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1.3 Zum islamischen Fundamentalismus

Bezugstext: C. Rudolph: Fundamentalismus im Islam. In: Colpe/Papenthin (Hg.): Religiöser Fundamentalismus, a.a.O., S. 91-110.

Bei meinen Überlegungen ist weiterhin leitend die Unterscheidung zwischen der allgemeinen fundamentalistischen Denkform und ihren diversen konkreten Ausdifferenzierungen. Für eine spezielle Ausdifferenzierung, z.B. für den "christlichen Fundamentalismus", können Merkmale wie "die Schriftfrömmigkeit und die Ablehnung der historisch-kritischen Exegese" (91) konstitutiv sein, die sich nicht ohne weiteres auf andere Ausdiffenzierungen übertragen lassen.

Als charakteristisch für den "islamischen Fundamentalismus" werden vorab vier Merkmale genannt: "1. ist fundamentalistisches Denken geprägt von einem transzendenten Gottesbegriff. 2. soll die Einheit des Islam gewahrt bzw. (wieder-)hergestellt werden, wofür 3. das Bemühen um Authentizität des Islams und 4. die Gleichheit der Gläubigen unerläßlich sind." (91)

Innerhalb des Islam ist, wie in den bislang besprochenen Religionen, mit mehreren Spielarten strenger, geschlossener Religiosität (RF 1) zu rechnen. Nach meiner Auffassung kann es hier sowohl einen RF 1 mit "transzendentem Gottesbegriff"[10] als auch einen RF 1 mit "mystischer Ausrichtung" geben, der davon ausgeht, daß "alles in Gott und Gott in allem ist"[11](92). Es ist auf der von mir gewählten Unhtersuchungsebene wenig sinnvoll, nur die erstere Spielart als Fundamentalismus zu bezeichnen, wenngleich man sagen kann, dass die verbreitetste Form des RF 2 innerhalb des Islam sich auf die Lehre vom "transzendenten Gott" stützt.

Kurzum, der im Bezugstext als ‘islamischer Fundamentalismus’ bezeichnete Standpunkt ist für mich zunächst nur eine von mehreren möglichen Versionen des islamischen RF 1. Für diese Version gilt: Das Bekenntnis zum "transzendenten Gott" wie auch die "Gesetzesorientiertheit" sind konstitutiv. Der "Zugang zur sunna" ist nach dieser Auffassung indes "durch die bestehenden vier Rechtsschulen verbaut. Seit dem 10. Jh. ist jeder Muslim an die dogmatische Lehrmeinung einer dieser Rechtsschulen gebunden und muß sein Handeln danach ausrichten (taqlîd). Das bedeutet, daß die Einheit des Islam, die de facto sowieso nur in den ersten 30 Jahren bestand, nicht hergestellt werden kann. Die Rechtsschulen, die ja nicht einmal aus der Ursprungszeit des Islam stammen, sondern aus dem 3. Jh. seiner Geschichte, genießen ihrer Meinung nach zu Unrecht solch hohe Wertschätzung, sind sie doch in hohem Maße verantwortlich für Spaltung und Rivalität im Islam. Folglich kann nur, wer sich nicht an eine Rechtsschule gebunden fühlt, bis zum Ursprung des Islams vordringen. Entsprechend qualifizierte Gelehrte [...] dürfen demnach den Koran und hadith auslegen (ijtihâd). Die Authentizität wird durch ijtihâd, den unmittelbaren Zugang zu den Quellen des Islams, gewährleistet." (92f.)

Die behandelte Version des islamischen RF 1 wendet sich auch dagegen, dass "die Gründer dieser Rechtsschulen als Heilige verehrt" werden; sie halten – zumindest in dieser Hinsicht – am "Gleichheitsgrundsatz aller Gläubigen" fest. Zwar wird nicht bestritten, "daß Menschen Wunder vollbringen können", man lehnt "aber die Wirksamkeit dieser Fähigkeit über den Tod hinaus ab. Ijtihâd bedeutet in diesem Zusammenhang die Leugnung eines anderen Zugangs zum göttlichen Wissen als den über die Offenbarungen Gottes an die Propheten, als deren letzter Muhammad angesehen wird." (93)

Eine solche Version des RF 1 kann nun relativ leicht in einen RF 2 übergehen. Der umfassende politische Gestaltungswille kann sich z.B. aus der Annahme ergeben, es habe in der "Ursprungszeit des Islam" einmal eine ‘intakte’ gesellschaftliche Ordnung gegeben, die mit dem göttlichen Willen im Einklang gestanden habe, und diese Ordnung gelte es – nach der langen Zeit der Entfernung und ‘Entfremdung’ vom göttlichen Willen – wiederherzustellen. Eine solche Annahme hat zur Folge, dass den ‘wahren’ Gläubigen eine politisch-gesellschaftliche (Haupt-)Aufgabe zugeschrieben wird, d.h. sie führt unmittelbar zur ‘Politisierung’ des zugrunde liegenden RF 1. Generell gilt: ‘Entfremdungstheorien’ mit politisch-gesellschaftlichen Implikationen sind – auf der Ebene der ‘ideellen’ Voraussetzungen – häufig entscheidend dafür, dass aus einem RF 1 ein auch in politischer Hinsicht ‘radikaler’ RF 2 wird.

Der Bezugstext weist überzeugend auf einige Faktoren hin, welche insbesondere den beschriebenen islamischen RF 2 begünstigt und zu seinem Erfolg beigetragen haben. "Die islamischen Länder befinden sich in einer ähnlichen historischen Situation wie viele andere Länder in der sogenannten Dritten Welt auch. Die Zeit der Loslösung von der politischen Fremdherrschaft ist noch lange nicht vorbei, und noch immer besteht eine wirtschaftliche und kulturelle Abhängigkeit von den ehemaligen Kolonialmächten. Mit der Ausrichtung auf den Westen ging eine Liberalisierung von Wirtschaft und Politik einher. Die sozialen Probleme verschärften sich jedoch, weil zwar die freie Marktwirtschaft, nicht aber das Gefüge sozialer Absicherungen übernommen wurden. Da der Parlamentarismus nicht in der Lage war, die Probleme zu meistern, schlug die anfängliche Euphorie für Fortschritt, Technik und Demokratie zunächst um in Verunsicherung, ob denn der eingeschlagene Weg der richtige sei, und schließlich in Ablehnung all dessen, was in irgendeiner Weise mit dem Westen in Verbindung gebracht werden konnte. Der Massentourismus tat dazu noch ein übriges.

Auf die durch die Verwestlichung bewirkte Selbstentfremdung folgte als Reaktion die Suche nach Identität, wobei die Rückbesinnung auf den Islam eine wesentliche Rolle spielte. Systemimmanent wird dies damit begründet, daß die dem Schöpfer sich widersetzenden Menschen zur Einsicht in ihre – die gesamte Menschheit ins Unglück stürzende – Widersetzlichkeit gekommen wären und sich deswegen den Grundlagen des Islams wieder zuwendeten. Aber auch für die Muslime, die dem Islam treu geblieben waren, bedurfte es der Verbesserung ihres Selbstwertgefühls. Sie mußten sich zur Wehr setzen gegen die im Zuge der Kolonialisierung um sich greifende Abwertung des Islams. Schließlich war der Islam zur Negativfolie gemacht worden, von dem sich das – christliche – europäische Bürgertum positiv abheben konnte. So wurde ‘das Muslimsein ... Bestandteil einer kulturellen Identität, die gegenüber der Kultur der Herrschenden zu verteidigen war.’ Das Bild vom Westen änderte sich dadurch grundlegend: Ehemals Inbegriff für Fortschritt und Ideal, erweckt es heute vor allem Assoziationen von Sittenzerfall und Dekadenz. Der Grund wird besonders darin gesehen, daß in der westlichen Gesellschaft Religion zur Privatsache degradiert wurde, wodurch frühere Wertvorstellungen ihren normativen Charakter verloren. [...] Hier nun wird von den Fundamentalisten der Islam als Richtschnur für sittliches Verhalten angegeben. Aber nicht nur das; auch Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sollen dem Islam entsprechen. Wenn in diesem Zusammenhang von Reislamisierung die Rede ist, so bedeutet das vor allem, daß die nach westlichem Muster ausgebildete Elite den Islam wieder für sich entdeckt und sich der Masse, die von ihrer Volksfrömmigkeit nie gelassen hatte, wieder annähert. Das ist mit ein Grund, weshalb fundamentalistische Ideen auch bei Ungebildeten auf Resonanz stoßen." (95)

Auf diese Weise kann eine Religion mit stark politisch-sozialer Ausrichtung (RF 2), welche die Wiederherstellung der Verhältnisse der Urgemeinde und damit die universale Geltung des göttlichen Gesetzes auf ihre Fahnen geschrieben hat, eine Konjunktur erfahren und auch zur Herrschaft gelangen.

Als Beispiel für eine "militant islamische Gruppe" wird die 1928 von Hasan al-Bannâ gegründete "Muslim Bruderschaft" vorgestellt. Deren Weltauffassung betont die "sozialen Werte des Islams", greift – in dem eben dargestellten Sinn – auf die "islamische Frühzeit" zurück und betrachtet den Islam als "alles umfassendes System, das überall und in jedem Fall Gültigkeit besitzt" (97ff.). In einem "islamischen Staat" soll "die islamische Rechtsgrundlage (sharî’a) Anwendung finden", genaue Bestimmungen werden jedoch nicht gegeben. "Auch in bezug auf Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung findet man bei Bannâ keine konkreten Angaben." (99)

Hinsichtlich der Organisation gibt es deutliche Parallelen zu anderen Spielarten des RF 2. "Im organisatorischen Aufbau folgte die Bruderschaft einem streng hierarchischen Prinzip: Hasan al-Bannâ führte den Sufi-Titel almurshid al-’âmm (‘allgemeiner Führer’), der auch die geistige Führerschaft implizierte. Ihm waren die Mitglieder durch die bai’a (Gefolgschaftsgelöbnis) zum absolutem Gehorsam verpflichtet." (100)[12] Dass sich ‘Muslim-Brüder’ durch Selbstlosigkeit und Opfermut hervortaten, kann daher nicht verwundern. Damit hängt auch eine hohe Gewaltbereitschaft zusammen.

Weitere Ausführungen zu fundamentalistischen Bewegungen (RF 2) in anderen Ländern geben Hinweise auf für unsere Zwecke wichtige Differenzierungen. Der RF 2 im allgemeinen und der islamische im besonderen kann sich sowohl zu einer "Massenpartei" (wie bei der Muslim-Bruderschaft) als auch zu einer "Kaderpartei" (wie bei der "Islamischen Gemeinschaft" in Pakistan) ausformen (103) – das hängt jeweils den von konkreten sozio-kulturellen Rahmenbedingungen ab. Und generell gilt: "Unterschiedliche Traditionen und Geistesgeschichte beeinflussen in hohem Maße die Akzeptanz für fundamentalistisches Gedankengut." (108)

Schauen wir noch kurz in eine programmatische Arbeit Hassan al-Bannâs, um die bisherigen Überlegungen zum islamischen RF 2 abzurunden.

Bezugstext: A. Meier: Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen. Wuppertal 1994.

Die Nation (umma) soll – gemäß dem im Bezugstext (180-185) abgedruckten Programm Einige Schritte zur praktischen Reform – "bei ihrem neuen Erwachen" ein "spirituelles Empfinden" beflügeln. "Die Nation, die fest entschlossen ist und sich auf den Weg des Guten begibt, wird mit Gottes Hilfe ihr ersehntes Ziel erreichen."

Zu den "wichtigsten Zielen der auf den wahren Geist des Islam gegründeten Reform" gehört nach al-Bannâ politisch die "Beendigung des Parteienwesens und Orientierung der politischen Kräfte der Nation in einer Richtung als einer einzigen Front". Das Recht ist dergestalt zu reformieren, "daß es mit der islamischen Gesetzgebung in allen ihren Ableitungen in Einklang steht"; wichtig ist auch die "Förderung des Geistes des Islam in den Ämtern der Regierung in dem Sinn, daß die Beamten insgesamt sich aus eigenem Empfinden den Lehren des Islam verpflichtet wissen". Das ist verbunden mit der "Aufhebung der Trennung zwischen privater und dienstlicher Sphäre". "Sämtliche Aktivitäten der Regierung müssen entsprechend den Bestimmungen und Lehren des Islam vollzogen werden." "Die Einteilung der Arbeitszeiten darf nicht mit den Gebetszeiten kollidieren."

In sozialer Hinsicht steht die "Gewöhnung des Volkes an die Respektierung der öffentlichen Sitten" an erster Stelle. Dazu gehört die "Erziehung der Frauen in den Regeln weiblichen Anstandes, um das flirt- und gefallsüchtige Verhalten zu unterbinden"; ferner die "Geschlechtertrennung an den Universitäten". Prostitution, Glücksspiel, Alkohol und Rauschmittel, Tanzlokale sollen verboten, Schauspielhäuser, Kinofilme, Lieder zensiert werden. Der Rundfunk soll "im Sinne einer vorzüglichen nationalen und moralischen Erziehung" verwendet werden. "Unordnung und Libertinismus" sind auch in "Ferienzentren" zu vermeiden. Cafébesucher sollen zu "nützlichen Beschäftigungen" angeleitet werden.

Wer "erwiesenermaßen in einem Punkt den Lehren des Islam zuwidergehandelt oder den Islam angegriffen hat", ist zu bestrafen. Die "Primarschulen auf den Dörfern" sind an die "Moscheen" anzuschließen. Der Religionsunterricht soll zum "Hauptfach in allen Schulstufen und -Typen einschließlich der Universitäten" werden; die "auswendige Beherrschung des Koran ist Voraussetzung für die Erlangung der wissenschaftlichen Diplome im Bereich der religiösen und philologisch-philosophischen Fächer". Wert gelegt wird auch auf die "besondere Pflege der arabischen Sprache in allen Stufen des Unterrichts". Die "Kleidung in der Nation" soll sukzessiv vereinheitlicht und die "ausländische Verfremdung in den Haushalten im Blick auf Sprache, Sitten, Kleidung, Ammen usw." beendet werden.

In wirtschaftlicher Hinsicht steht die "Organisation der Sozialsteuer [...] gemäß den Lehren der barmherzigen Scharia" an erster Stelle; diese Steuer soll vor allem "für die Bedürftigen, Armen und Waisen" verwendet werden. Der "Zins-Wucher" ist zu verbieten. "Die in ausländischer Hand befindlichen Wirtschaftsunternehmen müssen in das ausschließliche Interesse der Nation überführt werden." Überhaupt muß der "größtmögliche Nutzen für die Allgemeinheit" verwirklicht werden. "Unternehmungen im Bereich primärer Bedürfnisse" haben den Vorrang "gegenüber allen im Luxus-Bereich angesiedelten Projekten".

Bei der Umsetzung dieser "Botschaft" sind die Muslimbrüder "zu jedem Opfer bereit". "Auf Gott zählen wir, er genügt uns."

Diese islamische Gestalt des RF 2 ist sichtlich bestrebt, das soziale Leben der jeweiligen Nation möglichst vollständig im Sinn der eigenen religiösen Überzeugungen zu gestalten. Die gesamte Gesellschaft wird auf eine bestimmte religiöse ‘Wahrheit’ verpflichtet. Die "Gesellschaft in ihrer Totalität" wird "zum Gegenstand des Reformwillens gemacht" (176). Die Gesellschaft soll zu einer "authentischen religiösen Identität" (178) geführt werden.[13]

Dieser ‘totale’ politisch-soziale Gestaltungswille kennzeichnet, so möchte ich nun formulieren, den vollständigen RF 2. Davon sind Gestalten des RF 2 abzugrenzen, die in dieser oder jener Hinsicht unvollständig sind. Die oben behandelte amerikanische Version des RF 2 scheint in diesem Sinne unvollständig zu sein, denn hier begnügt man sich weitgehend damit, einzelne religiöse Überzeugungen im Rahmen eines demokratischen Systems durchzusetzen, z.B. in der Schule. Ein vollständiger RF 2 würde hingegen die Überwindung dieses Systems anstreben und so etwas wie einen christlichen ‘Gottesstaat’ anvisieren müssen, der auf den wahren Geist des Christentums verpflichtet ist – so wie der islamische ‘Gottesstaat’ auf den "wahren Geist des Islam". Jeder vollständige RF 2 propagiert die konsequente soziale Rückkehr zum ‘wahren’ Glauben, und das kann wiederum verbunden sein mit dem Postulat der Wiederherstellung der idealen Verhältnisse der Ursprungszeit.

Die klare Grundsatzorientierung ist freilich häufig verbunden mit einer "Flexibilitität und Dynamik auf der Ebene konkreter Programme und praktischer Orientierungen"; das hat den Vorteil, dass sich "Menschen und Gruppen mit ganz unterschiedlichen Motivationen" unter dem Schild einer Bewegung wie der Muslimbruderschaft zusammenfinden können (176). Ein RF 2 hat häufig den Charakter einer "Sammlungs-Bewegung", die "unterschiedliche gesellschaftliche und politische Interessen" in sich aufzunehmen vermag. (173)

Der vollständige RF 2 lässt sich – am Beispiel der islamischen Variante – durch folgende Punkte kennzeichnen (vgl. 169f.). Ziel ist "eine integristische, d.h. alle Lebensbereiche (Individuum, Gesellschaft, Staat) einschließende [...] Reform, die als Kritik gegen die herrschenden Verhältnisse vorgebracht und in unterschiedlichen Programmen konkretisiert wird". Die religiöse ‘Bewegung’ reagiert dabei auf "gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Krisen", in einigen Fällen "unter dem Eindruck der Konfrontation mit dominanten Einflüssen politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Art von außen in Form des (Neo)Kolonialismus". Die "Reaktion auf innere Krise und äußeren Druck" erfolgt im Rückzug auf die ‘wahre’ Religion und die zugehörige "Identität"; daraus erwächst das Programm, die ‘wahre’, d.h. im Einklang mit der jeweiligen Religion stehende Gesellschaftsordnung zu verwirklichen. Dabei kann ein Rekurs auf eine "ideale Frühzeit" vorgenommen werden. Sehr gut zum RF 2 passen religiöse ‘Entfremdungstheorien’, die eine Entfernung und ‘Entfremdung’ vom ‘wahren’ Ursprung annehmen, zu dem es nach langwierigen "geschichtlichen Entartungen" zurückzukehren gelte.

Die Reform der Gesellschaft erfolgt nach Maßgabe der jeweiligen religiösen ‘Wahrheit’, z.B. in der islamischen Variante "als Verwirklichung der Scharia als dem offenbarten Gesetz Gottes auf allen Lebensbereichen". Religiös begründete Normen werden "durch das Mittel der Politik" verwirklicht.

Der vollständige RF 2 entsteht in der Regel "’von unten’ und nicht 'von oben’", er kann dann aber auch "eine Rolle auf der offiziellen Ebene staatlicher Politik übernehmen, bis hin zur Funktion als staatstragender Begründungsideologie". Ein besonderer Fall liegt vor, wenn ein RF 2 "durch den revolutionären Sieg einer oppositionellen Bewegung des Volkes direkt als neue Staatsideologie etabliert wird".

Der Erfolg oder auch Mißerfolg eines vollständigen RF 2 muss stets im Zusammenhang mit der konkreten sozio-kulturellen Situation gesehen werden, der "Erfolg der Muslimbruderschaft als Massenbewegung" z.B. "im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen der Zeit in der Konfrontation einer traditionellen Gesellschaft mit den Einflüssen der modernen industriellen Gesellschaft [...]. Gesellschaftlich entwurzelte und wirtschaftlich verunsicherte Menschen und Gruppen fanden in der Betonung sozialer Werte und zwischenmenschlicher Solidarität, wie sie in der ‘Gemeinschaft‘ der Muslimbrüder angeboten wurden, Halt und Orientierung gegenüber dem strukturellen Individualismus, der aus den Prozessen der Modernisierung resultierte." (172)

Wichtig ist der Hinweis, dass man aus dem "islamistischen Programm der Rückkehr zum wahren Ursprung" nicht direkt auf eine "unschöpferisch-reaktionäre Verweigerung gegenüber gesellschaftlichem Fortschritt" schließen darf (172). Denn da der "wahre Ursprung" so etwas wie eine offene Formel darstellt, die mit unterschiedlichen konkreten ‘Inhalten’ (hier: vor allem Wertorientierungen) vereinbar ist, kann ein fundamentalistisches Reformprogramm eben auch im Einklang mit dem "Prinzip einer Modernisierung" stehen. Allerdings gilt dabei, dass nur diejenigen ‘Modernisierungen’ (in einem weiten Sinn des Wortes) akzeptiert werden, die mit den religiösen Überzeugungen vereinbar sind.


[10] "Der Koran bezeugt, daß Gott der alleinige Urheber der Welt, aber getrennt von ihr ist, und daß es keinen Gott außer ihm gibt." (92)

[11] "Durch Versenkung und Konzentration wird die Einheit mit Gott gesucht. Ist diese Einheit aber gefunden, braucht den Gesetzen nicht mehr Folge geleistet zu werden, denn die Gesetze dienen nur dazu, die Hinwendung zu Gott sicherzustellen." (92)

[12] Der auf der Ebene der Weltauffassung festgehaltene "Gleichheitsgrundsatz aller Gläubigen" wird also in der politischen Praxis "der gewünschten Effektivität und Durchschlagskraft und der dazu erforderlichen straffen Organisation geopfert." (93) Die ‘Rechtschaffenheit’ wird übrigens als "das fundamentalistische Äquivalent für die kommunistische ‘Linientreue’" (104) bezeichnet.

[13] Das schließt nicht aus, dass unter dem "Vorzeichen des arabischen Nationalismus" z.T. vergleichbare Reformprogramme entwickelt worden sind. "Auch die Programme des arabischen Nationalismus lehnen das zu Zersplitterung und Befriedigung egoistischer Interessen führende Parteienwesen der liberal-konstitutionellen Systeme zugunsten einer populistisch gefaßten strafferen und direkteren Willensbildung der politischen Gemeinschaft ab." (179) Obwohl es mehrere Entsprechungen zu "Anliegen des arabischen Nationalismus" gibt, z.B. in der "geforderten Arabisierung des schulischen Unterrichts", bestehe ich jedoch darauf, dass das gesamte Programm durch die Bindung an ein religiöses "Begründungssystem", an eine Form des RF 2 eine andere Qualität bekommt (179).

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