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5 Kritik der fundamentalistischen Denkform

5.1 Thesen zum religiösen Fundamentalismus

Zum allgemeinen Weltauffassungstyp RF 1 gehört die Überzeugung, über eine ‘letzte’ oder ‘absolute’ religiöse Wahrheit zu verfügen. Die Anhänger eines RF 1 betrachten sich als die ‘wahren’ Gläubigen und lehnen die konkurrierenden Formen der Religiosität als ‘unwahr’ oder ‘falsch’ ab. Sie halten an der jeweiligen ‘absoluten’ Wahrheit um jeden Preis fest und verwerfen alle Ideen, welche für die ‘große Wahrheit’ bedrohlich sind oder sein könnten. Zur ‘großen’ Glaubensgewißheit gehört die apriorische Ablehnung aller damit in Konflikt stehenden Auffassungen. Jede Variante des RF 1 behandelt bestimmte Annahmen als Dogmen, an denen Kritik unzulässig ist.

Zum RF 1 gehört ausser dem absoluten Wahrheitsanspruch und dem Dogmatismus ferner eine kompromißlose Haltung bei der Umsetzung der ‘großen Wahrheit’. Beim RF 2 kommt schließlich der umfassende politische Gestaltungswille hinzu. Der Übergang von RF 1 zu RF 2 kann z.B. durch eine ‘messianische’ Sicht der Geschichte erfolgen, welche dazu führt, dass es als Aufgabe der ‘wahren’ Gläubigen erscheint, bestimmte politisch-soziale Prozesse aktiv und kompromißlos voranzutreiben.

Eine generelle Kritik der Denkform des religiösen Fundamentalismus (RF 1 und 2), die alle Konkretisationen mittreffen soll, muss zeigen, dass an der in der verstehenden Denkformanalyse rekonstruierten Haltung grundsätzlich etwas faul ist. Was könnte das sein?

Die faulen Stellen lassen sich auffinden, wenn wir uns die logische Struktur religiöser Fundamentalismen etwas genauer anschauen. Sie besteht, wenn ich recht sehe, aus vier Elementen.

(1) Der RF 1 geht, wie jede andere weltanschauliche Position, von bestimmten Annahmen aus.

(2) Von diesen Annahmen sind die Gläubigen sozusagen felsenfest überzeugt.

(3) Die Annahmen gelten als ‘absolute’ und ‘unumstößliche’ Wahrheiten.

(4) Die Lebensorientierung ist kompromißlos auf diese Wahrheiten ausgerichtet.

Ich erinnere an Annahmen aus dem Kontext des amerikanischen Fundamentalismus: ‘Ein allmächtiger Gott hat den Menschen erschaffen’, ‘Dieses Buch ist irrtumslos und unfehlbar, da Gott die Verfasser so inspiriert hat, dass sie jedes Wort ohne Fehler niederschreiben konnten’, ‘Christus wird bald wiederkehren’.

Die faule Stelle ist nun der direkte Übergang von 2 zu 3. Aus dem subjektiven Überzeugtsein von einer Annahme folgt nämlich niemals direkt ihre objektive Wahrheit. Ein ‘kriminalistisches’ Beispiel aus dem Alltagsbereich: Die Ehefrau kann noch so fest überzeugt sein, dass ihr Mann kein Bankräuber ist – es kann sich trotzdem herausstellen, dass er es doch ist.

Aus der Sicht der von mir vertretenen Variante offener Profanität ist es also eine oder sogar die Hauptschwäche des RF 1, dass bestimmten religiösen Annahmen (die von einer Konkretisation zur anderen wechseln können) der Status einer ‘absoluten’ und ‘umumstößlichen’ Wahrheit einfach deshalb zugebilligt wird, weil man felsenfest von ihnen überzeugt ist – es wird keine ‘Beweisführung’ vorgelegt, die nach den Kriterien profaner Vernunft geprüft werden könnte. Das subjektive Überzeugtsein wird also mit der objektiven Wahrheit vermengt, und zwar so, dass vom ersteren unmittelbar zur letzteren übergegangen werden kann. Das aber bedeutet: Der RF 1 ‘arbeitet’ mit einem logischen Gewaltstreich, der für die profane Vernunft unannehmbar ist. Eine ‘geglaubtes’ Prinzip erscheint als der einzig mögliche Ausgangspunkt und als einzig tragfähige Grundlage.

Die im ersten Arbeitsgang verstehend rekonstruierte Denkform RF 1 stellt sich damit aus profaner Sicht als eine ‘Illusionsmaschine’ dar, in die beliebige religiöse Annahmen und das subjektive Überzeugtsein von ihnen hineingegeben werden können, um am Ende als ‘absolute’ Wahrheiten, die nicht bezweifelt werden dürfen, gewissermaßen vergoldet herauszukommen. Diese Vergoldung ist vom Kritiker wieder abzukratzen. Übrig bleiben dann bestimmte religiöse Annahmen und das subjektive Überzeugtsein von ihnen.

Lässt man den logischen Gewaltstreich des unmittelbaren Übergangs vom subjektiven Überzeugtsein zur objektiven Wahrheit zu, so kann man im Prinzip jede beliebige religiöse Annahme in ein unbezweifelbares Dogma verwandeln. Hinter ‘Das ist eine absolute Wahrheit, an der nicht gezweifelt werden darf’ verbirgt sich, so könnte man in kritischer Akzentuierung sagen, der Wille, das subjektive Überzeugtsein von ... vor jedem Zweifel zu schützen und gegen jede Kritik zu immunisieren; dieser Wille richtet in einer argumentfreien Zone ein Verbotsschild auf, das Zweifel und Kritik als Frevel erscheinen lässt, und damit ist die Sache erledigt. Diese Kritik trifft auch RF 2, der ja RF 1 impliziert.

Für die Position profaner Vernunft, wie ich sie vertrete, ist die Denkform des religiösen Fundamentalismus (RF 1 und 2) also grundsätzlich defizitär. Das Defizit ließe sich beseitigen, wenn es gelänge, den Übergang vom subjektiven Überzeugtsein zur objektiven und absoluten Wahrheit durch Argumente zu stützen, die einer kritischen Prüfung nach den Maßstäben profaner Vernunft standhalten würden. Wird jedoch eine derartige Stützung durch Argumente versucht, so liegt eben damit bereits ein Element offener Religiosität und eine partielle Abkehr von der strikten geschlossenen Religiosität vor. Die ‘Reinform’ geschlossen-fundamentalistischer Religiosität sieht demgegenüber hier überhaupt kein Problem: Für sie ist der Übergang vom Überzeugtsein zum absoluten Wahrheitsanspruch völlig ‘selbstverständlich’, das ‘gute Gefühl’ im Zusammenhang mit der jeweilige religiösen Annahme fungiert hier gewissermaßen als Wahrheitsgarant.

Für meine Position profaner Vernunft (die, wie erwähnt, nicht auf dogmatische Weise anti-religiös ist) gibt es so etwas wie ein ‘Menschenrecht’ auf Zweifel und Kritik. Der religiöse Fundamentalismus läuft aber in den entscheidenden Punkten auf ein Zweifel- und Kritik-Verbot hinaus, auf eine Preisgabe kritischen profanen Denkens. Aufgrund des in genau diesem Sinn anti- bzw. vorkritischen Charakters ist diese Denkform, einschließlich aller denkbaren Konkretisationen, für mich unannehmbar. Der religiöse Fundamentalismus ist somit ein weltanschaulicher Gegner, der – ohne die Religionsfreiheit, an der grundsätzlich festgehalten wird, in Frage zu stellen – bekämpft werden muss. Eine solche Gegnerschaft auf der Ebene weltanschaulicher Auseinandersetzung schließt jedoch weder ein Verstehen der fundamentalistischen Denkform noch die Anerkennung der Krisenbewältigungsleistung aus, die ein konkreter Fundamentalismus in einer bestimmten Situation zu erbringen vermag. Eine solche Leistung hat aber z.B. auch der Nationalsozialismus erbracht, was uns nicht daran hindert, ihn grundsätzlich zu kritisieren.

Das Verhältnis ‘ideologischer’ Gegnerschaft zum religiösen Fundamentalismus betrifft noch weitere Punkte. So bezweifelt die hier zugrunde gelegte Position profaner Vernunft, dass eine Größe namens ‘absolute’ Wahrheit überhaupt greifbar ist. Dem wird die Auffassung entgegengestellt, dass wir auf allen Ebenen mit Annahmen ‘arbeiten’, die keiner letzten Begründung durch Rekurs auf eine ‘absolute’ Wahrheit fähig sind. Wir können jedoch die jeweiligen Annahmen jeweils kritisch prüfen und sie ‘Bewährungsproben’ unterziehen.

Aus dieser Auffassung ergibt sich auch, dass es als grundsätzlich verfehlt anzusehen ist, wenn bestimmten Annahmen der Status eines unbezweifelbaren Dogmas zugeschrieben wird. Dieses Vorgehen erscheint als logisch willkürliche Maßnahme, deren Hauptfunktion darin besteht, eine Annahme, die im Prinzip prüfbar und kritisierbar ist, gegen derartige Maßnahmen abzuschotten.

Damit hängen weitere Distanzierungen vom religiösen Fundamentalismus zusammen. Auch die Position profaner Vernunft geht von bestimmten Annahmen aus. Ihre Anhänger sind von diesen Annahmen, insbesondere von den Grund-Annahmen, überzeugt., jedoch nicht felsenfest überzeugt, denn dieser Typ des Überzeugtseins ist einer, der Zweifel überhaupt nicht aufkommen lässt, während hier der Zweifel geschätzt wird. Die Position der profanen Vernunft kennt keine ‘absoluten’ und ‘unumstößlichen’ Wahrheiten. Und sie kennt demnach auch keine

kompromißlose Ausrichtung der Lebensorientierung auf diese Wahrheiten. Die Grundüberzeugung von der menschlichen Fehlbarkeit läßt diesen Typ von Lebensorientierung nicht zu (wohl aber eine stabile Lebensorientierung).

Ferner ergibt sich aus der Hochschätzung profanen Wissens eine Gegnerschaft zu allen Weltauffassungen, welche erworbenes profanes Wissen bei der Beantwortung zentraler Fragen ignorieren und mit großer Geste vom Tisch fegen. Genau das aber ist für die fundamentalistische Denkform, wie wir sehen konnten, charakteristisch. Der religiöse Fundamentalismus ist jedoch nicht notwendigerweise generell wissenschaftsfeindlich, aber er ist es zumindest dort, wo wissenschaftliche Ergebnisse für die in Dogmen verwandelten religiösen Annahmen bedrohlich sind. Diese Ergebnisse werden dann bekämpft, unterdrückt, von den eigenen Leuten ferngehalten.

Besonders stark ist die weltanschauliche Gegnerschaft zum RF 2. Dort, wo ‘nur’ RF 1 vorliegt, wo Gläubige etwa eine ‘Gemeinde’ Gleichgesinnter bilden, die strikt nach ihren religiösen Überzeugungen leben – man denke an die Satmarer Chassidim –, bezieht sich die Abgrenzung letztlich auf den Punkt ‘Für mich wäre das nichts’, ‘Ich könnte einer solchen Weltauffassung nicht folgen und mich mit der zugehörigen Lebensform nicht arrangieren’. Diese Abgrenzung, die zu jeder positionsgebundenen Kritik gehört, ist durchaus damit vereinbar, dass die Existenz einer solchen Lebensform grundsätzlich bejaht und eventuell auch als kultureller Gewinn angesehen wird.

Beim RF 2 verhält sich die Sache anders, da dieser mit einem umfassenden politisch-sozialen Gestaltungswillen auftritt, der auch uns betrifft bzw. betreffen könnte.


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