5.2 Ausbau der FundamentalismuskritikDer weitere Ausbau der Kritik am religiösen wie auch am profanen Fundamentalismus soll wieder auf der Grundlage eines Textes erfolgen. Bezugstext: T. Meyer: Fundamentalismus. Die andere Dialektik der Aufklärung. In: Ders. (Hg.): Fundamentalismus in der modernen Welt. Die Internationale der Unvernunft. Frankfurt/Main 1989, S. 13-22.[18] Meyers Ausführungen sind einer Position profaner Vernunft verpflichtet, die in vielen Punkten mit meiner eigenen übereinstimmt.[19] Daher kann ich etlichen Thesen zustimmen. Auf der anderen Seite sind jedoch einige Dissenspunkte zu vermelden, die für die Fundamentalismusdebatte relevant sind. Zu Beginn geht Meyer kurz auf den amerikanischen Fundamentalismus ein. "Die modernistischen Positionen, gegen die sich der protestantische Fundamentalismus erhob, verkörperten das Eindringen des Geistes der Aufklärung in Theologie und Religion – die historische und literarische Bibelkritik, die kantianische Begrenzung der Religion auf die Rolle einer Begründung der Moral, die natürliche Evolution der Menschengattung und sogar der Religion selbst. Fundamentalismus war zuerst eine Reaktion auf den beginnenden Prozeß der Modernisierung von Religion. Ihr setzte die vom Modernismus provozierte fundamentalistische Gegenbewegung ihr trotziges Beharren auf unverzichtbare Wahrheiten entgegen, die jeder weiteren Diskussion und Entwicklung entzogen bleiben sollten." (13) Das ist hinsichtlich des protestantischen Fundamentalismus, der z.B. die "buchstäbliche Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift" behauptet und alle dem "Bibelglauben" widersprechenden Instanzen wie "moderne Theologie und Wissenschaft", für nichtig erklärt, völlig korrekt. In begriffsstrategischer und fundamentalismustheoretischer Hinsicht ist Meyers ‘Einstieg’ jedoch problematisch, da er den amerikanischen Fundamentalismus ohne weiteres als Modellfall behandelt. Das nämlich hat zur Folge, dass der Fundamentalismus generell als Reaktion auf "Modernismus" und "Modernisierung", speziell auf den "Geist der Aufklärung" begriffen wird. Nach meiner Denkformanalyse
erscheint diese Festlegung als unangemessen. Erstens tritt die Denkform des
religiösen Fundamentalismus (RF 1 und 2) schonvor der Moderne auf; daher
kann sie nicht generell als Reaktion auf diese begriffen werden. Und zweitens
ist selbst bei den ‘modernen’ Spielarten nicht ohne weiteres klar, ob wir
generell mit dem Schema ‘Eindringen des Geistes der Aufklärung – Gegenbewegung’
arbeiten können. Denken wir an die Satmarer Chassidim: Halten sie nicht einfach
in einer Zeit, die durch "Modernisierungen" unterschiedlicher Art
gekennzeichnet ist, an einer bestimmten Form von Religiosität fest? Sie
vollziehen gar keine "Gegenbewegung", die auf ein "Eindringen des Geistes der
Aufklärung" in die eigenen Reihen reagieren würde –
Kurzum, das Schema
‘Eindringen des Geistes der Aufklärung/Modernisierungsprozesse – Gegenbewegung’
gilt nur für einige Varianten des ‘modernen’ (religiösen)
Fundamentalismus. Zu diesen Varianten gehört allerdings neben dem
amerikanisch-protestantischen Fundamentalismus[20] auch die "mit dem Namen Khomeinis verbundene Islamismus-Renaissance im Iran";
hier liegt eine "Deutung des Islam" vor, die – auf ‘Modernisierungen’ diverser
Art reagierend – "den absoluten Wahrheitsanspruch der heiligen Texte und der
Überlieferung gegen jede moderne Kritik verficht, die moderne westliche
Wissenschaft verdammt und eine Einheit von Religion und Politik erstrebt, in
der die religiösen Gesetze und Regeln unmittelbare Grundlage der politischen
Verfassung und des öffentlichen Lebens sind"(14). Es wirkt "alles als Abfall
vom Willen Gottes [...], was Aufklärung und Moderne in die Welt gebracht
haben"; dabei können auch "Folter und Totschlag" als "Werkzeuge des Heils"
erscheinen (19) . Ich halte als erstes Ergebnis
fest: Meyers Konzept tritt zwar als allgemeine Fundamentalismustheorie
auf, erfasst aber de facto nur bestimmte Formen des modernen
Fundamentalismus, nämlich diejenigen, die dem Schema ‘Eindringen des Geistes
der Aufklärung – Gegenbewegung’ folgen. Darauf ist ein Satz wie der folgende
zugeschnitten: "Fundamentalismus erweist sich als unbestimmte Negation der
Grundlagen von Aufklärung und Modernisierung." (15) Die Hauptschwäche des
Meyerschen Ansatzes sehe ich nun darin, dass er zwei Ebenen ‘systematisch’
vermengt: die Ebene der weltanschaulichen Auseinandersetzung mit dem
Fundamentalismus im Sinn offener Profanität mit der Ebene der wissenschaftlichen
Fundamentalismusforschung, zu der u.a. die historische Forschung, die
Denkformanalyse und die soziologische Analyse gehören. Meyer bewegt sich höchst
kompetent auf der ersteren Ebene; seine Fehleinschätzungen kommen dadurch
zustande, dass er seinen positionsgebundenen Blick unmittelbar auch auf
der letzteren Ebene zur Geltung bringt. Das führt dazu, dass die
positionsgebundene Sicht der ‘modernen Entwicklung’ direkt als objektive
Wahrheit erscheint. Hier stecken zumindest Probleme. Das zeigt sich z.B., wenn
wir die Ergebnisse der Denkformanalyse berücksichtigen. Das, was der Position
profaner Vernunft als Fortschritt gilt, z.B. die Auflösung
traditioneller Geltungsansprüche, erscheint anderen Ideologien(+) gerade als Rückschritt
hinter eine bereits erreichte Wahrheit. Die – noch zu diskutierende –
Diagnose, hier werde eine "Regression in die Geborgenheit und Unmündigkeit"
(18) vollzogen, ist also nicht konsensfähig. Ordnen wir sie jedoch nicht einer
wissenschaftlichen Fundamentalismustheorie zu, sondern der weltanschaulichen
Auseinandersetzung, so ist sie völlig legitim – die Diagnose artikuliert, was
aus der Sicht eines bestimmten Überzeugungssystems an den diversen
Fundamentalismen auszusetzen ist. Ich möchte Meyers
Ausführungen nun explizit dieser Ebene zuordnen und dort, wo dies
erforderlich ist, entsprechend reformulieren. Die Position profaner Vernunft,
die auch ich vertrete, bejaht grundsätzlich den "Geist der Aufklärung"
und auch die von diesem "Geist" getragenen "Modernisierungen"[21]; das allerdings schließt Kritik an bestimmten Versionen von ‘Aufklärung’ und an
bestimmten ‘Modernisierungen’ keineswegs aus. Diese Position steht in
deutlicher Gegnerschaft z.B. zu einem religiösen Fundamentalismus, der
"unverzichtbare Wahrheiten" für sich reklamiert, die "jeder weiteren Diskussion
und Entwicklung entzogen bleiben" sollen. Gegnerschaft besteht letztlich zu
jeder "Negation der Grundlagen von Aufklärung und Modernisierung", sei diese
nun im Einzelfall als "Reaktion" entstanden oder nicht. Ganz dem "Geist" der Position
profaner Vernunft ist die folgende Passage verpflichtet: "Aufklärung und
Modernisierung haben in den zwei Jahrhunderten ihrer bisherigen Karriere nicht
nur Vorurteile, Barrieren und alle Verbindlichkeit von Traditionen
hinweggefegt, sondern ebenso gründlich die Gewißheiten, tröstenden Fiktionen,
Nischen, die aus machtvollem Bedürfnis in den Jahrtausenden zuvor geschaffen
wurden. Das Licht der aufgeklärten Vernunft löst mit der Zeit alle
Geltungsansprüche auf, die keine überzeugenden Gründe ins Feld führen können."
(15)[22] Zur Position profaner
Vernunft gehört auch die Hochschätzung des "Selbstdenkens und
Selbsthandelns", der "Selbstbestimmung", des "selbstverantworteten
Lebensentwurfs"; die Chance dazu wird durch die Problematisierung und teilweise
auch Auflösung eingespielter Traditionen erhöht – deswegen werden diese
Prozesse grundsätzlich bejaht (was wiederum mit der Kritik an bestimmten
‘Auflösungen’ vereinbar ist). Aufklärung und Modernisierung "haben durch die
Überwindung von Hierarchien und wohlerworbenen Rechten ebenso wie durch die
beispiellose Steigerung von Produktion und Konsum die Chance der Freiheit für
unvergleichlich mehr Menschen als jemals in der Geschichte der Menschheit real
gemacht." (15f.) Aufklärungs- und
Modernisierungsprozesse haben jedoch auch Kehrseiten, die durch folgende
Stichworte angedeutet werden können: "Einsamkeit", "Schutzlosigkeit",
"Beliebigkeit", "Schwinden der Ziele". Die Einschätzung dieser ‘negativen
Seiten’ ist ein entscheidender Punkt. Für einige profane Ideologíen(+),
insbesondere für den (bzw. viele Versionen des) Marxismus, sind die ‘negativen
Seiten’ nur eine Art "Zwischenspiel", das sein Ende finden wird, sobald "die
Versöhnung des Menschen mit sich selbst, mit der Natur und mit seinen
Mitmenschen" (16) erreicht ist. Für diese Positionen sind die "schmerzhaften
Doppeldeutigkeiten", z.B. von "Emanzipation und Einsamkeit", ein
vorübergehendes Übel, dessen endgültige Beseitigung absehbar ist. Andere profane Auffassungen,
darunter die von Meyer (und mir) vertretene, sind dagegen sehr viel
bescheidener. Sie glauben nicht an die Realisierbarkeit der ‘großen Utopie’.
Das bedeutet auch, dass die ‘negativen Seiten’ der Aufklärungs- und
Modernisierungsprozesse nicht mehr als bloßes "Zwischenspiel" abgetan werden
können, sondern dass wir sie als Dauerprobleme akzeptieren müssen, was
jedoch Teil-Lösungen dieser Probleme nicht ausschließt. Weitere ‘ideologische’
Differenzen treten angesichts der ökologischen Krise auf. Das "ganze Programm
von Aufklärung und Modernisierung" kann, insbesondere dann, wenn es mit
"unbescheidenen Verheißungen" und Hoffnungen auf "Erlösung" aufgeladen ist
(z.B. mit der Verheißung, durch Wissenschaft und Technik sei eine Art
paradiesischer Gesellschaftszustand erreichbar), durchaus dazu führen, dass die
"schieren Naturgrundlagen des Lebens der Gattung" (16) ruiniert werden. Einige
profane (und religiöse) Überzeugungssysteme leiten daraus eine generelle
"Anklage gegen die moderne Vernunft" (17) und insbesondere gegen die
Wissenschaft ab, während die hier vertretene Position für eine Reorganisierung
des besagten Programms plädiert, für Bescheidenheit und Augenmaß, für eine
Abkehr von den ‘großen Verheißungen’. Dort, wo "eingespielte Gleichgewichte aus
dem Lot geraten", fordert sie gerade nicht, "Leben, Denken, Glauben und
Handeln zurückzuführen auf tieferliegende Fundamente, die immerhin
jahrtausendelang Leben getragen und lebbare Deutungen und Tröstungen seines
Sinns und seiner Sinnlosigkeit ermöglicht haben" (16f.). Das, was andere als
"Bankrott der Vernunft" (16) schlechthin deuten, ist für uns nur der "Bankrott"
eines speziellen Konzepts von Vernunft, Aufklärung und Moderne, das
revidierbar und korrigierbar ist, ohne einen Weltuntergang bzw. die
"Apokalypse" heraufzubeschwören. Die ‘totalisierte’ Vernunftkritik führt
demgegenüber leicht zum Konzept einer Wiederkehr des Mythos. Meyers Ausführungen können
nur dann angemessen verstanden werden, wenn man berücksichtigt, dass er mit positionsgebundenen
Begriffen von Vernunft, Aufklärung und Moderne arbeitet, die mit den eigenen
Weltbild- und Wertannahmen ‘aufgeladen’ sind. Wir haben es mit Begriffen und
Aussagen zu tun, die der Ebene weltanschaulicher Auseinandersetzung zugehören,
und nicht etwa mit relativ neutralen historischen Aussagen über die
Entwicklung der "Moderne". Das führt zur Gegenüberstellung zwischen der
Bejahung der ‘richtigen’ Moderne und ihrer Verneinung, die als "Flucht aus der
Moderne" (17) aufgefaßt wird. Nicht nur religiöse Fundamentalisten, sondern
auch revolutionäre Marxisten und radikale Vernunftkritiker erscheinen als
weltanschauliche Gegner, welche diese oder jene Form der "Flucht aus der
Moderne" propagieren und, zumindest in gewisser Hinsicht, von der "Feindschaft
gegen die Substanz von Aufklärung und Moderne beseelt" (17) sind. Diese
"Substanz" ist dabei von vornherein im Sinne der Position ‘gemäßigter’ profaner
Vernunft aufgefasst – während bei der Lektüre durchaus der Eindruck entsteht,
Meyer beziehe sich auf eine Einsicht in die objektive "Substanz von
Aufklärung und Moderne". Er verschleiert, dass er sich auf der Ebene
weltanschaulich-ideologischer Auseinandersetzung (mit von vornherein
beschränkter Akzeptanz) bewegt. Auf der Ebene der
(wissenschaftlichen) Fundamentalismustheorie ist allerdings festzuhalten, dass
diejenigen modernen Fundamentalismen, die dem Schema ‘Eindringen des
Geistes der Aufklärung – Gegenbewegung’ folgen, ganz unterschiedliche Gestalten
annehmen können, "je nach Zeit, Ort und Vorgeschichte des auslösenden
Widerspruchs" (17). Zu jeder konkreten Form von ‘Modernisierung’ kann es einen
darauf reagierenden Fundamentalismus geben. Andererseits ist, wie schon
erwähnt, die fundamentalistische Denkform erheblich älter als die Aufklärung,
und deshalb ist es nicht sinnvoll, den Fundamentalismus schlechthin als "die
eigentliche Dialektik der Aufklärung" (17) zu bestimmen und als Anti-Modernismus
aufzufassen. Wohl aber gilt, dass der moderne Fundamentalismus "die
Kehrseite der Modernisierung selbst" (22) ist. Alle Fundamentalismen sind
Versuche, ‘große’ Krisen dieser oder jener Art zu bewältigen, und in der
Moderne bilden sich moderne Fundamentalismen heraus, welche auf moderne
Großkrisen antworten, von denen sich sagen lässt, dass in ihnen "Zumutungen und
Kosten der Moderne ihre Chancen und Segnungen hoffnungslos übersteigen" (18).
Eine typische Konstellation ist etwa eine "von außen" erfolgende
"ökonomisch-technische Modernisierung, deren Früchte entgegen allen
Versprechungen und Erwartungen nur einer winzigen Modernisierungselite zugute
kommen", und die zugleich die "kulturelle Identität" zerstört, "die für die in
diesem Prozeß zugleich Entwurzelten und Betrogenen der einzige Halt war". (19)[23] In derartigen Konstellationen kann ein ‘passender’ Fundamentalismus als
"einzige Hoffnung" erscheinen. Für die fundamentalistische
Denkform günstig ist auch eine Konstellation, in der an eine "drohende
Apokalypse der technisch-industriellen Modernisierungsmächte" (19f.) geglaubt
wird, die mit ‘normalen’ Mitteln nicht mehr aufzuhalten sei. Dann liegt es nahe,
der "parlamentarischen Demokratie und liberalen Öffentlichkeit", der
"Wissenschaft", den "Parteien", dem "vom Prinzip Kompromiß regierten
Pluralismus" das Vertrauen zu entziehen und zur fundamentalistischen Auffassung
überzugehen, "daß das Werk der Rettung im Namen des Lebens keinen Aufschub
durch die langsam mahlenden Mühlen der Institutionen der offenen Gesellschaft
verträgt und der Ausstieg aus den Wissensformen, Lebensweisen und
institutionellen Garantien der Moderne als einziger Weg aus der Gefahr noch
offen ist." (19f.) Die historische
Gesamtsituation stellt sich (im Licht der Position profaner Vernunft)
folgendermaßen dar. Aufklärungs- und Modernisierungsprozesse erhöhen einerseits
Freiheitschancen, andererseits lösen sie traditionelle Formen von "Halt,
Geborgenheit, Orientierung oder Tröstung" tendenziell auf. Dadurch wird immer
wieder die Neigung begünstigt, entweder zu ‘alten’ "Gewißheiten und Tröstungen"
zurückzukehren oder ‘neue’ "Gewißheiten und Tröstungen" zu entwickeln, die zwar
"machtvolle Bedürfnisse" befriedigen, aber einer Kritik im Sinne "aufgeklärter
Vernunft" nicht standhalten. Die mit den Modernisierungsprozessen verbundenen
Kehrseiten bringen so immer wieder die "Versuchung zum fundamentalistischen
Rückfall" (17) hervor, d.h. die Versuchung, eine vorgebliche ‘absolute’ und
‘unerschütterliche’ Wahrheit zu akzeptieren, um eine ganz feste
Lebensorientierung zu erlangen. "Die Flucht in die selbstgemachte Gewißheit
und alles, was sie verspricht, findet in der modernen Welt heute ebensoviele
Anlässe und Gründe wie in den Gesellschaften, die einer widerspruchsvollen
Modernisierung von außen unterworfen sind." (17f.) Für die Position offener
Profanität gilt: Wir müssen damit leben (lernen), dass die "Moderne" ein
"Janusgesicht" besitzt, und wir sollten bestrebt sein, der dauerhaft
bestehenden Versuchung zu widerstehen, zur fundamentalistischen Denkform
(sei es nun in religiöser oder in profaner Gestalt) zu greifen, etwa in der
illusionären Hoffnung, die ‘negativen Seiten’ ein für allemal beseitigen zu
können. Meyers weltanschaulicher
Gegner ist der moderne Fundamentalismus in all seinen Gestalten. Ihm
werden entgegengehalten: die "Zumutungen des Selberdenkens, der
Eigenverantwortung, der Begründungspflicht, der Unsicherheit und der Offenheit
aller Geltungsansprüche, Herrschaftslegitimationen und Lebensformen". Die
Fundamentalismen hingegen wollen "Sicherheit und Geschlossenheit", und
finden sie in "absoluten Fundamenten", deren Absolutheit jedoch
"selbsterkoren", dogmatisch gesetzt ist. "Vor ihnen soll dann wieder
alles Fragen Halt machen, damit sie absoluten Halt geben können, genauso wie
vor ihnen alles andere relativ werden soll, damit sie der Relativierung
entzogen bleiben. Die Argumente, Zweifel, Interessen und Rechte desjenigen, der
sich nicht auf ihren Boden stellt, sollen nicht mehr berücksichtigt werden."
(18)[24]
Für die Position profaner
Vernunft ist das eine "Regression in die Geborgenheit und Unmündigkeit", eine
"willkürliche Abschließungsbewegung", die "absolute Gewißheit, festen Halt,
verläßliche Geborgenheit und unbezweifelbare Orientierung durch irrationale
Verdammung aller Alternativen zurückbringen soll" (18). Fundamentalismustheoretisch
darf jedoch die Einschätzung des weltanschaulichen Gegners nicht ohne weiteres
das theoretische Modell liefern. Die Ebenenvermengung, die bei Meyer deutlich
zu erkennen ist, lässt den irreführenden Eindruck entstehen, die Unsicherheit
und Offenheit aller Geltungsansprüche z.B. sei allen ‘modernen’ Menschen zwar
bekannt, aber einige würden vor dieser Einsicht flüchten. ‘Verbindlich’ ist die
besagte ‘Einsicht’ aber nur für die Anhänger bestimmter offener
Weltanschauungen (profaner und religiöser Art), während die geschlossenen
Weltanschauungen von Anfang an auf der anderen Seite stehen. Aus ihrer Sicht
liegt daher gar keine "willkürliche Abschließungsbewegung" vor. In politischer
Hinsicht lehnt die Position profaner Vernunft alle direkt aus der
fundamentalistischen Denkform hervorgehenden Konzepte ab, z.B. das der
"unmittelbaren Einheit von Politik und Religion" (15). Selbst wenn eine
‘absolute’ Wahrheit religiöser oder profaner Art ‘existieren’ sollte, können
wir mit den Mitteln profaner Vernunft nicht definitiv erkennen, wie sie
beschaffen ist. Solange aber nicht auf kognitiv relevante Weise zwischen den
ganz unterschiedlichen Angeboten vermeintlich ‘absoluter’ Wahrheiten
entschieden werden kann, sollte man darauf verzichten, eine ‘radikale’ und –
vor allem für die ‘Andersgläubigen’ – folgenreiche Politik zu betreiben, die
sich auf eine solche Position stützt. Aus der Position profaner
Vernunft ergibt sich eine grundsätzliche Bejahung der "Grundlagen und Praxis
von Demokratie und Menschenrechten" (15) sowie eine positionsgebundene
Begründung dieser Wahl, die ich kurz skizzieren möchte. Wäre eine ‘absolute’
Wahrheit, die politisch relevant ist, mit den Mitteln profaner Vernunft
definitiv erkennbar, so wäre das allgemeine fundamentalistische Politikkonzept,
das auf kompromißlose Umsetzung der ‘absoluten’ Wahrheit zielt, das einzig
sinnvolle. Wenn es eine politisch relevante ‘absolute’ Wahrheit gibt und
wenn sie auch erkennbar ist, so müssen politische Entscheidungen im Sinn dieser
‘großen Wahrheit’ und von denen, die sie erkannt haben, getroffen werden – es
wäre verfehlt und geradezu absurd, die politischen Entscheidungen etwa von Mehrheiten
abhängig zu machen. Die Zustimmung der Betroffenen wäre dann irrelevant;
die ‘letzte’ Wahrheit darf niemals zur Disposition gestellt werden. Nicht das,
was die Mehrheit will, ist hier maßgebend, sondern das, was der Sache nach
richtig ist; das aber ergibt sich aus dem Wissen über die jeweilige ‘absoluten’
Instanz. Pluralismus und Demokratie sind daher ‘natürliche’ Gegner jedes
politisierten Fundamentalismus, wenngleich diese Gegnerschaft unter bestimmten
sozio-kulturellen Rahmenbedingungen verdeckt bleiben kann. Wer nicht bereit
ist, z.B. demokratische Prinzipien im Konfliktfall für die ‘politische
Wahrheit’ zu opfern, muss als verblendet gelten (und entsprechend behandelt
werden). Der politische ‘Absolutist’ betrachtet die politischen Gegner mit
Vorliebe als solche Menschen, die eigentlich in der Lage sein müßten, die
‘Wahrheit’ zu erkennen, dies aber aus ‘Verstocktheit’ und dergleichen nicht
leisten können oder wollen; das aber legt nahe, die Gegner zu bestrafen bzw. zu
therapieren, wenn sie nicht ‘einsichtig’ sind.[25] Da eine derartige Erkenntnis
einer ‘absoluten’ Wahrheit aber bislang nicht gelungen und wahrscheinlich auch
nicht möglich ist, ist die nicht-absolutistische Demokratie vorzuziehen, die
einen Wettstreit konkurrierender politischer Angebote zulässt und das
Fortbestehen dieses Wettstreits sichert. "Politischer Fundamentalismus ist
Metapolitik, die aus einer absoluten Wahrheit von oben oder von innen her das
Recht beansprucht, den Regeln der Demokratie, des politischen Relativismus, der
Unantastbarkeit der Menschenrechte, den Gesetzen der Toleranz, des Pluralismus
und der Irrtumsfähigkeit enthoben zu sein." (21f.) Wer dem erwähnten Verständnis
von Demokratie folgt, hat eben damit das für viele Menschen nach wie vor
faszinierende Endziel, die jeweilige Gesellschaft ganz im Sinn einer
bestimmten Weltanschauung (religiöser oder profaner Art) auszugestalten,
preisgegeben. Hier gilt vielmehr: Da wir für unsere eigene Position keinen
Absolutheitsanspruch mehr erheben, wollen wir auch keine ‘totale’ Formung –
deren Kehrseite immer eine große Säuberung ist – mehr, denn diese ist
nur sinnvoll, wenn an eine ‘absolute’ politische Wahrheit geglaubt wird. Die Kritik an
‘absolutistischer’ Politik und ihrer Gleichschaltungstendenz sollte
jedoch nicht als Kritik an jeglicher Verbindung von Ideologie(+) und Politik
auftreten, denn eine solche Verbindung ist unvermeidlich. Konkrete
Politik ist immer an einen bestimmten weltanschaulichen Rahmen gebunden. Zu
bekämpfen ist also nur die Rückkehr des (postulierten) Absoluten in die
Politik. Jede soziale Bewegung kann
eine fundamentalistische Konkretisation erfahren, und sie erfährt sie genau
dann, wenn das Syndrom ‘absoluter Wahrheitsanspruch – Dogmatisierung –
kompromißlose Umsetzung’ zum Zuge kommt. Innerhalb der "grün-alternativen
Bewegung" ist dies z.B. dann der Fall, wenn eine Haltung vorliegt, "die ein
vermeintlich den Diskursen der Vernunft überlegenes Wissen von den Gesetzen und
Bedingungen des Lebens zur Grundlage von Kompromißlosigkeit oder sogar Gewalt
in der politischen Auseinandersetzung macht" (15). In terminologischer Hinsicht
ist hier freilich Vorsicht geboten, denn nicht jeder, der "innerhalb der Grünen
Partei" als Fundi bezeichnet wird, ist auch ein Fundamentalist in
unserem Sinn. Noch ein Dissenspunkt. Nach
Meyer gilt: Die Moderne kann "dem, der nach Halt, Geborgenheit, Orientierung
oder Tröstung fragt, nach einer verwirrenden Fülle hinhaltender
Zwischenbescheide am Ende nichts anderes bieten als stets die Rückverweisung
auf ihn selbst. Sie ist für Ansprüche dieser Art nicht zuständig. Sie setzt für
die Entfaltung ihrer Möglichkeiten eben jene Ich-Stärke,
Orientierungssicherheit und Selbstgewißheit voraus, deren zuverlässige und
breitenwirksame Ausbildung sie ohne Absicht fortwährend untergräbt." (17) Das sehe ich anders. Um das
darzulegen, muss ich etwas ausholen. Jede Ideologie(+) beruht auf spezifischen
Weltbild- und Wertannahmen. Diese Annahmen lassen sich stets zu einem (mehr
oder weniger) kohärenten ‘System’ ausgestalten, insbesondere auch zu einem
‘System’ der Handlungs- und Lebensorientierung, das Antworten auf
‘Lebensfragen’ gibt, die sich anläßlich der unterschiedlichen Formen des Realitätsdrucks
(Sterblichkeit, Leidanfälligkeit, Verhaltensunsicherheit usw.) stellen. Der von mir vertretenen
Position geht es, wie Meyer, erstens um Verteidigung der "Moderne", d.h.
hier: des Anspruchs "auf Begründung, Pluralismus, Toleranz, Relativismus,
Demokratie und Menschenrechte" (20). Dabei sind übrigens weitreichende
Kooperationen zwischen offener Profanität und offener Religiosität möglich. Zweitens geht es mir um Weiterentwicklung
der "Moderne" gemäß der Position profaner Vernunft und ihres Modells von
Lebensorientierung ohne ‘höhere Weihen’. Es ist dabei um den Einklang zwischen
Weltbild und Lebensorientierung zu tun, aber jenseits der ‘großen’
(Heils-)Versprechen religiöser und profaner Art – und ohne die Existenz einer
Privatsphäre, die vor öffentlicher Reglementierung geschützt ist, wieder
aufzuheben. Drittens plädiere ich für
einen Umgang mit anderen Kulturen und Gesellschaften, der einerseits die
eigenen Prinzipien nie preisgibt oder verheimlicht, der aber andererseits eine
Offenheit für Konzepte zeigt, die von den von uns gegenwärtig favorisierten abweichen.
Gesellschaften mit starker religiöser Bindung muss zugebilligt werden,
Ordnungsmodelle zu entwickeln, die zu einer solchen Bindung passen; besonders
unterstützt werden aber sollten aus unserer Sicht die Tendenzen offener
Religiosität in einer solchen Gesellschaft. Die geschlossen-fundamentalistische
Religiosität hat die Tendenz, konkurrierende Strömungen offener(er)
Religiosität auszuschalten und die eigenen Auffassungen mit Zwangsgewalt
durchzusetzen. Viertens gilt für den Umgang mit sozialen Bewegungen innerhalb
der eigenen Kultur und Gesellschaft, dass generell mit einer Anfälligkeit für
die fundamentalistische Denkform gerechnet werden muss und dass daher immer
Aufmerksamkeit gegenüber fundamentalistischen Tendenzen gefordert ist. Es war
und ist verführerisch, der eigenen Position ein Erkenntnisprivileg
zuzuschreiben, sich selbst als Sprachrohr und Anwalt einer höheren Instanz zu betrachten,
sei diese nun der Wille Gottes, das große Gesetz der Geschichte, das große
Gesetz des Lebens usw. Fundamentalistische Elemente in sozialen Bewegungen gilt
es zu erkennen und zurückzudrängen. Ihnen ist entgegenzuhalten, dass wir in
allen Bereichen menschlichen Lebens ohne ein bombenfestes Fundament, ohne eine
‘absolute’ Instanz auskommen müssen, und das heißt auch, dass wir mit Annahmen
arbeiten müssen, die keiner ‘zwingenden’ letzten Begründung fähig sind. Daher
wird eine Denkform, die mit höheren Instanzen irgendwelcher Art rechnet, welche
sich ‘offenbaren’, so dass bestimmte Menschen als ‘Organe’ der höheren Instanz
fungieren, abgelehnt – zumindest solange, bis ‘Beweise’ für die Existenz einer
solchen höheren Instanz vorgelegt werden, die den Ansprüchen profaner Vernunft
genügen. Dogmen aller Art sind dazu da, nicht ohne weiteres respektiert
zu werden. Fundamentalismusanfällig sind
grundsätzlich alle Dimensionen menschlichen Lebens. Auch in der Wissenschaft
selbst, die doch viele Elemente für eine allgemeine und spezielle
Fundamentalismuskritik bereitstellt, können sich fundamentalistische
Denkstrukturen festsetzen. Und das Stichwort ‘Wissenschaftsgläubigkeit’ kann auch
auf solche Tendenzen bezogen werden. Für die Denkformananalyse und
-kritik ist es ferner wichtig, solche Denkstrukturen ausfindig zu machen, die,
obwohl nicht schon selbst fundamentalistisch, so doch fundamentalismusbegünstigend
sind. Dazu gehören Einschätzungen vom Typ ‘Die Situation ist so schlimm, dass
nur noch eine große Wende helfen kann’. Wenn wir unterstellen, dass die
Diagnose nicht schon insgeheim im Licht einer bestimmten fundamentalistischen
Sichtweise und des zugehörigen Therapievorschlags erfolgt (was allerdings
meistens der Fall ist), so ist klar, dass eine solche Diagnose geradezu dazu
auffordert, das ‘Spiel’ im fundamentalistischen Sinn fortzusetzen: ‘Die große
Wende kann erfolgen, wenn wir uns auf die große Wahrheit
(zurück)besinnen’, wie diese auch im einzelnen gedacht sein mag. Die Position profaner
Vernunft bestreitet nicht, dass es Situationen geben kann, in denen nur
noch eine große Wende, z.B. eine soziale oder politische Revolution, zu helfen
vermag, aber sie besteht darauf, dass entsprechende Diagnosen nicht ohne
kritische Prüfung akzeptiert werden sollten. Und bei solchen Prüfungen stellt
sich dann häufig heraus, dass die Diagnose erstens stark ‘dramatisiert’ ist und
dass sie zweitens bereits von der fundamentalistischen Denkform gesteuert ist,
die dann im nächsten Schritt den ‘radikalen’ Therapievorschlag unterbreitet. So
kann z.B. ein gravierendes soziales Problem als nur durch eine große
Revolution lösbar dargestellt werden, obwohl tatsächlich Möglichkeiten sozialreformerischen
Eingriffs bestehen, die allerdings in der Diagnose systematisch
unterschlagen werden. Politisierte Fundamentalismen
religiöser und profaner Art arbeiten an der kompromißlosen Umsetzung der
‘großen Wahrheit’. Das läuft auf ein Alles-oder-Nichts-Denken hinaus, für das
Reformen, Kompromisse usw. nichtig und sozusagen ‘uneigentlich’ sind.
All das, womit sich die anderen beschäftigen, trägt nur nur dazu bei, den
Zustand der ‘Entfremdung’ (die immer als Entfremdung von der jeweiligen
absoluten Wahrheit gedacht ist) zu verfestigen, während es doch darauf ankommt,
diesen Zustand definitiv und ein für allemal zu überwinden. Beim ‘Kampf’ gegen
Fundamentalismen aller Art ist der ‘Kampf’ gegen dramatisierende Darstellungen
der jeweiligen Krisen also von erheblicher Bedeutung. Wer an die
dramatisierende Diagnose glaubt, ist damit schon zumindest halb für die
fundamentalistische Therapie gewonnen. Zu den beliebten
dramatisierenden Diagnosen gehört es auch, wenn Hinweise auf tatsächliche
Schwächen z.B. der parlamentarischen Demokratie aufgebläht werden zur These von
der ‘wesenhaften’ Unfähigkeit der Demokratie zur Lösung der entscheidenden
Probleme. Auch solche Diagnosen erfolgen zumeist bereits im Licht einer
fundamentalistischen Denkform, für die eine Mehrzahl von politischen Parteien,
eine unabhängige Gerichtsbarkeit usw. von vornherein Steine des Anstoßes sind. Eine der folgenreichsten
dramatisierenden Diagnosen der Gegenwart ist die Auffassung, Wissenschaft und
Vernunft hätten sich durch bestimmte Entwicklungen grundsätzlich diskreditiert,
so dass die Krisenbewältigung durch ein ganz anderes Denken erfolgen
müsse. Mit einem konsequenten
Fundamentalisten kann es auch grundsätzlich keinen offenen Dialog geben,
in dem alle Beteiligten eine Wandlung erfahren können, sei diese nun
größerer oder kleinerer Art. Der vermeintliche Besitz der ‘absoluten’ Wahrheit
lässt nur einen Scheindialog zu, der ganz auf das Ziel ausgerichtet ist,
den anderen zur ‘Einsicht’ zu bewegen, während die eigene Position jeder
Problematisierung durch den anderen entzogen bleibt. Geäußerte Einwände prallen
am ‘Dogmatiker’ einfach ab, der sie nicht ernstzunehmen vermag. Für ihn ist
alles schon entschieden, und der Sinn des Dialogs reduziert sich für ihn
darauf, anderen die Chance der ‘Bekehrung’ zur ‘Wahrheit’, des Austritts aus
der ‘Unwahrheit’ einzuräumen. Und mißlingt das
‘absolutistische’ Projekt, so kann der Fundamentalist die Schuld dafür immer
denen zuschreiben, die wider besseres Wissen in der ‘Unwahrheit’ verharren und
weiter dem ‘Bösen’ anhängen. Man hört öfter, die
‘manichäische’ Zweiteilung der Welt in ein Reich des Lichts und ein Reich der
Finsternis sei charakteristisch für fundamentalistisches Denken. Da bin ich
anderer Ansicht. Ich behaupte, dass wir alle in gewisser Hinsicht Manichäer
sind, während dem Fundamentalismus nur eine spezifische Form von Manichäismus
zugeordnet werden kann. Ich begründe das unter Rückgriff auf die These von der
unaufhebbaren Weltanschauungs-Gebundenheit und die damit zusammenhängende
Einsicht, dass mit jeder Ideologie(+) auch Gegnerschaften verbunden sind. Das aber lässt sich durchaus
auch in manichäischer Terminologie formulieren. Für jede weltanschauliche
Position gilt: Wir repräsentieren das Licht, die Gegner hingegen die Finsternis,
wir sind die Guten, die anderen die Bösen. In dieses Schema
können wir auch unsere eigene Position einordnen. Für die Position der profanen
Vernunft stellen die Fundamentalisten aller Art die hauptsächlichen
weltanschaulichen Gegner dar, manichäisch gesprochen: die Repräsentanten der
Finsternis und des Bösen. Gibt es auf dieser Ebene
überhaupt einen Unterschied zum Manichäismus der Fundamentalisten? Durchaus.
Die Fundamentalisten, die sich im Besitz einer ‘absoluten’ Wahrheit wähnen,
leiten auch den Unterschied zwischen Licht und Finsternis, Gut und Böse aus
dieser Instanz ab, während es sich im Fall der profanen Vernunft einfach um
eine Metaphorik handelt, die auf das unvermeidliche Verhältnis
weltanschaulicher Gegnerschaft bezogen wird. Damit hängt noch ein weiterer
Punkt zusammen: Während die Fundamentalismen die Welt in Freund und Feind
einteilen, wobei unter ‘Feind’ der Wertlose zu verstehen ist, der die
ofenkundige Wahrheit leugnet, findet wir im Einzugsbereich der profanen
Vernunft nur einen sozusagen gemäßigten Manichäismus, der die Welt in Freund
und Gegner unterteilt. Weltanschauliche Gegnerschaften aber sind
unvermeidlich. So wie ich nicht glaube, dass
immer nur die anderen die Manichäer sind, glaube ich auch nicht, dass wir den
Fundamentalismen generell ein einfaches, intellektuell anspruchsloses
Weltbild als unterscheidendes Merkmal zuordnen können. Hier wird übersehen,
dass jede Ideologie(+) intellektuell anspruchslose Versionen
hervorbringen kann und dass sie das auch muss, wenn sie massenwirksam
sein will. In diesen Bereich gehört auch die ‘Vereinfachung’ relativ komplexer
Parteiprogramme zu einprägsamen simplen Botschaften, die auch diejenigen
ansprechen, die keine Parteiprogramme lesen. Ausserdem gibt es gerade im
Kontext des profanen Fundamentalismus komplexe, theoretisch anspruchsvolle
Konzepte, die in intellektueller Hinsicht faszinierend sind – obwohl oder
vielleicht auch weil sie von der fundamentalistischen Denkform getragen sind. Und schließlich ist zu
bedenken, dass wir uns bereits im Feld weltanschaulicher Auseinandersetzung
befinden, wenn wir z.B. bestimmten Formen des religiösen Fundamentalismus ein Weltbild
dürftigster Simplizität zuschreiben. Es ist ja durchaus denkbar, dass es
eine ‘absolute’ Wahrheit gibt, die zudem ganz einfach ist. Wäre das der
Fall, so hätten die Anhänger eines solchen einfachen Weltbildes recht, und die
‘Intellektuellen’, die komplexe Konstruktionen favorisieren, hätten unrecht.
Für die Position profaner Vernunft gilt allerdings: Fundamentalistische
Weltbildangebote sind häufig auf nachweisbare Weise zu einfach; sie
verwandeln subjektives Überzeugtsein in objektive Wahrheit, sie unterdrücken
Tatsachen, welche die eigene Auffassung gefährden, sie vernachlässigen
Handlungsalternativen usw. Übervereinfachte Weltbilder
und Handlungsorientierungen sind aber eben aufgrund ihrer extremen Einfachheit
attraktiv, da mit ihrer Hilfe Orientierungsprobleme aller Art rasch gelöst
werden können. Wer den Angeboten Glauben schenkt, wer bestimmten ‘Autoritäten’
folgt, hat damit eine (vermeintlich) krisenfeste Weltsicht mit diversen
Überlegenheitszusagen gewonnen; genau das ist es, wonach viele Menschen
verlangen. Der fundamentalistische ‘Markt’ bietet hier die vielfältigsten
Angeboten, die allesamt in der Lage sind, z.B. das Sicherheitsverlangen zu
befriedigen oder auf andere Weise vom Realitätsdruck zu entlasten Fundamentalistische Angebote
können insbesondere dann massenwirksam werden, wenn weite Teile der Bevölkerung
stark verunsichert sind, durch welche Prozesse auch immer. Zu den
Aufgaben einer Politik,die fundamentalismusverhindernd sein will, gehört daher
immer auch, dafür zu sorgen, dass soziale Veränderungen, wenn sie denn erfolgen
müssen, einigermaßen sozialverträglich erfolgen. Ich füge noch einige
abrundende Überlegungen zur bislang formulierten Fundamentalismuskritik hinzu.
Ein Wertsystem, in dem Individualität und Individuation einen hohen Rang
einnehmen, steht grundsätzlich quer zu autoritär-hierarchischen
Organisationsstrukturen und zur Einforderung einer absoluten Hingabe an
die Gemeinschaft, wie sie für Fundamentalismen charakteristisch ist. Für die
Position profaner Vernunft hängt der Übergang zu Fundamentalismen immer auch
mit einer überforderten Orientierungskompetenz zusammen. In einer
solchen Situation kann es als Lösung empfunden werden, sich eine ‘absolute’ und
übervereinfachende Orientierung von einer ‘übergeordneten’ Instanz vorgeben zu
lassen – die schlichte Form des Manichäismus. Da die Anforderungen an die
‘Orientierungskompetenz’ des einzelnen und die existentiellen Verunsicherungen
in Zukunft vielleicht noch zunehmen werden, kann auch die Zahl der
‘Überforderten’ ansteigen; auf die ‘Überforderten’ aber sind die
fundamentalistischen Angebote zugeschnitten. Kurzum, die Anziehungskraft des
Fundamentalismus bzw. einzelner Fundamentalismen wird in Zukunft möglicherweise
noch zunehmen. Das wiederum schließt nicht aus, dass in einzelnen Gegenden der
Welt aufgrund spezifischer Rahmenbedingungen die Zurückdrängung
fundamentalistischer Denkmuster und Bewegungen gelingt. Es ist eine verständliche und
legitime Reaktion auf die Kolonialisierung und überhaupt auf die Fremdbestimmung,
wenn man sich auf die eigene Geschichte besinnt, fremde Werte abschütteln und
eigene Wege gehen will. Dabei spielt auch die Rückbesinnung auf die eigene
religiöse Tradition häufig eine große Rolle. Für die Position profaner Vernunft
ist es hier allerdings von entscheidender Bedeutung, dem Glauben
entgegenzutreten, es gebe nur eine Möglichkeit der Rückbesinnung
auf und der Anknüpfung an das Eigene, das durch die fremde Herrschaft
Verschüttete. Tatsächlich gibt es immer mehrere Möglichkeiten, während
Fundamentalismen gern ihr jeweiliges Programm als einzige Alternative
darstellen. Der politisierte Fundamentalismus (RF 2/PF 2) ist nie der einzige
Weg. Die Revitalisierung einer Religion kann auch anders erfolgen. |
[18] Dieser kleine Aufsatz ist eine Art Zusammenfassung des Buches: Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne (Reinbek 1989), das ich ebenfalls berücksichtigt habe, in diesem Fall allerdings ohne Einzelnachweise. [19] Das gilt z.B. für die Anknüpfung an Überlegungen des Kritischen Rationalismus. "Der wissenschaftliche Erkenntnisprozeß könne sich unter modernen Bedingungen nur als ein offener, pluralistischer Diskussionsprozeß vollziehen, in dem prinzipiell unabschließbar Beobachtungen, Erfahrungen, Argumente und theoretische Grundannahmen miteinander konfrontiert werden. Nur die unabschließbare Bewegung der offenen und offen bleibenden Kritik kann zu einer fortschreitenden Erkenntnis führen, die an keiner Stelle an einen festen Punkt gelangt, aus dem sich unbestreitbare Gewißheiten ableiten lassen." (14) Daraus ergibt sich eine grundsätzliche Skepsis gegenüber allen Positionen, die ein absolutes Wissensfundament für sich reklamieren; und die kritische Prüfung der jeweiligen Argumentation hat bislang noch stets zeigen können, dass die ‘großen’ Geltungsansprüche sich nicht auf eine ‘zureichende’ Weise begründen lassen. [20] Hier wendet sich eine "Tradition provinzialistischer Aufklärungsverweigerung [...] aggressiv gegen die intellektuellen Träger der Moderne", denen "zugleich die Schuld für alle Leiden und Unsicherheiten der neuen Zeit" (19) aufgebürdet wird. [21] Festgehalten wird an der Grundidee, "durch Verbreitung von Wissenschaft und wirtschaftlichem Fortschritt, von Information und Bildung, von Demokratie und Menschenrechten das Leben der Menschen zu erleichtern und vor Willkür zu schützen" (21). [22] "Noch im entlegensten Winkel der Erde hat der Prozeß der Modernisierung mit der unwiderstehlichen Macht des unabweisbaren Zweifels und des überlegenen Könnens die alten Selbstverständlichkeiten eingelebter Tradition und überlieferter Lebensform irreversibel unterhöhlt." (20) [23] Modernisierungsprozesse können in einer Gesellschaft stattfinden, ohne "zu Demokratie und gesicherten Menschenrechten" zu führen, "aber zu stolzem Wohlstand für winzige Modernisierungseliten" (21). [24] Hier ist natürlich der Unterschied zwischen RF bzw. PF 1 und 2 von Bedeutung. Es macht eine erhebliche Differenz, ob ein Fundamentalismus mit umfassendem politischem Gestaltungswillen vorliegt oder nicht. Ein Fundamentalismus, der "an die Macht gelangt und zum Herrn über Frieden, Leben und Tod für viele wird" (20), ist die gefährlichste Form. Das heißt jedoch nicht, dass die anderen Ausformungen immer ungefährlich sind. [25] Ich halte es für sinnvoll, zwischen ‘einfacher’ Gegnerschaft und Feindschaft folgendermaßen zu unterscheiden: Aus ‘einfacher’ Gegnerschaft, die sich in politischer Hinsicht daraus ergibt, dass unterschiedliche und z.T. auch gegensätzliche politische Konzepte vertreten werden, wird für denjenigen, der an eine ‘große’ politische Wahrheit glaubt, Feindschaft. Während politische Gegner sich als prinzipiell gleichrangig ansehen, aber auf dieser Grundlage glauben, jeweils das bessere, sachlich überlegene Konzept zu vertreten, führt die Sichtweise des ‘Absolutisten’ zu einer Hierarchisierung: Der Gegner wird zum Feind, der niedriger steht als ich, der die offenkundige Wahrheit verleugnet. Dem korrespondieren unterschiedliche Kampfformen. Im ersten Fall bin ich bestrebt, mein Konzept so weit wie möglich durchzusetzen und das des Gegners zurückzudrängen, den ich jedoch respektiere und dessen Existenz ich prinzipiell begrüße. Im zweiten Fall wird der zum Feind gewordene Gegner nicht respektiert; da er in irgendeiner Form das ‘Böse’ repräsentiert, muss er entweder zum ‘Guten’ bekehrt oder aber ‘ausgeschaltet’ werden – bis hin zur physischen Vernichtung. Das so verstandene Verhältnis der Feindschaft ist oft einseitig: Während B für A ein ‘verräterischer’, ‘bösartiger’ Feind ist, kann A für B weiterhin ein ‘einfacher’ Gegner bleiben. |