5.10 Mihailo Lalić: Der Berg der Klagen[1]
(dt. 1967)Mihailo
Lalić, 1914 in Montenegro geboren, war Schriftsteller und erlebte den 2.
Weltkrieg als Partisanenkämpfer. „In seinen Werken stellt er gerne die
Geschichte des Freiheitskampfes dar, wobei ihm die grundsätzlichen Lebensfragen
mehr gelten als gängige Ideologien [...].“[2] 1957 erschien erstmals Der Berg der Klagen, 1962 eine stark überarbeitete Version des
Romans. Diese überarbeitete Version wurde 1967 in deutscher Sprache publiziert.
Lalić starb 1992. Inhaltsangabe: Lado Tajović
ist ein kommunistischer Partisanenkämpfer, der gegen die italienische Invasion
der Faschisten tätig ist. Nachdem er im Lelejgebirge den Kontakt zu seiner
Gruppe verliert, schlägt er sich allein durch Berge und Wildnis und bekämpft
die Italiener und diejenigen, die in seinen Augen Verräter sind. Dies führt so
weit, dass er niemandem mehr traut, dass er in der wilden Natur alle
gesellschaftlichen und moralischen Bindungen aufgibt, um im Kampf um das nackte
Dasein zu bestehen, sodass er letztlich selbst zum Plünderer und Dieb wird.
Doch zeigt sich am Ende des Romans ein kleiner Hoffnungsschimmer, denn der
Nebel lichtet sich und der Blick in die Welt wird wieder frei. 5.10.1 HypotheseLalić zeigt
die Gefahren der Entmenschlichung im Partisanenkampf bzw. in der freien Natur.
Der Mensch kann nur dann Mensch bleiben, wenn er unter Menschen ist, sonst
verliert er sich. 5.10.2 Mensch und Landschaft‚Nebel’, die
Überschrift des ersten Kapitels des Romans, durchzieht diesen wie ein roter
Faden. Der Nebel steht für die nicht mehr fassbare Landschaft, für die
Orientierungslosigkeit im Raum, in dem die „Zeit [...] kein Fluß wie die
anderen [ist], [denn] sie fließt nicht geradeaus, sondern im Kreis, kehrt
bisweilen zurück und erneuert Bild und Geräusche, die vergangen sind“[3]. Diese Kreisbewegung zeigt sich deutlich zu
Beginn des Romans, wo Ivan, Lado und Vasilj durch eine nebelige Landschaft
ziehen. Dass sie im Kreis laufen, merken sie nur deshalb, weil sie einen
Flicken, den Lado weggeworfen hat, wieder finden. Dieses alte Stück Stoff, das
Lado einst mit den Worten: „Ich befreie mich von der Vergangenheit“[4] weggeworfen hatte, kehrt somit zu ihnen
zurück und damit auch eine Vergangenheit, die sich nicht zuletzt in den
Partisanenkämpfen in den Bergen wiederholt. Der Zerfall der
Kleidung Lados als Indiz seiner sich auflösenden Identität, in der die
Vergangenheit nur noch bruchstückhaft – wie Flicken – existiert, das Zerbröseln
seiner kommunistischen Ideale, die sich zersetzende Realität „ohne Boden und ohne Himmel“, lassen
Lado den Bezug zur Welt verlieren, eine Welt, die wie ein Traum erscheint, „nur
ein wenig anders und länger als ein Traum“[5]. Dieser
Auflösungsprozess verstärkt sich besonders, als Lado allein in den Bergen ist,
wo er zur Erkenntnis gelangt, dass die „ganze Welt [...] nur vorübergehend
[existiert], auch das Gebirge“[6]. Die Täler erscheinen Lado mehr und mehr
wie „finstere Gruben, auf deren Grund man kaum die Ansiedlungen und Pfade
erkennen kann“[7], während sich dort oben „Berg an Berg bis
in die Unendlichkeit“[8] reiht. Doch gelangt Lado
schließlich zur Erkenntnis, dass er sich nur eingebildet hat, „frei und draußen
zu sein“[9], denn in Wirklichkeit ist er „gefangen wie
die anderen, und es ist nur eine Frage des Tages oder Stunde, wie lange dieser
Selbstbetrug noch andauern wird“[10], denn der Berg „hieße nicht Berg der
Klagen, wäre das Leben hier nicht ein einziges Klagelied“[11]. Die Einsamkeit, „die Leere in der Natur“,
von der er sagt, dass sie „einem nicht schwer“[12] wird, sondern dass sie den Menschen erheben
würde, wird mehr und mehr zur Bedrohung, zu einem Abgrund[13], über dem Lado hängt. Er ist gefährdet,
„von einer Felswand zu springen“[14], denn unter Lado „hat sich eine Furche in
der Erde gebildet […], ein Mund“, der ihn „langsam immer tiefer“ saugt, während
er – „vergebens die Arme“ ausstreckend – versucht, „eine feste Stütze zu
finden“[15]. So wird Lado selbst mehr und mehr zu einem
rebellischen „Berg, ohne Fuß und ohne Verbindung mit der Welt […] zwischen
Himmel und Erde“[16]. Hilfe kann er in der Natur, wo „sich ein
Baum auf den anderen stützt“, aber nicht finden, denn er braucht „einen
Menschen dazu“[17]. „Selbst der Wolf hat einen Gefährten, […]
der Mensch ist einsam […], aber er kann nicht einsam leben.“[18] Der Berg der
Klagen, „der schön ist und verflucht, öde und einsam, [ist die] Heimstätte der
Schlangen und Teufel, nicht der Menschen“[19], und so kehrt Lado im letzten Kapitel ‚Aus
dem Nebel’[20] zurück, während ein Windstoß „einen Spalt
bis in den Himmel“[21] öffnet. Wir bleiben
stehen und sehen zu, wie der häßliche Polyp [der Nebel, J.R.] verzweifelt
kämpft und in Stücke zerfällt […], und das erweckt den Eindruck, als wankten
die Berge: Sie befreien die grünen Steilhänge mit den Rippen gemähter
Grasschwaden und die Felswände, rot und gold im Licht einer unsichtbaren Sonne.[22] Nirgends ist Lado
so sehr Mensch wie in diesem letzten Moment, als die Nebel sich lichten. Nicht
der Partisanenkrieg macht ihn zum glücklichen Helden, sondern ein vertrauter
Ort, ein berührter Weg, ein paar vertraute Stimmen. 5.10.3 ÜberzeugungssystemLalić führt
dem Leser ein differenzierteres Bild des Partisanenkämpfers vor Augen, denn
dieser steht nicht nur für den Verteidiger der Heimat, der die Feinde des
Landes besiegt, so, wie sich dies etwa anhand der Literatur des Ersten
Weltkrieges gezeigt hat, sondern der Partisanenkämpfer ist durch den langen
Aufenthalt in einer entmenschlichten Natur der Gefahr ausgesetzt, sein
Mitgefühl zu verlieren und zu verrohen, ein Mensch, „erschöpft von den
Treibjagden, verwildert durch die Einsamkeit“[23], der den anderen begegnet und ihnen nichts
zu sagen hat. Das zeigt sich an
Lado besonders deutlich. Durch die Abgeschiedenheit von der Welt, eine
Entfernung, „die alles Menschliche winzig macht“[24], ist er schließlich bereit, „alle bisher
für ihn gültigen gesellschaftlichen und moralischen Bindungen“[25] aufzugeben. Der hungrige Mensch wird ein
„heimtückisches Tier [...]. Zuerst verliert er das Schamgefühl, dann den
Verstand und die Angst, und dann ist er furchtbar – vor Hunger bekommt er Dinge
fertig, die er selbst nie geglaubt hätte“[26]. Ausgleich bereitet nur das Gehen, denn es
„ist angenehm, zu marschieren: Die Füße tragen, und der Kopf denkt nicht.“[27] In seiner
Einsamkeit beginnt Lado, „ohne Befehl“[28] zu töten, denn sein tapferes Herz ist „kalt
geworden“[29]. Er „beteiligt sich bedenkenlos an dem
allgemeinen Plündern und Stehlen“[30], doch stirbt damit „die Freiheit, so wie
die Strahlen sterben im Gebirge“[31]. Erst der Schlag gegen die Felswand am Ende
des Romans holt ihn zurück, denn das, was er für ein Nebelgebilde gehalten hat,
ist real, zeigt eine Rückführung des Helden in eine greifbare Wirklichkeit,
eine Welt, die „noch nicht ganz aufgelöst ist“[32]. Lado weiß, dass damit „das feine Silber
der Einsamkeit, das leere Wohlbehagen und die Freiheit, die [...] zum Bösen
verleitet, weil sie an sich selbst zweifelte und nach Bestätigung dürstete“[33] verloren geht, doch ist er in der Nähe des
Dorfes, der Menschen, die er hört, auf dem vertrauten Weg, auf dem er steht, so
glücklich, dass er „am liebsten zu singen anfangen“[34] würde. Diese Vertrautheit löst die Nebel
auf, die Sonne wird wieder erahnbar und deutet gegen Ende des Werkes ihr
Erscheinen an. So zeigt sich,
dass der Autor diesen Gefahren - Verrohung in den Bergen, Verlieren der
Menschlichkeit, Einsamkeit - die vertraute Gemeinschaft und Umgebung
gegenüberstellt, in der Lado wieder zum Menschsein zurückfinden kann. „Der
Mensch muß sich wandeln, er ist kein Stein“[35], schreibt Lalić, eine Hoffnung, die
sich in dem lichter werdenden Nebel am Ende des Werks andeutet, womit die
Kreisbewegung der Geschichte, in der dieselben Fehler immer und immer wieder
auftauchen, so, wie der weggeworfene Flicken zu Beginn der Erzählung, eines
Tages überwunden werden kann. 5.10.4 KritikWie eben dargestellt,
führt Lalić dem Leser die Schönheit und die Gefahren der Natur vor Augen.
Der erhabenen Landschaft wird die Verrohung des Menschen in Einsamkeit
gegenübergestellt, den Idealen des Kommunismus die Ausbeutung und Ausraubung
der Bevölkerung durch einen kommunistischen Partisanenkämpfer. Der verherrlichte
Partisanenkämpfer wird mit seinen Taten konfrontiert, sodass er durch diesen
Spiegel, der ihm vorgehalten wird, erkennt, dass unter jedem Krieg und unter
jeder Herrschaft, egal ob Faschismus, Kapitalismus oder Kommunismus, letztlich
nur das Volk zu leiden hat. Durch derartige theoretische Gebilde verliert sich
der Blick für die Realität, genauso wie Lado diesen im Nebel verliert und
Fantasiegebilde von realen Felswänden nicht mehr unterscheiden kann. Nur unter
Menschen kann Lado Mensch sein, nur in ihrer Nähe findet er sich selbst wieder,
ein Appell, der, wäre er verstanden worden, den Bürgerkrieg der 1990er Jahre in
Jugoslawien hätte verhindern können, denn letztlich gab es auch dort keine
Sieger und Besiegte, sondern Verlierer und Tote auf allen Seiten. [1] Lalić, Mihailo: Der Berg der Klagen. Berlin 1967, folgend zitiert als Lalić: Klagen 1967 [2] Krywalski: Knaurs 1999, S. 317 [3] Lalić: Klagen 1967, S. 408 [4] Lalić: Klagen 1967, S. 9 [5] Lalić: Klagen 1967, S. 7 [6] Lalić: Klagen 1967, S. 492 [7] Lalić: Klagen 1967, S. 441 [8] Lalić: Klagen 1967, S. 408 [9] Lalić: Klagen 1967, S. 238 [10] Lalić: Klagen 1967, S. 238 [11] Lalić: Klagen 1967, S. 361 [12] Lalić: Klagen 1967, S. 555 [13] vgl. Lalić: Klagen 1967, S. 556 [14] Lalić: Klagen 1967, S. 365 [15] Lalić: Klagen 1967, S. 427 [16] Lalić: Klagen 1967, S. 740 [17] Lalić: Klagen 1967, S. 366 [18] Lalić: Klagen 1967, S. 228 [19] Lalić: Klagen 1967, S. 170 [20] vgl. Lalić: Klagen 1967, S. 740 [21] Lalić: Klagen 1967, S. 750 [22] Lalić: Klagen 1967, S. 751 [23] Lalić: Klagen 1967, S. 599 [24] Lalić: Klagen 1967, S. 705 [25] Jens: Kindlers Literaturlexikon 1998, Bd. 9, S. 962 [26] Lalić: Klagen 1967, S.685 [27] Lalić: Klagen 1967, S. 162 [28] Jens: Kindlers Literaturlexikon 1998, Bd. 9 , S. 962 [29] Lalić: Klagen 1967, S. 5 [30] Jens: Kindlers Literaturlexikon 1998, Bd. 9 , S. 962 [31] Lalić: Klagen 1967, S. 5 [32] Lalić: Klagen 1967, S.748 [33] Lalić: Klagen 1967, S.728 [34] Lalić: Klagen 1967, S.750 [35] Lalić: Klagen 1967, S. 672 |