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1.1 Zum amerikanischen Fundamentalismus

Das in der Einleitung beschriebene Verfahren der intensiven und theoriegeleiteten Auseinandersetzung mit Bezugstexten lässt verschiedene Wahlmöglichkeiten zu. Aus den vielfältigen ‘Angeboten’, z.B. zum amerikanischen Fundamentalismus, wurde, wenn irgend vertretbar, das im erwähnten Fundamentalismusseminar genutzte gewählt, um dem Entstehungszusammenhang möglichst nahe zu bleiben.

Bezugstext: H. Papenthin: Entstehung und Entwicklung des (klassischen) amerikanischen Fundamentalismus. In: C. Colpe/H. Papenthin (Hg.): Religiöser Fundamentalismusunverzichtbare Glaubensbasis oder ideologischer Strukturfehler? Berlin 1989, S. 13-52.[5]

Der sogenannte amerikanische Fundamentalismus konnte "in den Vereinigten Staaten gegen Ende des 19. Jahrhunderts Wurzeln schlagen" (13). Diese Bewegung knüpft an die "Evangelical Tradition" an, welche die amerikanische Religiosität in einem hohen Maß geprägt hat.

Die "Evangelical Tradition" ist vor allem gekennzeichnet durch den "Anti-Katholizismus", durch das "Festhalten an dem Grundsatz Sola scriptura, denn die Bibel sei als einzige Quelle maßgeblich für die Regelung christlichen Glaubens und christlicher Praxis", die "Betonung der Irrtumslosigkeit der Bibel", die "besondere Thematisierung der Erlebnishaftigkeit des Glaubens", die "Versagung der Bezeichnung ‘christlich’ für die (Individuen oder Kirchen), die die eben genannten Überzeugungen nicht teilen" (16).

Wir haben es hier mit einer Form der strengen oder geschlossenen Religiosität (RF 1) zu tun, der aber der für den RF 2 charakteristische umfassende politische Gestaltungswille fehlt.

Mein theoretisches Ziel in der verstehenden Analyse ist es, das Bild eines allgemeinen Weltauffassungstyps, einer allgemeinen Denkform ‘religiöser Fundamentalismus im weiten Sinn’ (RF 1) zu zeichnen, um dann konkrete Fundamentalismen wie den amerikanisch-christlichen als dessen Ausdifferenzierungen begreifen zu können. Sieht man sich die angeführten Merkmale an, so sind diese sicherlich weitestgehend der Ebene der konkreten Ausdifferenzierung der gesuchten allgemeinen Denkform zuzuordnen. Der "Anti-Katholizismus" z.B. ist ebenso wie die "Thematisierung der Erlebnishaftigkeit des Glaubens" nur bestimmten Versionen von RF 1 zuzuordnen, nicht aber dem allgemeinen Weltauffassungstyp RF 1.

Zu Elementen des – in der Einleitung bereits skizzierten – allgemeinen Typs können wir jedoch vordringen, wenn wir bestimmte ‘Inhalte’ gewissermaßen in Klammern setzen. "Betonung der Irrtumslosigkeit" scheint ein solches Element zu sein, das unterschiedliche ‘inhaltliche Füllungen’ (z.B. durch konkreten Bezug auf die "Bibel") zulässt. Der allgemeine Typ RF 1 setzt immer eine bestimmte Größe als irrtumslos an. Anders formuliert: Zu diesem Weltauffassungstyp gehört die Überzeugung, über eine ‘letzte’ oder ‘absolute’ religiöse Wahrheit (bzw. über mehrere solcher Wahrheiten) zu verfügen, z.B. in der Form, dass X zu wissen meint, was Gott will und was er nicht will (was wiederum die Überzeugung von der Existenz Gottes voraussetzt).

Mit diesem Grundelement hängt es zusammen, dass sich die Anhänger einer strengen oder geschlossenen Religiosität als die ‘wahren’ Gläubigen betrachten (ja betrachten müssen) und dass sie die konkurrierenden Formen der Religiosität als ‘unwahr’ oder ‘falsch’ ablehnen (ablehnen müssen). Eine konkrete Ausformung dieses Elements ist eben die "Versagung der Bezeichnung ‘christlich’ für die (Individuen oder Kirchen)", welche spezifische "Überzeugungen nicht teilen".

Aus der für die allgemeine Denkform RF 1 zentralen Überzeugung, über eine ‘absolute’ religiöse Wahrheit zu verfügen, ergibt sich ein weiteres allgemeines Element, das mehrere Ausdifferenzierungen zulässt: An der jeweiligen ‘absoluten’ Wahrheit muss um jeden Preis festgehalten werden, daher sind alle Ideen, z.B. alle Philosophien und wissenschaftlichen Theorien, welche für die ‘große Wahrheit’ bedrohlich sind oder sein könnten, zu verwerfen.

Eine konkrete Ausformung dieses Grundelements zeigt sich im Darwinismusstreit des 19. Jahrhunderts. Zählt nämlich der "Glauben an den allmächtigen Schöpfergott" zum Kernbestand der ‘absoluten’ Wahrheit, so muß die "Theorie der natural selection", sofern sie "in klarem Widerspruch" zu diesem Glauben steht, von strengen oder geschlossenen Formen christlicher Religiosität verworfen werden (15).

Grundsätzlich gilt: Alle Ideen, die mit der jeweiligen ‘absoluten’ Wahrheit in Konflikt geraten, werden vom Fundamentalisten als ‘großer Irrtum’ verworfen. Dieses Verwerfen ist unabhängig davon, ob z.B. eine Theorie nach wissenschaftlichen Kriterien gut bestätigt und kognitiv leistungsfähig ist. Die entscheidende Grundlage für die Ablehnung ist immer der Konflikt mit einer ‘absoluten’ Wahrheit, über die man zu verfügen glaubt. Wenn z.B. der "Glauben an den allmächtigen Schöpfergott" den Status einer unumstößlichen Wahrheit hat, so müssen alle Lehren, die damit im Widerspruch stehen, abgelehnt werden – unabhängig von den Argumenten, die für diese Lehren ins Feld geführt werden. Zur ‘großen’ Glaubensgewißheit gehört also die apriorische Ablehnung aller damit in Konflikt stehenden Auffassungen.

Dieses Schema, das für RF 1 konstitutiv ist, lässt sich auf die unterschiedlichsten ‘Inhalte’ anwenden. Ein weiteres Beispiel, das für den amerikanischen Fundamentalismus relevant ist: Gilt etwa die "Irrtumslosigkeit der Bibel" als unumstößliche Wahrheit, so muss die "Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die Bibel" mit großer Sorge betrachtet werden. Denn die Interpretation der Bibel "mit denselben Methoden wie andere historische Dokumente auch" hat zweifellos die Tendenz, den behaupteten religiösen Sonderstatus der Bibel zu unterminieren (15). Die historische Relativierung ist mit der Annahme, die biblischen Texte seien von Gott offenbart worden und enthielten die ‘absolute’ und vollständige Wahrheit, letztlich nicht vereinbar.

Die Denkweise des RF 1 kann – auch dieser Ausdruck ist hier nicht im (ab)wertenden Sinn, sondern neutral zu verstehen – dogmatisch genannt werden. Jede Variante des RF 1 behandelt ja bestimmte Annahmen (wie ‘Ein allmächtiger Gott hat den Menschen erschaffen’, ‘Dieses Buch ist irrtumslos und unfehlbar’, ‘Christus wird bald leiblich wiederkehren, um das Reich zu errichten’ usw.) als Dogmen, an denen Kritik unzulässig ist. ‘Ich bin im Besitz der Wahrheit, die unumstößlich ist; alles, was mit ihr in Konflikt gerät, muss daher falsch sein’.

Ein gutes Beispiel für den dogmatisch-aprioristischen Denkstil des religiösen Fundamentalismus (RF 1) liefert die "Princeton Theology" mit ihrer "Auffassung von der Verbalinspiration". Die Bibel "sei ohne Irrtum, da Gott die Verfasser der biblischen Schriften so inspiriert habe, daß sie jedes Wort ohne Fehler niederzuschreiben vermocht hätten" (20). Diese Annahme wird – unabhängig von den Ergebnissen historisch-kritischer Forschung – als unumstößliches Dogma behandelt. Die Theologie hat dann die Aufgabe, dieses Dogma zu entfalten, wobei wiederum mehrere Wege gangbar sind, was zu spezifisch theologisch-dogmatischen Kontroversen führt.

Konzentrieren wir uns kurz auf diejenigen Varianten des RF 1, die mit der ‘modernen Wissenschaft’ und ihren Ergebnissen konfrontiert sind. Hier stellt sich die Frage, ob diese neueren Formen des RF 1 ‘total’ wissenschaftsfeindlich sein müssen. Das ist nicht der Fall. Es ist auch eine Form von Strenggläubigkeit möglich, die im Prinzip wissenschaftsfreundlich ist und nur diejenigen Ergebnisse verwirft, die in Konflikt mit der jeweiligen ‘absoluten’ Wahrheit stehen.

Die gelockerte oder offene religiöse Gläubigkeit verfährt gegenüber der Wissenschaft, ‘idealtypisch’ betrachtet, anders als die strenge oder geschlossene. Die erstere dient sozusagen mehreren Herren, während die letztere nur einen Herrn kennt. Wenn religiöse Grundannahmen mit ‘erfolgreichen’ wissenschaftlichen Theorien in Konflikt geraten, so versucht der ‘offene’ Gläubige, beide Größen miteinander in Einklang zu bringen, was de facto meistens darauf hinausläuft, dass der Glaube dergestalt refomuliert wird, dass er mit der Theorie, an der man ebenfalls festhalten möchte, nicht mehr in (offenkundigen) Konflikt gerät. So ist ein Gott, der nicht mehr im wörtlichen Sinn als allmächtiger Schöpfergott, sondern z.B. als Lebensenergie begriffen wird, eben dadurch leichter mit der Evolutionstheorie vereinbar. [6] Der ‘geschlossene’ Gläubige geht demgegenüber ganz anders vor: Er hält kompromißlos an seiner ‘absoluten’ Wahrheit fest und lehnt alles, was damit nicht vereinbar ist, direkt ab. Er lässt sich von der Wissenschaft, sofern sie für seine Position bedrohlich ist, nicht beeindrucken, für ihn zählt nur sein Dogma.

Nebenbei bemerkt: Wenn wir uns auf die fundamentalistische Denkform verstehend einlassen, so kann zwar konstatiert werden, dass es einer bestimmten fundamentalistischen Richtung "völlig am Erkennen historischer Prozesse mangelt" (21), aber dies kann auf dieser Ebene nicht als triftiger Einwand gewertet werden. Denn nach fundamentalistischen Maßstäben ist der Erwerb historischen Wissens völlig nebensächlich, letztlich ist die ‘absolute’ Wahrheit entscheidend. Mehr noch: die starke Betonung der historischen Vorgehensweise ist geradezu verwerflich, da sie zu ‘Irrlehren’ führt.

Im Rahmen meiner Denkformanalyse des religiösen Fundamentalismus werden ‘Wahrheitsfragen’ zunächst in Klammern gesetzt, d.h. es wird nicht ausgeschlossen, dass der Fundamentalismus bzw. ein bestimmter Fundamentalismus recht haben könnte. Es ist ja z.B. durchaus denkbar, dass es einen Gott gibt, der die Verfasser der biblischen Schriften so inspiriert hat, dass sie jedes Wort ohne Fehler niederschreiben konnten. Gegenwärtig geht es nur darum, die fundamentalistische Denkform korrekt zu bestimmen, was sowohl mit einer Bejahung als auch mit einer Verneinung des Fundamentalismus vereinbar ist.

Kehren wir zur fundamentalistischen Denkform zurück. Vergleicht man unterschiedliche Ausgestaltungen dieser Denkform, so zeigt sich, dass ganz verschiedenen religiösen Annahmen der Status eines unbezweifelbaren Dogmas zugewiesen wird. Das gilt auch für eine politisch relevante Annahme wie die, "daß es ‘Amerikas’ Mission als chosen people sei, das Reich Gottes auf Erden herbeizuführen" (17). Oder für die Annahme, "daß die Ankunft Christi nahe bevorstehe, daß vor der die Erde alsbald befallenden ‘großen Drangsal’ alle wahren Christen gerettet würden und Christus dann das tausendjährige Königreich errichten würde" (22).

Der religiöse Fundamentalist (RF 1) ist immer ein kompromißloser Verteidiger des ‘wahren’ Glaubens gegen alle Kräfte, die für diesen Glauben bedrohlich sind; die Inhalte des ‘wahren’ Glaubens variieren jedoch in den unterschiedlichen Religionen und manchmal auch innerhalb einer religiösen Tradition sehr stark.[7]

Die fundamentalistische Denkform neigt zu einer ‘Dämonisierung’ oder ‘Verteufelung’ der Gegner; insbesondere von den ‘Ungläubigen’ wird häufig angenommen, dass sie mit einer metaphysisch negativen Macht im Bunde stehen, sei diese nun als Teufel oder anders gedacht. Die "liberalen Theologien", die wir als Vertreter einer offenen Religiosität bezeichnen können, werden z.B. als "Abtrünnige" (30) betrachtet. Gegenüber den von ihnen abgelehnten kulturellen Formen neigen Fundamentalisten zu "pauschaler Verfemung" (34). In der Abkehr vom ‘wahren’ Glauben sehen sie die entscheidende Ursache für die "Barbarei", für den "moralischen Kollaps" (35) einer Kultur.

Aus der fundamentalistischen Denkform ergibt sich auch die "ablehnende Haltung gegenüber ‘offizieller’ Bildung" (18), sofern diese mit dem ‘wahren’ Glauben nicht im Einklang steht. Eine naheliegende institutionelle Konsequenz ist im christlichen Kontext z.B. die "Errichtung eigener Bible Schools" (18). Überhaupt hat der religiöse Fundamentalismus eine starke Tendenz zum "Anti-Intellektualismus" (30) – wer über die definitive religiöse Wahrheit verfügt braucht sich auf ‘weltliches’ Wissen nicht ernsthaft einzulassen.

Noch einmal ein terminologischer Aspekt. Nach meiner Auffassung hat die fundamentalistische Denkform (RF 1) eine lange Tradition, und die als amerikanischer oder christlicher Fundamentalismus bezeichnete spezielle Richtung ist nur eine von vielen Ausgestaltungen dieses Weltauffassungstyps. Manchmal entsteht jedoch in der Literatur der irrige Eindruck, mit dieser sich selbst phasenweise als ‘Fundamentalismus’ bezeichnenden Strömung sei etwas ganz Neues in die Welt getreten, während es sich doch einfach um eine weitere Spielart strenger, geschlossener Religiosität handelt. Auch die spätere Politisierung ist nichts grundsätzlich Neues, neu an dieser Variante des RF 2 ist jedoch z.B. der massive und konsequente Einsatz bestimmter ‘moderner’ Kommunikationstechnologien.

Für meine Analysestrategie ist, wie mehrfach erwähnt, die Unterscheidung zwischen der allgemeinen Denkform RF 1 bzw. RF 2 und ihren konkreten Ausdifferenzierungen (z.B. eben zu einem christlichen Fundamentalismus in Nordamerika) von zentraler Bedeutung. Die theoretische Einführung einer Ebene ‘allgemeine Denkform’ impliziert jedoch, dass eine Größe angesetzt wird, die nicht unmittelbar von konkreten sozio-historischen Rahmenbedingungen abhängig ist. Für jeden konkreten Fundamentalismus lässt sich auch ein konkreter "Nährboden" für dessen "Entstehung und Entwicklung" (13) angeben. So begünstigen "die durch abgeschlossene West-Besiedlung, Industrialisierung, Urbanisierung und gewaltige Einwanderungsströme bedingten tiefgreifenden Lebensveränderungen Ende des 19. Jahrhunderts" (13) die Entstehung und Entwicklung des amerikanischen Fundamentalismus.

Für die allgemeine fundamentalistische Denkform können hingegen nur in ebenfalls allgemeiner Form Bedingungen angegeben werden, welche zur Konjunktur dieser Denkform, die eine der Grundmöglichkeiten des menschlichen Geistes darstellt, führen oder führen können. Diese allgemeinen Bedingungen lassen sich wiederum durch Abstraktion von konkreten ‘Inhalten’ gewinnen. Z.B. so: Zu den Bedingungen, unter denen die fundamentalistische Denkform Konjunktur hat, gehören "tiefgreifende Lebensveränderungen", wie diese im einzelnen auch beschaffen sein mögen.

Der Bezugstext enthält auch Hinweise, die sich auf das folgende Problem beziehen lassen: Unter welchen Bedingungen geht RF 1 in RF 2 über, und unter welchen Bedingungen bleibt ein solcher Übergang aus? Das "hervorstechende Merkmal des dispensationalistischen Prämillenarismus" war es lange Zeit gewesen, "daß er sich mehr mit dem Jenseits als mit seiner unmittelbaren Umgebung auseinandersetzte. Aus der Vorstellung, daß das Reich Gottes nicht von dieser Welt sei, nicht von Menschen herbeigeführt werden könne, folgerte für die ‘Fundamentalisten’ eine tiefe Skepsis gegen weltliche Herrschaft jeglicher Form, eine völlig a-politische Haltung." (34f.)

Allgemeiner gefaßt: Gewinnt in einer strenggläubigen religiösen Strömung die Jenseitsorientierung die klare Oberhand, wird z.B. angenommen, dass das Reich Gottes nicht von dieser Welt sei und dass sein Kommen in keiner Weise von Menschen herbeigeführt oder unterstützt werden könne, so kann sich kein religiöser Fundamentalismus im engeren Sinn (RF 2) herausbilden. Strömungen hingegen, die bei dominierender Jenseits- dennoch eine relative Aufwertung der Diesseitsorientierung vornehmen, z.B. über die Annahme, dass die Menschen, obwohl letztlich alles von Gott abhängt, doch viel für die Vorbereitung des Reiches Gottes tun können, haben eben damit die Tür zum RF 2 geöffnet; die "völlig a-politische Haltung" geht dann in einen mehr oder weniger umfassenden politischen Gestaltungswillen über. Diese ‘politische’ Haltung kann vielleicht so bestimmt werden: ‘Wir haben die Aufgabe, unsere Kultur aus dem "Zustand des Degenerierens" herauszuführen, für den die Abkehr vom ‘wahren’ Glauben verantwortlich ist; das aber ist nur durch Rückbesinnung auf die "fundamentalen Glaubenswahrheiten" (37) möglich’.

Eine solche Gestalt des zumindest ansatzweise politisierten Fundamentalismus (RF 2) finden wir in Nordamerika in den 20er Jahren. Den Anhängern ging es "nach dem Krieg v.a. um Aktionen gegen die von den ‘Modernisten’ vertretene ‘Irrlehre’", sie "setzten ihre Hebel v.a. in der Schulausbildung an und machten in den folgenden Jahren das Thema ‘Evolution’ zu ihrer Sache. Ihre Anti-Evolution Crusade wurde ungeheuer populär und erreichte ihren Höhepunkt im Jahre 1925." (37)

Diese Version des RF 2 konnte sich jedoch nicht durchsetzen, überhaupt führte der Fundamentalismus (RF 1 und RF 2) "für mehrere Jahrzehnte ein Schattendasein in der amerikanischen Gesellschaft" (38). Danach bahnte sich jedoch ein neuer Aufschwung an: Die "militanteren Fundamentalisten organisierten sich dann Ende der 70er Jahre in einer Form, die bis dahin im amerikanischen Fundamentalismus unbekannt war: sie taten sich mit der politischen Neuen Rechten zusammen und schufen so die New Religious Right [...]. Damit tritt ein weiteres Novum hervor: zum erstenmal in der Geschichte der Vereinigten Staaten gibt es eine Koalition zwischen militanten Protestanten und Katholiken, geeinigt durch dieselben moralischen und religiösen Themen und durch dieselben Feindbilder." (39)

Diese Gestalt des politisierten Fundamentalismus (RF 2) zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie sich massiv neuer kommunikationstechnischer und werbestrategischer Mittel bedient. Einige Stichworte: "Direct Mail-Verfahren" (39), Rekrutierung neuer Anhänger mehr durch "emotionsbesetzte Themen als durch komplexe politische Fragen" (39), Kooperation mit "bekannten Fernsehpredigern" (40), Gründung neuer "politisch-religiöser Gruppierungen" mit dem Ziel, "rechte Christen für politische Aktionen zu mobilisieren" (40).

Bekämpft wird der "säkulare Humanismus". "Unter dem Oberbegriff ‘säkularer Humanismus’ fassen die Fundamentalisten alle ‘Lehren’, die die Menschen darin bestärken, zur Lösung individueller wie gesellschaftlicher Probleme allein ihren eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten zu vertrauen. Nach Meinung der Fundamentalisten habe der Einsatz dieser satanischen Waffen – liberale Erzieher, modernistische Kirchen und die Gerichte fungieren als ‘Instrumente’ Satans – zur Vergiftung des Denkens der Kinder und Jugendlichen, zur Infiltrierung der Kirchen und zur Verfälschung des Evangeliums geführt." (41f.)

Diese Grundauffassung führt zu diversen Kampagnen, z.B. gegen das "Recht zur Abtreibung auf Verlangen", an denen sich auch "Fernsehprediger" mit "geschicktem Einsatz moderner Kommunikationstechnologie" beteiligen. Diese Version des RF 2 "verfolgt das langfristige Ziel, die eigenen ‘moralischen Prinzipien’ der gesamten Gesellschaft aufzuzwingen" (48). Und das wiederum ist ein Merkmal, das auf alle Ausdifferenzierungen des RF 2 zutrifft.

Mit "Agitations-Propaganda wird das Gefühl von Bedrohung geschürt, das wiederum die Adressaten für politische Appelle empfänglicher macht, die darauf abzielen, die sog. social ills (die ‘Übel der Gesellschaft’) konkret zu bekämpfen. Die Adressaten werden dazu aufgefordert, ihren eigenen, individuellen Beitrag – etwa gegen Homosexualität – zu leisten, indem sie direkt auf ihre politischen Repräsentanten Einfluß nehmen." (43)

Dem "Zugriff auf die staatlichen Schulen" wird besondere Bedeutung zugemessen, etwa im Sinn der Forderung der "gleichberechtigten Behandlung der ‘Lehre vom Kreationismus’ neben der Evolutionstheorie" (43). Angestrebt wird darüber hinaus der "’Schutz’ vor der Konfrontation mit [...] ‘unchristlichen’ Inhalten" (43f.).

Sind entsprechende rechtliche Möglichkeiten gegeben, so werden Eltern, die eine Variante des RF 2 vertreten, bestrebt sein, ihre Kinder vor Lehrinhalten zu schützen, die mit dem jeweiligen ‘wahren’ Glauben nicht im Einklang stehen. Durchaus konsequent ist daher die "Klage fundamentalistischer Eltern [...], ihre Kinder aus den Schulstunden nehmen zu dürfen, in denen ‘unchristliche’ Texte behandelt würden". (44)

Worauf sich der politische Gestaltungswille des RF 2 jeweils richtet, hängt von den konkreten sozio-kulturellen Rahmenbedingungen ab. Unter bestimmten Bedingungen kann die Formung des staatlichen Schulsystems nach den Grundsätzen, Lehren und Vorstellungen des vorliegenden religiösen Fundamentalismus im Zentrum des Interesses stehen, unter anderen Bedingungen die Formung des Wirtschaftssystems usw.

Eine wichtige Aufgabe der verstehenden Denkformanalyse besteht darin, den Verbindungen des RF 1 und RF 2 mit einem Weltuntergangsdenken, vor allem aber mit einem apokalyptischen Denken nachzugehen. "Die Vorstellung, daß ‘Armageddon’ nahe sei, wurde durch wiederholte Äußerungen nicht nur fundamentalistischer Fernsehprediger, sondern auch Präsident Reagans genährt." (45)

Noch ein Beitrag zu einer allgemeinen Theorie des religiösen Fundamentalismus. Ich unterscheide hier zwischen den a-politischen bzw. eingeschränkt politischen Gestalten des RF 1 und dem politisierten Fundamentalismus (RF 2). Wenn, um es ganz grob zu umreißen, die gesellschaftliche Entwicklung in vielen Punkten gegen die eigene Wertorientierung verläuft, so tendiert der a-politische bzw. eingeschränkt politische RF 1 zum "Rückzug vor der ‘Kultur des Bösen’ in Gemeinden und Sekten, wo man zusammen mit anderen ‘Getreuen Gottes’ in der Gemeinde Bestärkung für die eigene Lebensweise sucht", während der RF 2 sich bemüht, "mit Hilfe politischer Strategien fundamentalistische Sichtweise und Lebenspraxis in die [...] Gesellschaft hineinzutragen, d.h. sich der ‘Bedrohung’ aktiv zu stellen und selber die Fäden in die Hand zu nehmen" (48). RF 2 ist aktivistisch¸ der ‘bloße’ RF 1 hingegen separatistisch.


[5] Die Zitate im Abschnitt 1.1 sind sämtlich dem Bezugstext entnommen; Seitenzahlen sind in Klammern angegeben. Entsprechend wird auch mit den weiteren Bezugstexten verfahren.

[6] "Bedingt durch die Evolutionstheorie änderte sich [...] das Reden von Gott." (15)

[7] Im Seminar wurden auch die Neuapostolische Kirche und die Zeugen Jehovas behandelt. Beide religiöse Richtungen lassen sich als Varianten des RF 1 auffassen.

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