5.7 Theodor
Wundt: Matterhorn[1] (1916)Theodor Wundt
(1858-1929) verließ „die Schule schon nach der Obersekunda“[2], um „Offizier zu werden“[3]. Als er jedoch erkannte, dass sein
Bestreben, sich „allgemein weiterzubilden, auf unüberwindliche Schwierigkeiten
stieß und [...] in der Enge des Kasernenlebens unterzugehen“[4] drohte, einer Monotonie, die ihm
unerträglich schien, bedurfte es eines Ausgleichs: Aus der Liebe zum Reisen
entwickelte sich eine Liebe zum Bergsteigen. Ein Aufenthalt in Zermatt und der
Blick aufs Matterhorn wurden zum Schlüsselerlebnis: „Es war das erste wirkliche
Erlebnis, ein überwältigendes Durchschauertsein von höheren Mächten.“[5] Er nimmt später ein Studium in Berlin[6] auf, beendet dieses und wird in seiner
Freizeit zu einem ausgezeichnetem Bergsteiger in Fels und Eis, wobei besonders
die Erstbesteigung des nach ihm benannten ‚Wundtturms’ in der Cadini Gruppe
(Dolomiten) hervorzuheben ist. Die Liebe zu den Bergen zeigt sich auch daran,
dass er die Hochzeitsreise mit seiner Frau Maud durch die Berge, u.a. auf den
Gipfel des Matterhorns, unternahm, während er nach 1900 Bücher über das
Bergsteigen schrieb und sich der „Hochgebirgsphotographie“[7] zuwandte. Der Roman Matterhorn, der nach Wundts eigenen Angaben als Theaterstück
konzipiert und aufgeführt, später – auch auf die Warnung eines Freundes:
„Schreiben Sie einen Roman oder was Sie wollen, aber nur nichts fürs Theater.“[8] – zum Roman umgearbeitet wurde, erschien 1916. Inhaltsangabe: Erneut findet
sich eine unglückliche Liebesbeziehung im Text, die diesmal wieder ein Happyend
findet. Hermann Gronau, Klara, Parker, Ellen Sanders und der Tiroler Bergführer
Sepp Hintersteiner sind die Hauptpersonen des Werks. Als Hermann, Sepp und
Ellen das Matterhorn besteigen, verlieben sich Hermann und Ellen ineinander und
schwören sich ewige Liebe. Wieder im Tal, verlieren sie sich zwei Jahre lang
aus den Augen. Hermann hat in der Zwischenzeit Klara geheiratet, während Ellen
in Amerika ein unglückliches Leben führt. Zum zweiten Jahrestag der Tour
treffen sie in Zermatt aufeinander. Parker macht Ellen einen Heiratsantrag und
erklärt ihr, dass er der alleinige Inhaber ihres Erbes ist. Darauf beschließt
sie mit dem unglücklichen Hermann, sich vom Gipfel des Matterhorns in die Tiefe
zu stürzen. Aber der Lebenswille Hermanns ist stärker. Am Gipfel angekommen,
nimmt er sie mit hinunter zu einer Biwakschachtel, wo die beiden sich
versöhnen. Da taucht Parker auf, der mit Klara und Sepp den beiden
entgegengekommen ist. Klara jedoch ist vor der Unteren Hütte zusammengebrochen
und stirbt später. Parker, der von Ellen eine Abfuhr erhält, versucht kurz
darauf, das Seil, das den sicheren Abstieg über den senkrechten Kamin
garantiert, zu lockern. Auf diese Weise sollen Hermann und Ellen abstürzen.
Dabei verliert er aber das Gleichgewicht und wird von einer Lawine in die Tiefe
gerissen. Hermann, Ellen und Sepp, der die beiden in der Zwischenzeit eingeholt
hat, steigen zur Unteren Hütte ab und gelangen zur toten Klara. Bei ihr finden
Hermann und Ellen zusammen. 5.7.1 HypotheseMatterhorn ist eine Vermischung von autobiografischen Erlebnissen des Autors und
seiner Philosophie des Bergsteigens. Der Berg wird zur Möglichkeit der
Selbsterkenntnis und der Lebensfindung, die Frau zeigt sich dem Mann hier
ebenbürtig. 5.7.2 Biographische BezügeIn Wundts Werk
fließen persönliche Erlebnisse ein. So verbirgt sich hinter der Figur des
Tirolers Sepp Hintersteiner der Bergführer Sepp Innerkofler (1865-1915)[9]. In Südtirol werden „Inner-“ bzw. „Hinter-“
in Zusammenhang mit Tälern und Bergen gleichwertig verwendet, so etwa ‚im
innersten Tal’ bzw. ‚im hintersten Tal’, während Kofl – und daraus
abgeleitet Kofler – für Stein, Berg, Fels oder Kuppe steht, etwa der
Paternkofel (2744 m) in den Sextner Dolomiten, wo Sepp Innerkofler 1915 starb.
Für diese Hypothese sprechen sowohl der Dialekt des Sepp Hintersteiner –
„deifel“[10] – als auch die von Wundt in Ich und die Berge (1917) aufgezeichneten
Schilderungen der Bahnfahrt nach Wien, die Michel Innerkofler (1844-1888), der
„Dolomitenkönig“[11] und ein Verwandter Sepps, 1881 unternahm:
„Daifel, sagt er immer wieder, do kommen wir jo gar nimmer heim.“[12] Andere Parallelen zwischen Matterhorn und Wundts Biographie finden
sich vor allem in den Kapiteln Hochzeitsreise [13] und Matterhorn[14] in Ich
und die Berge, genauso wie die Figur des Hermann Gronau Ähnlichkeiten mit
De Amicis Schilderungen zur Person Theodor Wundts aufweist: „Ein Hunne, hörte
ich von ihm sagen, ein Bär vom Schwarzwald und auch: das Matterhorn als
Mensch.“[15] 5.7.3 ÜberzeugungssystemWas sich hinter
dem Roman Matterhorn verbirgt, hat
Wundt selbst in Ich und die Berge genau
dargestellt: „Naturgemäß hatte ich mir im Laufe der Jahre Gedanken über das
Hochgebirge, seine Bedeutung, seinen Einfluß auf Leben und Anschauungen [...]
gemacht.“[16] Diese hat Wundt – zunächst in einem
Theaterstück, welches er dann zum Roman Matterhorn
umschrieb – folgendermaßen zusammengefasst: Das Gefühl einer
merkwürdigen Dankbarkeit. Daß er gewissermaßen vor sich selbst hatte zeigen
dürfen, was in ihm steckte, zeigen, daß wenn es darauf ankam, er einfach alles
hergab, vor nichts zurückschreckte. Und das war es doch, was die Berge letzten
Endes lehrten! Sich zu erheben zu den Höhen der Tat.[17] Wundt versucht,
den „Gegensatz zwischen dem Leben auf
den Höhen und dem Alltag“ zu gestalten. Die Berge werden zum Symbol für
Freiheit, für „das Gefühl über dieser Welt zu stehen“[18], denn „daß dort oben die Freiheit
herrschte, hatte der Lehrer ja selbst gesagt, als er von Wilhelm Tell erzählte.
So waren ihm die Berge mehr und mehr zu einer unbändigen Sehnsucht geworden.“[19] Allerdings zeigen sich in Matterhorn auch die Gegensätze zwischen
dem „reinen, himmelstürmenden Idealisten und [dem] [...] realistischen
Übermenschen, der [...] rücksichtslos über alles hinwegschreitet und dadurch
auch so manchen Erfolg verzeichnen kann“[20]. In Matterhorn
finden sich beide Parteien: Hermann Gronau, der Überidealist, der leicht den
Boden unter den Füßen verliert, und Ellen Sanders, die es gewohnt ist, dass die
Welt nach ihrer Pfeife tanzt. Am Matterhorn verändert sich ihr Leben: Zeit und Welt
vergehen ihnen in der Unendlichkeit, die langsam von ihnen Besitz ergreift, in
heiliger Liebe, in starkem, reinem Wollen, das ja den tiefsten Sinn des
Weltalls selbst bedeutet, mit dem sie sich so eng verbunden fühlen.[21] Doch zurück in
der Zivilisation, verändert der Alltag diese Ideale. Beide werden von der Welt
überrollt und verlieren sich aus den Augen: Ellen Sanders kehrt zurück nach
Amerika, Hermann heiratet Klara, das ewige Einerlei hat gesiegt. Beiden wird
die Welt mehr und mehr zu eng, „nur im Todesgedanken finden sie sich wieder“[22]. Die Entscheidung erfolgt am Matterhorn:
Der Blick in die Berge und die Einkehr in sich selbst verhindern den geplanten
Selbstmord, weil Hermann seine „Berge heilig sind und zu gut für solche Sachen.
Hier oben gehört man zusammen und läuft nicht voneinander weg, wie dort unten.“[23] So kann Parker,
der Ellens Vermögen in seinen Händen hält, das Geschehen in den Bergen nicht
kontrollieren. Der Kapitalist bzw. Materialist verliert beim Versuch, Hermann
zu töten, das Gleichgewicht und stürzt an der steilsten Stelle hinunter,
während Klara beim Versuch, Hermann zu erreichen, am Fuße der Hütte unterhalb
dieser Steilstelle stirbt. Doch angesichts Klaras Leiche erkennen Hermann und
Ellen, dass es auch in der Welt da unten stille Wege gibt, auf denen sich Größe
genauso wie in den Bergen zeigt, eine stille Größe, die „den Verirrten die
wahren Höhen in jenem Idealismus der Tat“[24] vor Augen führt, „und die beiden steigen
geläutert hinunter in d i e
Welt, in die wir nun einmal gehören“[25]. Wohl liebt er die
Welt hier oben nach wie vor, verehrt in ihr den Drang des hohen, heiligen
Wollens, das mahnend auf das Ewige hinweist, aber er weiß auch, daß sein Platz
dort unten ist, im pflichtenreichen Alltag, zu helfen und zu sühnen, nicht bloß
im Wollen, sondern in der Tat. In der Tat, die sich nicht beirren läßt von
Freud und Leid, die sich begnügt, die getreu ist auch im Kleinen.[26] Damit ist die
Gefahr, „daß der Bergsteiger, der sich über den Alltag erhebt [...],
geringschätzig auf den gewöhnlichen Sterblichen und Talbummler herabblickt“[27], gebannt, denn gerade durch Klaras Tod
wurde beiden gezeigt, dass sie leben sollen, nicht nur in den Bergen, sondern
auch in der Welt, denn: „Nicht in mir selber leb’ ich, nein ich werde / Ein
Teil der Welt, die mich umgibt ...“[28] Neben dieser
Überzeugung, dass der Bergsteiger zwar auf einem Gipfel über den Menschen
stehen kann, seine Bestimmung es aber ist, zu den anderen Menschen
zurückzukehren („Weh dem, der aus der Berge Reich / Nicht zu den Menschen
flieht!“[29]) und mit ihnen zusammenzuleben, findet sich
bei Theodor Wundt des Weiteren auch ein emanzipatorischer Ansatz. So schreibt
er, dass „die Eignung des sogenannten schwachen Geschlechts zum Bergsteigen
[...] schon damals einwandfrei nachgewiesen“ wurde, da Frauen, im Unterschied
zu den Männern, welche zwar „die größere Kraft, Entschlossenheit, Umsicht und
Fachkenntnis“ aufweisen, sich durch „Geschicklichkeit, Ausdauer und Zähigkeit
von dem Durchschnitttouristen“[30] hervorheben, was sich besonders in der
Figur der Ellen Sanders, deren erste Tour das Matterhorn wird, zeigt. 5.7.4 KritikWundt versucht in
seinem Roman, den Konflikt zwischen Bergwelt und Alltag aufzuarbeiten. Dem
Moment des Gipfelglücks mit seiner „traumartigen Kürze und dem tragischen Zwang
des immer wieder Hinuntermüssens“[31] stellt Wundt die Überlegung entgegen, dass
gerade dieses Hinuntersteigen zu den Menschen, demnach ein Abstieg ins Leben,
das Überleben einer Bergtour ausmacht. Der Roman selbst ist – da ursprünglich
fürs Theater konzipiert – im wahrsten Sinne des Wortes etwas theatralischer
Natur, die sich am Tode Klaras und Parkers zeigt, wenngleich die Naturschilderungen
und Eindrücke der Bergwelt äußerst realistisch vermittelt werden. Des Weiteren
finden sich politische Anspielungen der Zeit im Text, wenn „der verschlagene
Bergführer Carrel aus Voltournanche“, ein Italiener, „gedemütigt und
geschlagen“[32] vom Matterhorn abziehen musste, weil Edward
Whymper vor ihm am Gipfel war. Hier zeigt sich ein italienisches Feindbild,
welches durch die italienische Kriegserklärung 1915 an Österreich-Ungarn,
seinen Bündnispartner, Realität war. So bleibt
abschließend noch festzuhalten, dass Wundt in Ich und die Berge feststellt, dass das Bergsteigen hauptsächlich
zur Erholung geworden ist und nichts mehr mit Heldentum zu tun hat, eine
Einstellung, die sich jedoch in der Literatur über den und nach dem Ersten
Weltkrieg nicht durchsetzen konnte. In Matterhorn
zieht Wundt folgende Parallele zwischen dem Leben und dem Bergsteigen: Ja, so war das
Leben! Schritt für Schritt mühte man sich ab, ging durch weite eisige Strecken,
langsam und beschwerlich, ohne ein Ende abzusehen, so ganz hoffnungslos. Aber
wenn man nur ruhig und fest weiterging, dann kam man schließlich doch zu einem
großen und hohen Ziel, zu einem Blick in verklärte Fernen, die wohl
unerreichbar sind, deren ahnungsvolle Schimmer aber sich mild über alles legen,
klärend, heiligend, versöhnend.[33] Die Suche nach
dem Ziel ist die Frage nach dem Weg, auf dem „der Weise [...] sich innerlich
stärken kann, wenn er nur ein Aristokrat der Seele ist. Dazu [zur Suche nach
neuen Wegen und innerlicher Stärkung, J.R.] erziehen die Alpenhöhen wohl mehr,
als irgend etwas anderes. Also hinauf!“[34] [1] Wundt, Theodor: Matterhorn. Ein Hochgebirgsroman. Leipzig 1916, folgend zitiert als Wundt: Matterhorn 1916 [2] Wundt, Theodor: Ich und die Berge. Ein Wanderleben. Berlin 1917, S. 2, folgend zitiert als Wundt: Wanderleben 1917 [3] Wundt: Wanderleben 1917, S. 2 [4] Wundt: Wanderleben 1917, S. 3 [5] Wundt: Wanderleben 1917, S. 14 [6] vgl. Wundt: Wanderleben 1917, S. 73 [7] vgl. Wundt: Wanderleben 1917, S. 170 [8] Wundt: Wanderleben 1917, S. 338 [9] Funk, Gaby: Brüderlein, komm steig mit mir .... Innerkofler – Geschichte einer Bergführer-Dynastie. In: Berge. Das internationale Magazin der Bergwelt. Nr. 4 (2000), S. 41, folgend zitiert als Funk: Bergführerdynastie 2000 [10] Wundt: Matterhorn 1916, S. 155 [11] Funk: Bergführerdynastie 2000, S. 39 [12] Wundt: Wanderleben 1917, S. 133 [13] vgl. Wundt: Wanderleben 1917, S. 226ff. [14] vgl. Wundt: Wanderleben 1917, S. 314ff. [15] Wundt: Wanderleben 1917, S. 332 [16] Wundt: Wanderleben 1917, S. 334 [17] Wundt: Matterhorn 1916, S. 5 [18] Wundt: Wanderleben 1917, S. 335 [19] Wundt: Matterhorn 1916, S. 106 [20] Wundt: Wanderleben 1917, S. 335 [21] Wundt: Matterhorn 1916, S. 129 [22] Wundt: Wanderleben 1917, S. 337 [23] Wundt: Matterhorn 1916, S. 232 [24] Wundt: Wanderleben 1917, S. 337f. [25] Wundt: Wanderleben 1917, S. 338 [26] Wundt: Matterhorn 1916, S. 286 [27] Wundt: Wanderleben 1917, S. 363 [28] Wundt: Matterhorn 1916, S. 129 [29] Wundt: Wanderleben 1917, S. 338 [30] Wundt: Wanderleben 1917, S. 262 [31] Wundt: Wanderleben 1917, S. 335 [32] Wundt: Matterhorn 1916, S. 44 [33] Wundt: Matterhorn 1916, S. 252 [34] Wundt: Wanderleben 1917, S. 365 |