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1.4 Fazit zum religiösen Fundamentalismus

Ich bin ausgegangen von folgenden begrifflichen Festlegungen:

Religiöser Fundamentalismus im weiten Sinn (RF 1) = strenge, geschlossene religiöse Gläubigkeit.

Religiöser Fundamentalismus im engeren Sinn (RF 2) = RF 1 plus umfassender politischer Gestaltungswille.

Die Denkformanalyse unterscheidet zwischen der allgemeinen Denkform RF 1 bzw. 2 und deren konkreten Ausdifferenzierungen. Zum allgemeinen Weltauffassungstyp RF 1 gehört die Überzeugung, über eine ‘letzte’ oder ‘absolute’ religiöse Wahrheit zu verfügen. Mit diesem Grundelement hängt es zusammen, dass sich die Anhänger eines RF 1 als die ‘wahren’ Gläubigen betrachten und dass sie die konkurrierenden Formen der Religiosität als ‘unwahr’ oder ‘falsch’ ablehnen.

An der jeweiligen ‘absoluten’ Wahrheit muss um jeden Preis festgehalten werden, daher sind alle Ideen, welche für die ‘große Wahrheit’ bedrohlich sind oder sein könnten, zu verwerfen. Die entscheidende Grundlage für die Ablehnung ist immer der Konflikt mit einer ‘absoluten’ Wahrheit, über die man zu verfügen glaubt. Zur ‘großen’ Glaubensgewißheit gehört die apriorische Ablehnung aller damit in Konflikt stehenden Auffassungen. Jede Variante des RF 1 behandelt bestimmte Annahmen als Dogmen, an denen Kritik unzulässig ist.

Die gelockerte oder offene Gläubigkeit verfährt gegenüber der Wissenschaft, idealtypisch betrachtet, anders als die strenge oder geschlossene (RF 1). Wenn religiöse Grundannahmen mit ‘erfolgreichen’ wissenschaftlichen Theorien in Konflikt geraten, so versucht der ‘offene’ Gläubige, beide Größen miteinander in Einklang zu bringen, was de facto meistens darauf hinausläuft, dass der Glauben dergestalt refomuliert wird, dass er mit der Theorie, an der man ebenfalls festhalten möchte, nicht mehr in (offenkundigen) Konflikt gerät.

Aus der fundamentalistischen Denkform ergibt sich auch die ablehnende Haltung gegenüber ‘offizieller’ Bildung, sofern diese mit dem ‘wahren’ Glauben nicht im Einklang steht. Eine naheliegende institutionelle Konsequenz ist die Errichtung eigener Schulen, welche den ‘wahren’ Glauben vermitteln.

Unter welchen Bedingungen entwickelt sich aus einem RF 1 ein RF 2 und unter welchen nicht? Gewinnt eine Jenseitsorientierung die klare Oberhand, so kann sich kein RF 2 herausbilden. Strömungen hingegen, die bei dominierender Jenseits- dennoch eine relative Aufwertung der Diesseitsorientierung vornehmen, haben eben damit die Tür zum RF 2 geöffnet. Worauf sich der politische Gestaltungswille des RF 2 jeweils richtet, hängt von den konkreten sozio-kulturellen Rahmenbedingungen ab.

Wenn die gesellschaftliche Entwicklung gegen die eigene Wertorientierung verläuft, so tendiert der a-politische bzw. eingeschränkt politische RF 1 zum "Rückzug vor der ‘Kultur des Bösen’ in Gemeinden und Sekten, wo man zusammen mit anderen ‘Getreuen Gottes’ in der Gemeinde Bestärkung für die eigene Lebensweise sucht", während der RF 2 sich bemüht, "mit Hilfe politischer Strategien fundamentalistische Sichtweise und Lebenspraxis in die [...] Gesellschaft hineinzutragen, d.h. sich der ‘Bedrohung’ aktiv zu stellen und selber die Fäden in die Hand zu nehmen".

Der RF 2 kann der Errichtung eines Staates eine "religiöse oder messianische Bedeutung" beimessen. Eine entsprechende politische Tätigkeit gilt dann als Beitrag zum "Vollzug des Erlösungswerkes". Der Übergang vom RF 1 zum RF 2 kann z.B. durch eine ‘messianische’ Sicht der Geschichte erfolgen, welche die definitive Erlösung aus bestimmten weltlich-politischen Prozessen hervorgehen lässt. Eine solche Geschichtsauffassung führt dazu, dass es als Aufgabe der ‘wahren’ Gläubigen betrachtet wird, diese Prozesse aktiv voranzutreiben.

Der Übergang vom RF 1 zum RF 2 kann sich auch aus der Annahme ergeben, es habe in der "Ursprungszeit" einmal eine ‘intakte’ gesellschaftliche Ordnung gegeben, die mit dem göttlichen Willen im Einklang gestanden habe, und diese Ordnung gelte es – nach der langen Zeit der Entfernung und ‘Entfremdung’ vom göttlichen Willen – wiederherzustellen. Eine solche Annahme hat zur Folge, dass den ‘wahren’ Gläubigen eine politisch-gesellschaftliche (Haupt-)Aufgabe zugeschrieben wird, d.h. sie führt unmittelbar zur ‘Politisierung’ des zugrunde liegenden RF 1. Generell gilt: ‘Entfremdungstheorien’ mit politisch-gesellschaftlichen Implikationen sind – auf der Ebene der ‘ideellen’ Voraussetzungen – häufig entscheidend dafür, dass aus einem RF 1 ein auch in politischer Hinsicht ‘radikaler’ RF 2 wird.

Der ‘totale’ politisch-soziale Gestaltungswille kennzeichnet den vollständigen RF 2. Davon sind Gestalten des RF 2 abzugrenzen, die in dieser oder jener Hinsicht unvollständig sind. Jeder vollständige RF 2 propagiert die konsequente soziale Umsetzung des ‘wahren’ Glaubens, und das kann wiederum verbunden sein mit dem Postulat der Wiederherstellung der idealen Verhältnisse der Ursprungszeit.


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