5.11 Ludwig Hohl: Bergfahrt[1] (1978)Ludwig Hohl wurde
1904 in Netsal/Kt. Glarus geboren, war später in Paris und Den Haag, ehe er
sich 1937 definitiv in Genf niederließ, wo er 1980 starb. Hohl war von seinem
literarischen Schaffen, „das v.a. im intensiven Nachdenken über durch Lektüre
gewonnene Erkenntnisse u[nd] im Ausformulien und Präzisieren der dabei
erarbeiteten Thesen und Feststellungen bestand“[2], überzeugt. Die Erzählung Bergfahrt entstand zwischen den Jahren
1926 und 1973 (letzte Überarbeitung). Inhaltsangabe: Zwei Alpinisten,
Ull und Johann, versuchen, einen Berg zu besteigen. Johann ist dabei das
schwache Glied dieser Zweierseilschaft. Am Vormittag steigen sie zur ersten
Alphütte auf, wo sie infolge eines Schlechtwettereinbruchs einen Tag
festsitzen. Dann folgt der Aufstieg zum Gletscher, an einer zugeschneiten Hütte
vorbei, doch durch Sturm und widrige Verhältnisse kehren beide – wenngleich Ull
nur widerwillig – um. Die beiden graben sich durch den Schnee und können so die
obere, zugeschneite Hütte betreten, verbringen dort die Nacht, doch am nächsten
Morgen weigert sich Johann, weiterzugehen. Ull bricht in seiner Wut allein auf,
während Johann absteigt. Ull merkt, wie gefährlich ein Sologang ist, überquert
die Gletscher auf endlosen Umwegen und gelangt mit Mühe auf einen Grat, wo er
erkennen muss, dass er keine Chance hat, den Gipfel zu erreichen und von dort
wieder lebend zurückzukommen. So beschließt er, den Abstieg über die Südflanke
zu wagen. Dabei verliert er zuerst seinen Pickel, muss in der Wand biwakieren,
ehe er am nächsten Tag ausrutscht und in eine Gletscherspalte fällt. Johann,
eine Abkürzung im Abstieg nehmend, ignoriert die Warnung eines Einheimischen,
[was auch heute noch vorkommt, J.R.,] fällt in einen Fluss und ertrinkt. 5.11.1 HypotheseHohl verknüpft
das Bergsteigen mit seinen politischen Idealen des Sozialismus. Nur gemeinsam
können die Bergsteiger überleben, ihre Trennung führt beide in den Tod. 5.11.2 Überzeugungssystem Hohl ist ein
Autor, der humane, sozialistische Ideen vertritt. So schreibt Hohl in Die Notizen oder von der unvoreiligen
Versöhnung (1980): Was das Höchste
ist? Ich muß mich keinen Moment besinnen. Die richtige Arbeit. – Das Erkennen? – Die richtige Arbeit ist
das Erkennen. – Die höchste Erkenntnis? – Die größte Zahl von richtigen
Arbeiten ist die höchste Erkenntnis. Sie ist eine andere Formel dafür, wie
Genie eine andere Formel für vollkommenen Sozialismus ist. Wie Wundertat und
künstlerische Potenz ein und dasselbe sind.[3] Der Begriff
Sozialismus entstand um 1830 in Frankreich als Bezeichnung „für Ideal und
Wirklichkeit einer sozialen Ordnung, in der das Wohl der Gemeinschaft
bestimmend ist, nicht die Interessen einzelner Menschen, Klassen [...]“[4]. Zu diesem Modell merkt Hohl in den Notizen Folgendes an: „... Was aber wäre
das für ein Sozialismus, wenn man in den andern nur die andern, nicht sich
selber sieht?“[5] Dieses
Überzeugungssystem zeigt sich in Hohls Bergfahrt.
Die Szene, in der Ull und Johann in den Bergen, in einer zugeschneiten Hütte,
übernachten, stellt dies deutlich dar: Johann lehnt es nach Mitternacht ab,
einen weiteren Aufstieg zu versuchen, worauf „Ull, in seiner Wut“, allein
aufbricht, ohne Johanns „Gruß und freundliche Wünsche“[6] zu beantworten. Damit ist die Gemeinschaft
der beiden zerbrochen, die jedoch nie gleichwertig war, sondern in der Ull in
jeder Lebenslage über Johann, gleich einem Dompteur, der einen „Bären“[7] dressiert und befehligt, bestimmt hat;
somit ist Ulls „Macht über Johann zu Ende“[8]. Bezeichnend ist,
dass diese Trennung in einer „begrabene[n] Hütte“[9] erfolgt, in der „eine muffige, grabartige
Dämmerung“[10] herrscht, ein Indiz dafür, dass die beiden
die Erzählung nicht überleben. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Notizen Hohls: „Der Mensch lebt in dem
Maße, wie er kommunikationsfähig ist: ist die Kommunikationsfähigkeit vorbei,
so ist auch das Leben vorbei.“[11] Da Ull nicht mehr auf Johanns Grüße
antwortet, ist an dieser Stelle sein Ende bereits besiegelt. Ull überquert nun
allein die Gletscher und umgeht Schwierigkeiten in Zeit raubenden Manövern.
Gewagte Schneebrücken, die über Gletscherspalten führen, kann er jedoch nicht
überqueren, da ein Partner fehlt, der ihn sichert. Schließlich erreicht er den
Rand des Gletschers und klettert auf den Grat, wo er erkennt, „daß er in eine
Falle geraten war“[12]. Ull begreift, dass ein Aufstieg zum Gipfel
mit sehr hohen Risiken verbunden ist, die sich vor allem im Abstieg bemerkbar
machen würden, sodass er ohne Seilpartner nicht überleben würde. Er kann auch
nicht zurück, da sich der Gletscher erwärmt hat und die Gefahr eines Einbruchs
in eine Gletscherspalte zu groß ist. Ull überlegt, ob er über die Südwand
absteigen soll. Die Alternative, die Nacht am Grat zu verbringen und am Morgen
über den erneut gefrorenen Gletscher abzusteigen, kommt ihm nicht in den Sinn,
da weder „jener Bergesalte“[13], noch „ein sehr einsichtiger und
weitblickender Geist erschienen“[14], die ihn darauf aufmerksam machen hätten
können. „Aber der Geist trat nicht aus der Spalte“[15] - oder anders ausgedrückt: Gott bleibt
stumm, ein allwissender Alter, den Hohl für eine Erfindung der Menschen hält:
„Man hat, wenn man von den großartigsten Erfindungen redete, die der Menschheit
gelungen sind, diese meistens vergessen: Gott.“[16] Am Grat, in
dieser „schroffen, gesichtslosen und großen Natur“[17], beginnt Ull den Abstieg über die Südwand,
verliert jedoch seinen Pickel, womit ihm die letzte Stütze genommen wird. Kann
er einen ersten Absturz, verursacht durch einen losen Felszacken, eben noch
verhindern, so fällt er tags darauf – nach einem Notbiwak mitten in der Südwand
– dem rutschigen Schnee zum Opfer und verschwindet im Bergschrund. Johann, der Tags
zuvor bereits abwärts gestiegen ist, verhält sich konträr zu Ull. Ist dieser
auf dem Gletscher auf Umwege zur Erreichung des Ziels angewiesen und vermeidet
die Schneebrücke über die Gletscherspalte, so ist Johann gerade daran
interessiert, einen Umweg zu vermeiden und eine Abkürzung zu nehmen, die ihn an
einen kleinen, reißenden Bach bringt. Ein „einfältiges Bäuerlein“ warnt ihn vor
den Gefahren, ihn, den Hochalpinisten oder zumindest den „Begleiter eines
wirklichen Hochalpinisten“, eine Einstellung, die Hohl mit den Worten
„Überheblichkeit“ und „Vermessenheit“[18] kritisiert, denn Johann zeigt hier
dieselben Verhaltensmuster wie Ull ihm gegenüber, sodass sich auch hier eine
Zwei-Ebenen-Gesellschaft findet. Johann führt dieses herabwürdigende Verhalten
genauso in den Tod: Er rutscht aus, fällt ins Wasser, wird rasch davongezogen
und ertrinkt. Die Frage,
weshalb die Menschen überhaupt in die Berge steigen, beantwortet Hohl wie
folgt: „Um dem Gefängnis zu entrinnen.“[19] Doch stellt sich die Frage, was denn dieses
Gefängnis tatsächlich ist. Die Trennung der Seilschaft führt beide in den Tod,
die gesellschaftlichen Muster hatte keiner der beiden abgelegt, das
Ungleichgewicht der beiden, die zu Beginn vor einem Café[20] sitzen, ist auch in den Bergen existent.
Auch die Planung des Unternehmens, der Zeitdruck, der bei Ull immer
mitschwingt, das Erreichen bestimmter Punkte zu bestimmten Zeiten ist eine
Hektik, die vom Alltag in die Bergwelt hinaufgetragen wird. So ist das
Gefängnis letztlich ein Ich, das ein ungleiches „Produkt des Milieus“ und der
Persönlichkeit, des Willens, der eigenen Anstrengung ist. „Denn wie einfach,
unverkennbar ist die Wahrheit: daß er [der Mensch, J.R.] beides ist, so sehr
das eine wie das andere, und wenn’s an einem in bedeutendem Maße fehlt, gibt’s
nichts Gutes.“[21] Ull fehlt der soziale Bezug, während er ein
Übermaß an Persönlichkeit und Tatendrang zu haben scheint, während Johann einen
Gegenpol bildet, dem es an Persönlichkeit und vor allem an Willenskraft
mangelt. Erst nach ihrer
Trennung schaffen es die beiden, ihr Ich zu vertauschen: Ull ist unentschlossen
am Grat, ist beim Abstieg über die Südwand ängstlich und unvorsichtig, sodass
ihm etwa der Pickel entgleitet, während Johann genau die Energie zeigt, die Ull
vorher auszeichnete, die ihm aber letztlich zum Verhängnis wird. Das Verlassen
des Gefängnisses, der Rollentausch des Lebens führt somit zum Tod, sodass die
von Hohl am Schluss aufgeworfene Frage, ob die beiden, „wenigstens in kleinem
Maße“[22], die Rollen im Leben hätten tauschen
können, mit dem Paradoxon beantwortet werden muss, dass genau deshalb, weil sie
im Leben die Rollen getauscht haben, beide letztlich sterben mussten. Folglich wäre es
nur dann möglich, dem Gefängnis zu entrinnen, wenn der Mensch seine negativen
Eigenschaften zurücklässt, wenn er auf den anderen zugeht, sich öffnet, wenn
beide auf derselben Stufe stehen, ein sozialistisches Modell, wobei man Hohls
Anmerkung, den anderen in sich zu erkennen, berücksichtigen muss, und genau das
verkennen Ull und Johann. Damit würden sich
Milieu und Persönlichkeit annähern, würden sich Kommunikation und Leben der
Menschen vereinfachen, ein erster Schritt, der in den Bergen sicherlich
leichter fällt als in der Zivilisation, aber nicht, weil es dort weniger
Konventionen gäbe, sondern weil weniger Konventionen mitgenommen werden.
Andererseits zeigt Hohl aber auch, dass diese Idee in den Bergen genauso
scheitern kann, da es letztlich nicht von der Umgebung, sondern vom Willen bzw.
dem Geist des Menschen abhängt, ob er etwas ändern will: So steigt der
Mensch in eine gewisse Höhe und steigt dann nicht weiter – nicht weiter in jenes
Unaussprechliche, in den Geist hinein (- der auch ‚Wunder’ täte in allem
Handeln).[23] 5.11.3 KritikDer soziale
Einschlag Hohls führt im Werk dazu, dass die Auflösung der Seilschaft
unweigerlich in den Tod führt. Ull, der weiterzieht, erkennt, dass er dieser
Situation nicht gewachsen ist, und stürzt ab, während Johann, der vor der
Situation flüchtet, gerade durch die Verblendung, er sei ein Höhenbergsteiger,
ertrinkt. Wären sie als Seilschaft zusammengeblieben, hätten vermutlich beide
überlebt, ohne jedoch zu erkennen, wie sehr sie voneinander abhängig sind. Den
Hintergrund hierfür bildet eine fiktive Bergwelt, die abweisend und dem
Menschen feindlich gesinnt ist, die der einzelnen Figur, die von allem gelöst
ist, wenig an ‚erhabenen’ Momenten, jedoch die Möglichkeit der Selbsterkenntnis
bietet, damit aber auch zu Ulls Untergang führt. Unternehmungen
wie Messners Alleingang auf den Nanga Parbat (1978) oder auf den Mount Everest
(1980) zeigen jedoch, dass ein Alleingang nicht unbedingt mit dem Tod verbunden
sein muss, wohl aber, dass diese Situation ein Umdenken im Menschen erfordert,
einen Rollentausch, da Einsamkeit, Glück und Leid mit niemandem geteilt werden
können, Schwierigkeiten nicht immer direkt angegangen, sondern primär umgangen
werden müssen, eine Erkenntnis, die Ull, der Bergsteiger, zu spät erlangt und
der er nicht gewachsen ist. [1] Hohl, Ludwig: Bergfahrt. Frankfurt a. Main 1978, folgend zitiert als Hohl: Bergfahrt 1978 [2] Killy: Literaturlexikon 1990, Bd.
5, S. 435 [3] Hohl, Ludwig: Die Notizen oder von der unvoreiligen Versöhnung. Frankfurt am Main 1984, S. 33, folgend zitiert als Hohl: Notizen 1984 [4] Schischkoff, Goergi: Philosophisches Wörterbuch. 22. Aufl. Stuttgart 1991, S. 676 [5] Hohl: Notizen 1984, S. 77 [6] Hohl: Bergfahrt 1978, S. 53 [7] Hohl: Bergfahrt 1978, S. 22 [8] Hohl: Bergfahrt 1978, S. 51 [9] Hohl: Bergfahrt 1978, S. 47 [10] Hohl: Bergfahrt 1978, S. 35 [11] Hohl: Notizen 1984, S. 64 [12] Hohl: Bergfahrt 1978, S. 58 [13] Hohl: Bergfahrt 1978, S. 62 [14] Hohl: Bergfahrt 1978, S. 62 [15] Hohl: Bergfahrt 1978, S. 63 [16] Hohl: Notizen 1984, S. 94 [17] Jens: Kindlers Literaturlexikon 1998, Bd. 7, S. 1028 [18] Hohl: Bergfahrt 1978, S. 95 [19] Hohl: Bergfahrt 1978, S. 88 [20] vgl. Hohl: Bergfahrt 1978, S. 7 [21] Hohl: Notizen 1984, S. 60f. [22] Hohl: Bergfahrt 1978, S. 96 [23] Hohl: Notizen 1984, S. 61 |