5.9 Ernest Hemingway: Schnee auf dem Kilimandscharo[1] (dt. 1949)Ernest Hemingway,
der „Sprecher der ‚verlorenen Generation’ (‚Lost generation’)“[2], wurde 1899 in Idaho geboren. Der
Selbstmord des Vaters und eine schwere Verletzung im Ersten Weltkrieg prägen
seine literarischen Werke, die primär einen „schonungslosen Realismus,
Liebesidyllik, Krieg und einen provokanten Männlichkeitskult“[3] zeigen. Hemingway erhielt 1953 den
Pulitzer-Preis und 1954 den Nobelpreis. Er starb 1961 durch Selbstmord. Inhaltsangabe: Der
Schriftsteller Harry hat sich am Fuße des Kilimandscharo einen Wundbrand
zugezogen. Im Rückblick auf seine Vergangenheit, in der Gewissheit des nahenden
Todes, kreisen seine Gedanken um sein vergeudetes Leben. Immer wieder taucht in
diesen Rückblicken der Schnee als Bote des Todes auf. Am Schluss der Erzählung
vermischen sich Rückblick und Realität, denn während Harry noch von der
Rettung, vom letzten Blick auf die weißen Hänge des Kilimandscharo träumt,
steht seine Frau neben Harrys Körper und hört ihn nicht mehr atmen. 5.9.1 HypotheseIn Schnee auf dem Kilimandscharo
symbolisiert der Schnee den Tod. Der Berg wird zu einem Ort der Freiheit, zum
Haus Gottes. Um dieses zu erreichen, muss der menschliche Körper aufgegeben
werden, wobei sich mehrere biografische Bezüge zu Hemingway zeigen. 5.9.2 Historischer HintergrundDer
Kilimandscharo, mit 5892 Metern der höchste Berg Afrikas, wurde vermutlich
erstmals 1848 von einem Europäer, Johann Rebmann aus Gerlingen[4], gesehen. 1871 versuchte der Engländer
Charles New, den Berg zu besteigen und erreichte die Schneegrenze. Als er 1873
erneut versuchte, den „Berg zu besteigen“, wurde er „von Eingeborenen
überfallen und erschlagen“[5]. Der Berg selbst wurde 1889 erstmals durch
Hans Meyer aus Leipzig [...] und Ludwig Purtscheller aus Salzburg[6] erklommen. Die Tansanier nennen diesen
höchsten „Punkt am Kraterrand des Kibo ‚Uhuru Peak’ – Freiheitsspitze“[7]. 5.9.3 Mythologischer HintergrundIn Schnee auf dem Kilimandscharo finden
sich zwei wichtige Tiere der afrikanischen Mythologie. Die Hyäne[8] gilt als Verbündete und Transportmittel der
Zauberer und Hexen, während der „Leopard [...] niemals sein Ziel verfehlt“[9] und ebenfalls mit magischen Vorstellungen
verknüpft ist. Die Acholi[10] (Uganda) nennen den Leopard ‚kwach’. Einem
Kind, „das von einem jok abstammte, der den Namen kwach >Leopard< trug“[11], ist die Fähigkeit geschenkt, sich in Leoparden
verwandeln zu können. 5.9.4 InszenierungWerden die
geschichtlichen Ereignisse um die Besteigung des Kilimandscharo sowie die
mythologischen Bezüge bei der Interpretation berücksichtigt, so zeigt sich ein
interessanter Zugang zur Erzählung Hemingways: „Dicht unter dem westlichen
Gipfel liegt das ausgedörrte und gefrorene Gerippe eines Leoparden. Niemand
weiß, was der Leopard in jener Höhe suchte.“[12] Der Gipfel, der als Freiheitsspitze bzw.
Haus Gottes gesehen wird, ein Leopard, Symbol eines verwandelten Menschen und
dessen Skelett, das knapp unterhalb des Gipfels der Freiheit bzw. der Erlösung
liegt, nehmen bereits die gesamte Erzählung im kleinen Rahmen vorweg. Harry „weiß, daß
er sein Leben vergeudet hat“[13]. Seine schöpferische Kraft, sein früheres
Leben hatte er „verschachert für Sicherheit, auch für Luxus“[14]. Dadurch, dass er seine Begabung nicht mehr
genutzt hat, „daß er sich selbst und das, woran er glaubte, verraten hatte, daß
er soviel [sic] trank, bis die Schärfe seiner Wahrnehmungen litt, durch
Faulheit, durch Trägheit, durch Snobismus, durch Hochmut und durch Vorurteil“[15] gerät er in eine tiefe Krise. Die Reise
nach Afrika, „wo er in der guten Zeit seines Lebens am glücklichsten gewesen
war“, sollte zu einem Neuanfang und gleichzeitig die Tage „des Nichtschreibens,
des Luxus, jeder Tag dieser Existenz“[16] beendet werden. Doch eine
einfache Verletzung, die zu einem tödlichen Wundbrand führt, zerstört diese
Möglichkeit des Neuanfangs. Nur das pünktliche Eintreffen eines Flugzeugs
könnte Harry noch retten, doch er hat die Hoffnung und sich selbst schon längst
aufgegeben. „In Harrys vorweggenommener Erfahrung des Sterbens – meist im
Zusammenhang mit Kriegserlebnissen – spielt immer wieder der Schnee eine
wesentliche Rolle, sei es als Ursache, sei es als atmosphärischer Hintergrund
des Todes“[17]: das gefrorene Gerippe des Leoparden, der
Schnee in den Bergen Bulgariens[18], in dem Menschen umkommen, der Deserteur[19], dessen Spuren im Schnee verschwinden, der
Schnee um das „Madlenerhaus“[20], in dem Herr Lent sein Leben verspielte,
der Schnee im Ersten Weltkrieg[21], der sich in den Bergen rot färbte, der
Schnee in Vorarlberg[22] und der tote Fuchs, das weiße
Konstantinopel[23] und die Schlägerei in der Nacht, die weißen
Opiumfelder[24] und die Artillerie, die in die Truppen
feuerte, die toten Männer in weißen „Ballettröcken“[25] usw. Wichtig ist des
Weiteren das Auftauchen der Hyäne als Zeichen der bevorstehenden Abreise, des
Übertritts in eine andere Welt. Die Hyäne kündigt das Ende des irdischen
Daseins an, ist sie es doch, die seit „vierzehn Tagen“[26] um das Lager streunt. Letztlich könnte
selbst der Tod „eine breite Schnauze haben wie eine Hyäne“[27]. Zuletzt wird das „Geräusch, das die Hyäne
machte, so laut“[28], dass Helen erwacht, zu Harry ins Zelt
läuft, doch diesen nicht mehr atmen hört. Die Hyäne wird somit zum Zeichen für
Harrys Aufbruch in eine andere, in eine neue Welt, angekündigt vom Gipfel des
Kilimandscharo, der „groß, hoch und unvorstellbar weiß in der Sonne“ liegt:
„Und dann wußte er, dorthin war es, wohin er ging.“[29] 5.9.5 ÜberzeugungssystemFolgt man den
Erläuterungen des vorherigen Kapitels, so zeigt sich, dass der Autor einige
gesellschaftskritische Aspekte einbringt: die Gefahr des Verlustes der
Schreibfähigkeit durch Luxus und Bequemlichkeit, die zerstörte Begabung, das
Hinausschieben der literarischen Projekte, um beim „Versuch, sie zu schreiben,
[nicht zu] versagen“[30], die fehlende Wahrheit, die man nicht sagen
kann. Durch all die gesellschaftlichen und politischen Verpflichtungen ist
Harry von seinem Pfad abgekommen, hat seine Ziele, seine Freiheit aus den Augen
verloren. „Im Gegensatz zu den meisten anderen Kurzgeschichten des Autors
überwiegt in dieser nicht die Aktion, sondern die Reflexion.“[31] Die Safari sollte
ihn weit weg von Gesellschaft und Politik zur Einfachheit zurückführen, sollte seine
Instinkte, die in der Zivilisation erschlafft waren, erneut wecken. Doch genau
das Versagen dieser Instinkte führt ihn in den Tod, weil er eine ihm durch die
Natur zugeführte Verletzung unterschätzt, sodass sich die Überheblichkeit des
Menschen rächt, die Natur zum stillen Tod und dieser zu einem stillen
„Flüstern, das man nicht hörte“[32], wird. ‚Uhuru’ – die Freiheit, auch die
schriftstellerische – kann nicht mehr erreicht werden, und Harry bleibt,
genauso wie der Leopard, unterhalb des Gipfels im Schnee liegen. Was bleibt,
ist ein Geist, der sich von seinem Körper getrennt hat, während dem Gerippe,
den Knochenüberresten, Helens klopfendes Herz, Symbol des Lebens, gegenübersteht. Doch zeigt sich
am Ende des Werkes trotzdem ein Hoffnungsschimmer, denn Harry hat den Versuch
unternommen, aus dem Alltag auszubrechen, auch wenn er letztlich gescheitert
ist. Den Wunsch, wieder zu seinen Wurzeln zurückzukehren, hat er sich erfüllt,
er hat die gesellschaftlichen Zwänge hinter sich gelassen. Dies geht sogar so weit,
dass Harry mit dem Anblick des Schnees auf dem Kilimandscharo seine körperliche
– gesellschaftliche – Hülle aufgibt, um auf dem „Haus Gottes“[33] „einfach Raum“[34] zu sein und so die letzten Fesseln der
Zivilisation zu sprengen. So ist Harrys Tod
ein unternommener Versuch, das gewöhnliche Mittelmaß zu verlassen, sich selbst
außerhalb der Gesellschaft zu finden, zu befreien und zu verwirklichen, auch
wenn dies – für andere unverständlich, wie das Gerippe des Jaguars im Schnee –
in letzter Konsequenz das körperliche
Ende bedeutet. 5.9.6 KritikDieses Werk kann
als Antizipation von Hemingways Lebensende gesehen werden. 1954, nach der
Verleihung des Nobelpreises, stellte sich für Hemingway, genauso wie für Harry,
die Frage, wie es literarisch weitergehen sollte, sodass er 1961 – aufgrund von
Depressionen, hervorgerufen u.a. durch alkoholische Probleme und physische
Beschwerden (hoher Blutdruck, Gedächtnisschwund), und des zuvor geschilderten
literarischen Dilemmas – „seinem Leben selbst ein Ende“[35] setzte. Die Schnee- bzw.
Berglandschaft ist demnach von zentraler Bedeutung in der gesamten Erzählung
und trägt diese in allen wichtigen Bereichen, wobei aus der Farbe der Unschuld
– weiß – ein Bote des Todes wird. Rückblickend gesehen eröffnet diese
Erkenntnis wiederum interessante Parallelen zwischen Biografie und Werk: Harrys
Flug ins Licht am Ende der Erzählung und Hemingways Ende, der, u.a. 1960 vom
‚weißen’ Sand Kubas durch Castro vertrieben, sich 1961 das Leben nahm, spiegeln
diese Gemeinsamkeiten. Es scheint fast so, als wäre Harrys Schlusstraum
dreizehn Jahre später zu Hemingways Realität geworden, um auf diese Weise die
literarische Sackgasse – man denke an das Gerippe des Leoparden im Schnee – und
das Mittelmaß der Realität zu verlassen, selbst wenn dies, wie bereits erwähnt,
für beide den Tod bedeutete. [1] Hemingway, Ernest: Schnee auf dem Kilimandscharo. 6 Stories. 42. Auflage Hamburg 2002, folgend zitiert als Hemingway: Kilimandscharo 2002 [2] Krywalski: Knaurs 1999, S. 233 [3] Krywalski: Knaurs 1999, S. 233 [4] vgl. Steffens, Rollo: Kilimandscharo. In: Alpin. Das Bergwelt Magazin 5 (2000), S. 102-105, folgend zitiert als Rollo: Kilimandscharo 2000 [5] Rollo: Kilimandscharo 2000, S. 103 [6] vgl. Rollo: Kilimandscharo 2000, S. 103f. [7] Rollo: Kilimandscharo 2000, S. 104 [8] vgl. Knappert, Jan: Lexikon der afrikanischen Mythologie. Mythen, Sagen und Legenden von A – Z. Weyarn 1997, S. 143, folgend zitiert als Knappert: afrikanische Mythologie 1997 [9] Knappert: afrikanische Mythologie 1997, S. 180 [10] vgl. Knappert: afrikanische Mythologie 1997, S. 31 [11] Knappert: afrikanische Mythologie 1997, S. 31 [12] Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 73 [13] Jens: Kindlers Literaturlexikon 1998, Bd. 7, S. 664 [14] Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 87 [15] Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 85 [16] Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 84 [17] Jens: Kindlers Literaturlexikon 1998, Bd. 7, S. 664 [18] vgl. Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 79 [19] vgl. Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 79 [20] vgl. Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 80 [21] vgl. Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 80f.; Hinweis: Pertica, Monte Corno und besonders der Pasubio sind umkämpfte Berge der Dolomitenfront des Ersten Weltkrieges. [22] vgl. Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 91 [23] vgl. Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 91f. [24] vgl. Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 93 [25] Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 93 [26] Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 90 [27] Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 105 [28] Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 109 [29] Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 108 [30] Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 77 [31] Jens: Kindlers Literaturlexikon 1998, Bd. 7, S. 664 [32] Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 96 [33] Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 73 [34] Hemingway: Kilimandscharo 2002, S. 105 [35] Krywalski: Knaurs 1999, S. 233 |