premont brächte, so würde
vieles wieder gut“[33]. Da er diesen jedoch nicht findet, weist
dieses ewige Versuchen interessante Parallelen zu Sisyphos auf. So wie
Letzterer seinen Stein ewig auf den Berg rollt, so versucht Paltram bis zuletzt
den Aufstieg auf die Bernina, scheitert jedoch immer wieder daran, doch eben
dadurch, dass er den Aufstieg versucht, nährt er seine Hoffnung, eines Tages
doch mit Cilgia zusammen zu sein, eine Geisteshaltung, die letztlich in der
Realität dazu geführt hat, dass die schwierigsten Berge der Schweiz, etwa das
Matterhorn, doch noch von Menschen bestiegen wurden. [1] Heer, Jakob Christoph: Der König der Bernina. Roman aus dem schweizerischen Hochgebirge. München 1958, folgend zitiert als Heer: Bernina 1958 [2] Killy: Literaturlexikon 1990, Bd.
5, S. 96/97 [3] Anker, Daniel: Piz Bernina. Der König der Ostalpen. In: Alpin. Das Bergwelt Magazin 12 (1999), S. 34, folgend zitiert als Anker: Piz Bernina 1999 [4] Anker: Piz Bernina 1999, S. 34 [5] Heer: Bernina 1958, S. 76-78 [6] Kasper, Walter: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 10. 3. Aufl. Freiburg i. B. 2001, S. 660 [7] Vermutlich bildet Titians Porträt der Laura dei Dianti (ca. 1523-25) die Vorlage für die Figur der Katharina Dianti. [8] Heer: Bernina 1958, S. 57-59; Camogasker scheint eine Kombination aus Como und Bergamasker zu sein, würde somit für die südliche Grenze des Engadins stehen. [9] Heer: Bernina 1958, S. 134-135 [10] Heer: Bernina 1958, S. 65 bis 66 [11] Anker: Piz Bernina 1999, S. 30 [12] Heer: Bernina 1958, S. 79 [13] Heer: Bernina 1958, S. 250 [14] vgl. Heer: Bernina 1958, S. 156 [15] Heer: Bernina 1958, S. 114 [16] Heer: Bernina 1958, S. 113 [17] Heer: Bernina 1958, S. 271 [18] Heer: Bernina 1958, S. 50 [19] Heer: Bernina 1958, S. 117 [20] Heer: Bernina 1958, S. 167 [21] Heer: Bernina 1958, S. 250 [22] vgl. Heer: Bernina 1958, S. 254f. [23] vgl. Heer: Bernina 1958, S. 255f. [24] Heer: Bernina 1958, S. 255 [25] Heer: Bernina 1958, S. 227 [26] Gängiges Sprichwort, das im Alpenraum benutzt wird. [27] Heer: Bernina 1958, S. 7 [28] Heer: Bernina 1958, S. 282 [29] Anker: Piz Bernina 1999, S. 29 [30] vgl. Heer: Bernina 1958, S. 282 [31] Killy: Literaturlexikon 1990, Bd.
5, S. 96 [32] Jens: Kindlers Literaturlexikon 1998, Bd. 7, S. 510 [33] Heer: Bernina 1958, S. 159 |