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5.3 Exemplarische Analyse eines fundamentalistischen Textes

Ausgewählt wurde ein 1969 gehaltener Vortrag, den wir der islamischen Spielart des RF 2 zuordnen können.

Bezugstext: A. Schariati: Zur westlichen Demokratie. Botschaft der Islamischen Repubhlik Iran (Hg.): Islamische Renaissance, Nr. 3, Bonn 1981.

"Ist die demokratische Regierungsform die bestmögliche Regierungsform für eine Gesellschaft?" (7) – eine wichtige Frage. Schariati geht es vorrangig um die Lage in den "Entwicklungsländern". Gleich zu Beginn wirft er – demokratiekritisch – die Frage auf, "ob die Beachtung der Stimmen der einzelnen Bürger in einem Gesellschaftssystem, in dem Fortschritt und Führung einer unbeweglichen und ignoranten Gesellschaft die erklärten Grundsätze sind, nicht die Führung und den Fortschritt selbst verhindern würde?" (7)

Die allgemeine, im Grunde alle "Entwicklungsländer" betreffende Situation wird folgendermaßen gedeutet: Die "jetzige Zustand" ist "dekadent", "Denkweise, Sprache und Religion" müssen grundsätzlich verändert, die "Gesellschaft" muß "revolutioniert", die "verwerflichen Traditionen" müssen "entwurzelt" werden. Revolutionäre "Führung" ist erforderlich, um den entscheidenden "Fortschritt" erreichen zu können (7) .

Diese Diagnose erfolgt offenkundig bereits im Licht einer fundamentalistischen Denkweise (RF 2). Schariati hat ein Bild der ‘wahren’ Gesellschaft, ohne es an dieser Stelle auszumalen. Die fundamentalistische ‘Wahrheitspolitik’ ist darauf ausgerichtet, die ‘wahre’ Gesellschaft herbeizuführen. "Fortschritt" bedeutet hier ‘Annäherung an diese ideale Gesellschaft’. Da ein solcher Fortschritt nur durch "sprunghafte Veränderungen" erreichbar ist, ist er auf eine strenge "Führung" angewiesen, welche die Umwälzung der Gesellschaft auch gegen die Interessen der "einzelnen Bürger" durchsetzt, die den "dekadenten Gesellschaftsverhältnissen" verhaftet sind.

Auf der Grundlagenebene findet das uns bereits bekannte Spiel statt: Für die religiösen Annahmen, die der ‘Wahrheitspolitik’ zugrunde liegen, wird ein Anspruch auf ‘absolute’ Wahrheit erhoben, der uneingelöst bleibt; die Annahmen werden dogmatisiert und damit vor Zweifel und Kritik geschützt; die ‘Wahrheitspolitik’ soll kompromißlos umgesetzt werden. Unerkannt bleibt, dass das fundamentalistisch-absolutistische Spiel mit beliebigen religiösen (und dann auch profanen) Annahmen spielbar ist. m Prinzip kann jede Annahme zur ‘absoluten’ Wahrheit erklärt, dogmatisiert und dann kompromißlos umgesetzt werden.

‘Wahrheitspolitik’ hängt, was die Begründung anbelangt, immer in der Luft; stets wird von der Ebene des subjektiven Überzeugtseins unzulässigerweise zur Ebene der objektiven Wahrheit übergegangen. Und die Fragwürdigkeit der ‘theoretischen’ Grundlagen überträgt sich auch auf die Diagnose des jetzigen Zustands. Für den ‘Wahrheitspolitiker’ ist jede Gesellschaft, die nicht mit den eigenen Dogmen in Einklang steht, notwendigerweise "ignorant", "dekadent" und ‘unwahr’. Das ergibt sich direkt aus der Denkform des politisierten Fundamentalismus (RF 2). Und beim "Fortschritt" hin zum ‘wahren’ Zustand beansprucht der ‘Wahrheitspolitiker’ immer die "Führung". Besteht die ‘theoretische’ Grundlage aber bloß aus unausgewiesenen Behauptungen, so erscheint auch die unmittelbar von ihr abhängige Diagnose als purer Dogmatismus.

Ein Blick auf Schariatis Formulierungen stützt diesen Befund. Alles hängt davon ab, dass "der Grundsatz der Führung und des Fortschritts in Politik und Regierung gelten soll" (7f.), der dabei stets im Sinne eines bestimmten, hier: eines islamischen Fundamentalismus gedeutet ist. Wenn diese Entscheidung gefallen ist, dann ergibt daraus einerseits die Diagnose der bestehenden als einer "unbeweglichen und ignoranten Gesellschaft" sowie andererseits die Therapie der Revolutionierung nach dem Programm der ‘Wahrheitspolitik’.

Aus dem fundamentalistischen Ansatz ergibt sich auch direkt, wie wir ja an anderer Stelle bereits sehen konnten, die Ablehnung der "demokratischen Regierungsform": Wer über eine ‘absolute’ Wahrheit zu verfügen glaubt, die politisch relevant ist, muss diese Wahrheit für wichtiger halten als die "Beachtung der Stimmen der einzelnen Bürger". Daher darf auch die revolutionäre "Führung" nicht davon abhängig gemacht werden, dass die Bürger sie wählen; entscheidend ist allein, dass sie im Einklang mit der ‘absoluten’ Wahrheit stehen – das ist jedoch eine bloße Behauptung.

Nach der ausführlichen Analyse der ersten Denkschritte Schariatis, die ihn als ‘reinen’ Dogmatiker im Sinne des politisierten Fundamentalismus zeigen, ist zu erwarten, dass er im folgenden typische Register fundamentalistischer Demokratiekritik zieht. Dabei interessieren besonders die möglicherweise anzutreffenden Denkfehler, die in den Bereich der Ideologie(-) verweisen.

Revolutionäre ‘Wahrheitspolitiker’ befinden sich häufig in folgender Situation: "die Bürger einer Gesellschaft würden wohl kaum jemandem ihre Stimme geben, der gegen die Traditionen, Gewohnheiten, Überzeugungen und Sitten aller Bürger dieser Gesellschaft ist, sie verändern, bekämpfen und durch fortschrittliche Traditionen ersetzen möchte, die sie weder kennen noch damit einverstanden sind." (8) Der politisierte Fundamentalist (RF 2/PF 2) hat damit jedoch keine größeren Probleme: Wenn die Menschen mehrheitlich gegen die ‘politische Wahrheit’ und ihre Vertreter sind, dann müssen sie eben durch die revolutionäre Führung zu ihrem Glück gezwungen werden; am Ende werden sie dann erkennen, dass die Führung gut, weise und ‘wahrhaft’ fortschrittlich gehandelt hat. Nebenbei bemerkt: Schariati zieht gar nicht die Möglichkeit in Betracht, die später für die ‘iranische Revolution’ relevant werden sollte, nämlich dass ein ‘wahrheitspolitisches’ Programm fundamentalistischer Art in einer großen Krise auch für die Bevölkerungsmehrheit attraktiv werden kann. Vernachlässigen wir jedoch diesen Fall, und folgen wir Schariatis Argumentation.

Charakteristisch für diese ist eine Theorie vom ‘Wesen’ der Demokratie. Die Demokratie ist seiner Ansicht nach grundsätzlich auf die "Erhaltung des Status quo" (8) beschränkt. Wenn die "Erhaltung und Festigung des Systems" als höchstes Ziel angesehen wird, so muss daher die Demokratie als die "höchste und beste Regierungsform" eingeschätzt werden, "denn das Volk wird denjenigen wählen, der ihm am besten gefällt, d.h. denjenigen, der die gleiche Vorstellung und Überzeugung hat, sich auf die Traditionen stützt, sie schützt und den Weg beschreitet, den alle oder die Mehrheit gehen" (8). Der revolutionäre ‘Wahrheitspolitiker’ will jedoch über den Status quo, den er als "dekadent" ansieht, hinaus; daher ist für ihn die demokratische Regierungsform gerade nicht die höchste und beste, mehr noch: sie ist zu bekämpfen, da sie die Durchsetzung der ‘politischen Wahrheit’ verhindert.

Dass der ‘Wahrheitspolitiker’ eine straffe revolutionäre Führung, welche die ‘Wahrheit’ durchsetzt, als die beste Regierungsform betrachtet, ist klar. Jetzt geht es nur darum, ob die geäußerte Kritik der Demokratie sachlich berechtigt ist oder nicht. Schariati zeichnet ein Bild einer ganz dem "Prinzip der Aufrechterhaltung" verpflichteten, also ‘wesenhaft’ zu größeren sozialen Veränderungen unfähigen Regierungsform. Dieses Bild befindet sich nicht im Einklang mit dem historischen Wissen über demokratische Regierungsformen. Im Rahmen von Demokratien sind, wie die Erfahrung lehrt, sehr wohl größere soziale Reformen möglich, ja, Demokratien können sogar, wie etwa das Beispiel des Nationalsozialismus zeigt, per Mehrheitsbeschluß für ihre Selbstabschaffung votieren. Davon, dass Demokratien unausweichlich dem "Prinzip der Aufrechterhaltung" verpflichtet sind, d.h. gar nicht anders können als die "geltenden gesellschaftlichen Verhältnisse" zu konservieren, kann demnach überhaupt keine Rede sein.

Schariati vertritt also eine Demokratietheorie, die in empirischer Hinsicht fehlerhaft ist. Wieso ist diese verfehlte Theorie für ihn so wichtig? Ganz einfach: Weil sie perfekt zu seiner Version des politisierten Fundamentalismus passt. Der ‘Wahrheitspolitiker’ Schariati sieht unter den Bedingungen der demokratischen Regierungsform keine Chance; die Mehrheit ist gegenwärtig eher konservativ eingestellt, die Bürger zeigen wenig Neigung, einer Gruppe zu folgen, die "schnelle und revolutionäre Veränderungen" wünscht. Für einen Fundamentalisten ist die Mehrheitsmeinung jedoch nie verbindlich, und er ist in der Lage, für jede denkbare Konstellation eine Legitimation zur ‘Machtergreifung’ zu ersinnen. Angestrebt werden dabei häufig solche Legitimationen, die nicht offen zu erkennen geben, dass eine ‘Machtergreifung’ durch eine sich selbst als Vertreterin ‘absoluter’ Wahrheit ausgebende Gruppe anvisiert ist. Schariatis Theorie ist genau von dieser Art. Erstens wird die objektive Notwendigkeit revolutionärer Veränderungen (dogmatisch) postuliert; zweitens wird der Demokratie (dogmatisch) die Bindung an das "Prinzip der Aufrechterhaltung" zugeschrieben; daraus folgt, dass die Demokratie abzulehnen ist, weil sie ausserstande ist, die objektiv notwendigen Veränderungen durchzuführen. "Die Mehrheit bekommen nur diejenigen, die als Bewahrer des herrschenden Zustandes auftreten." (8)

Die verfehlte Theorie der Demokratie wird akzeptiert, weil sie zu Schariatis ‘wahrheitspolitischem’ Konzept passt. Sie rechtfertigt die Abschaffung demokratischer Strukturen, und sie ermöglicht es dadurch, Kritiker der ‘Wahrheitspolitik’ auszuschalten. Und das alles mittels einer einfachen, vermeintlich objektiven Argumentation: ‘Die Demokratie muss durch die revolutionäre Führung ersetzt werden, weil sie wesenhaft ausserstande ist, die notwendigen größeren Veränderungen herbeizuführen.’

Diejenigen, die für die Demokratie sind, werden dann mit "Kindern" verglichen, die vorziehen, was "für ihr Vergnügen sorgt und ihnen viel Freiheit läßt", sie lehnen dasjenige Vorgehen ab, "das mit ihnen streng verfährt, sie auf eine feste Ordnung verpflichtet und ihnen neue Erkenntnisse und Verhaltensweisen aufzwingt und ständig neue Wege aufzeigt" (8). Die Befürworter der revolutionären Führung erscheinen demnach als Erwachsene, die endlich erkannt haben, was gut für sie ist.

Dieses Eltern-Kind-Modell läuft darauf hinaus, dass die erwachsenen Bürger zu weisungsbedürftigen Kindern degradiert werden, mit denen eine ‘wahrheitsverpflichtete’ Führung streng verfahren muss, um sie auf den rechten Weg zu bringen. Dieses autoritäre Modell bricht jedoch zusammen, wenn der ‘absolute’ Wahrheitsanspruch in der Luft hängt.

Der ‘Wahrheitspolitiker’ meint zu wissen, dass das Führungsprinzip seiner couleur das "beste Führungssystem für die Menschen" (9) ist. "Wer sollte am besten den Führer wählen?" (9) – wenn er überhaupt gewählt wird, denn es liegt ja nahe, ihn als von oben erwählt zu betrachten, so sollten ihn natürlich nur diejenigen wählen, die über das vermeintlich objektive Wissen um "die beste Führung" verfügen. Die "Mehrheit" kommt hier als Instanz nicht in Frage. In diesen Kontext gehört auch die Behauptung, "daß die fortschrittlichen Denker in allen Gesellschaften von der Mehrheit der Bevölkerung weder erkannt noch beachtet werden" (10) .

Da die Wahrheitsfrage für den Fundamentalisten immer schon zugunsten der eigenen Position entschieden ist, kann er eine Opposition zwischen verantwortlicher guter und demokratischer schlechter Regierung aufbauen. Die gute Regierung ist der ‘großen Wahrheit’ verpflichtet und daher bestrebt, "das Volk in die beste Richtung zu weisen und die gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die bestehenden Traditionen bestens zu verändern", die schlechte Regierung bemüht sich demgegenüber nur, "die Stimmen des Volkes auch weiterhin für sich zu erhalten" (9).

Insbesondere für die "Entwicklungsländer" wird so ein striktes Entweder-Oder konstruiert, was darauf hinausläuft, dass allein die fundamentalistische ‘Wahrheitspolitik’ mit strenger "geistiger Führung" (10) für fortschrittsfähig erklärt wird. Wenn die Regierung an die "Stimmen der Mehrheit" denkt, so kann sie sich nach Schariati eben nicht "die Veränderung des Volkes und die schnelle Entwicklung des Lebensstandards, der Wirtschaft und der Kultur zum Ziel setzen" (10) – ein völlig ungedeckter Scheck.

Die Konsequenzen einer solchen Demokratiekritik sind immens. Finden Überlegungen dieser Art breiteAkzeptanz, so ist damit der Weg für selbsternannte Führer frei, die "Entwicklungsländer" kompromißlos nach Prinzipien zu gestalten, die sie durch – teils undurchschaute, teils durchschaute – Dogmatisierung zu jeglicher Kritik enthobenen ‘großen Wahrheiten’ gemacht haben.

Mir geht es mit dieser Kritik keineswegs darum, einer ‘einfachen’ Übertragung ‘westlicher’ bzw. ‘nördlicher’ Demokratiemodelle auf andere Gesellschaften das Wort zu reden. Selbstverständlich ist es möglich, dass etwas, was ‘bei uns’ recht gut funktioniert, unter anderen Rahmenbedingungen überhaupt nicht oder eher schlecht funktioniert. In solchen Fällen ist es sinnvoll, z.B. neue Demokratiemodelle zu entwickeln, die auf die veränderten Rahmenbedingungenzugeschnitten sind. Für den Fundamentalisten Schariati ist hingegen eine solche Suche von vornherein verfehlt. Er meint ja, erkannt zu haben, dass eine "besondere Entwicklungsstufe der Gesellschaft" vorliegt, "die sich mit der Demokratie nicht vereinbaren läßt" (10). Diese ‘Erkenntnis’ ist freilich durch ein dogmatisches Vorgehen gewonnen worden, welches die zur eigenen Position passenden Ergebnisse erzwingt.

Gerade dort, wo Schariati genauere Auskünfte gibt, ist der fundamentalistische Dogmatismus deutlich sichtbar, der nur die suggestive Alternative zwischen strenger Führung und demokratischer Beibehaltung des Status quo kennt. "Beispielsweise in der Gesellschaftsordnung der Stämme und Nomaden ist der erste Schritt zur Entwicklung und zum Fortschritt die Seßhaftmachung der Stämme, damit die Landwirtschaft, die den Unterbau für den Beginn der Zivilisation bildet, in Angriff genommen werden kann." (10f.) Unterstellen wir der Einfachheit halber mit Schariati, dass die "Seßhaftmachung der Nomadenstämme" ein unumgänglicher Schritt ist, wenn man diese Gesellschaften ‘entwickeln’ will. Der eigentliche Trick besteht nun in der Art und Weise, wie sich der Fundamentalismus als einzige Alternative darstellt. Wäre die Demokratie unauflöslich dem "Prinzip der Aufrechterhaltung" verpflichtet, so müßte der Demokrat notwendigerweise als "Bewahrer der Traditionen des Nomadentums und der Viehzucht" (11) auftreten. Das aber beruht auf einer fehlerhaften Theorie. In Wahrheit kann sich natürlich auch ein Demokrat für den "Beginn der Landwirtschaft" aussprechen und mehrheitsfähige Lösungsvorschläge zu entwickeln versuchen. Da Schariati derartige Möglichkeiten einfach durch einen dogmatischen Machtspruch ausgeschaltet hat, kann er das Konzept der revolutionären Führung als das einzige darstellen, das Entwicklung und Fortschritt durchzusetzen vermag.

Zum religiösen Fundamentalismus (RF 1 und 2) gehört eine strenge, ‘traditionelle’ Moralauffassung, die innerhalb der fundamentalistischen Denkform als definitiv ‘wahre’ Moral gilt. Sie kann daher, wie es bei Schariati geschieht, auch als Maßstab an die ‘westlichen’ Gesellschaften angelegt werden, die dann zwangsläufig als moralisch dekadent erscheinen. Als Alternative leuchtet die strenge, ‘wahrheitsverpflichtete’ Führung auf, die all diese Verfallserscheinungen nicht zulassen würde. "Die Verfallserscheinung in den Ländern mit dem Liberalismus und der westlichen Demokratie ist ein Zeichen der Schwäche dieser Ordnung bei der Führung der Gesellschaft." (12)

Zu den Verfallserscheinungen rechnet Schariati etwa die Existenz der "Clochards" in Frankreich. "Sie schädigen das Ansehen des französischen Volkes auf übelste Weise." (12) Die strenge Führung würde hier aufräumen ... Ein weiteres Dekadenzmerkmal sind die "Nachtlokale und Bordelle", die sich "in schwindelerregender Geschwindigkeit" ausbreiten (13). Die strenge Führung würde sie schließen, aber würde es ihr gelingen, z.B. die Prostitution ganz auszurotten? Ein weiterer Punkt ist die hohe Zahl der "Verbrechen".

Schariati baut seine Gesellschaftskritik noch weiter aus. Er fragt: "Wer hat in Wirklichkeit den Nutzen von der Freiheit und den individuellen Freiheiten?" Und die Antwort lautet: "wer die Macht besitzt, hat den meisten Nutzen davon. Er nutzt sie aus." (13) Die Mächtigen manipulieren "die Freiheit in ihrem Interesse" und die "freien Stimmen" (14). Im "Westen" gibt es zwar keine "Manipulation der Wählerstimmen" (14) durch einfache Fälschung und Wahlbetrug. Es geschieht aber etwas viel Schlimmeres. "Die verfälschte Stimmung erzeugt man Tag und Nacht offen, aber mit größtem Wissen und Können in den Köpfen und Herzen des Volkes, ohne daß die Betroffenen sich dessen bewußt sind." (14)

Worin besteht nun diese Verfälschung? Jeder Bürger ist "wirklich frei, seine Stimme dem zu geben, der ihm am besten gefällt, der seine Gedanken beschäftigt, der sein Vertrauen besitzt"; somit erhalten diejenigen ein "Mandat", die sich mittels "Reklame" "in den Köpfen der Menschen und in ihren Herzen einen Platz erobert hatten. Und das ist die natürliche und legale Verfälschung!" (15) Als "Verfälschung" gilt die Massenbeeinflussung durch Wahlwerbung dem ‘Wahrheitspolitiker’ wohl deshalb, weil er das gesamte Wahlgeschehen als Ablenkung von der ‘großen Wahrheit’ durch Verführung begreift. In der westlichen Demokratie sind die Menschen "frei bei der Stimmabgabe, aber versklavt durch die Stimmungsmache. Man hat ihre Meinung durch Geld beeinflußt und ihnen dann die Freiheit gelassen, ihre Stimme nach eigenem Gutdünken abzugeben!" (16)

Die westliche Demokratie erscheint somit, und das ist ein häufig anzutreffendes Merkmal fundamentalistischer Demokratiekritik, als ‘totalitäres’ Manipulationssystem, in dem alles von denen, die "Geld und Macht" haben, gesteuert wird. Die ‘Wahrheitspolitik’ verspricht demgegenüber die Aufhebung der Sklaverei und die Herstellung ‘wahrer’ Freiheit, ohne allerdings zu bemerken, dass ihre Position auf der willkürlichen Dogmatisierung bestimmter Annahmen beruht, die nun das Projekt der Herstellung der ‘großen Einheit’ durch Ausschaltung alles Widersprechenden legitimiert.

Wir stossen hier auf einen weiteren Aspekt der Theorie vom (negativen) ‘Wesen’ der Demokratie. Der unbestreitbare Einfluß von "Geld und Macht" auf politische Prozesse wird hochstilisiert zu einem Bild ‘totaler’ Manipulation, dem dann der schlichte ‘Dienst an der Wahrheit’ im System strenger Führung entgegengesetzt werden kann. Die Menschen "können ihre Meinung zwar frei äußern, sie aber nicht frei bilden. Die Meinungen werden vorab manipuliert und dann wird der Bevölkerung freigegeben, sie nach Belieben zu vertreten, denn in einer kapitalistischen Gesellschaft sind die Politiker, die Herren über das Schicksal der Gesellschaft, und sogar die Meinungsmacher sicher, daß die Wähler die Stimmen abgeben, die man ihnen vorher suggeriert hat, auch wenn sie die Freiheit haben, anders zu stimmen." (17)

Dieses Bild der ‘totalitären’ Demokratie fördert die Bereitschaft zur Preisgabe demokratischer Strukturen und begünstigt so die Etablierung einer rigiden Herrschaft von selbsternannten Repräsentanten der ‘großen Wahrheit’.

Der ‘fundamentalen’ Demokratiekritik korrespondiert eine ‘fundamentale’ Kritik an Marktwirtschaft und "Kapitalismus". Die Freiheit dient hier dazu, "daß jeder Kapitalist ohne jegliche Einschränkung, ohne rechtliche Voraussetzungen und ohne mäßigende wirtschaftliche, soziale und menschliche Vorbehalte frei ist, jedes Mittel nach Belieben in Anspruch zu nehmen, um aus hundert Mark einen Gewinn von zehntausend im Jahr zu erzielen" (17). Der "Kapitalismus" erscheint so als ebenfalls ‘totalitäres’ Ausbeutungssystem, das unkorrigierbar ist; das ‘wahre’ Wirtschaftssystem kann daher kein marktwirtschaftlich organisierter Kapitalismus sein.

Insgesamt erscheint das ‘westliche System’ geradezu als Reich des Bösen. "Den Kolonialismus, der Massenmord an Völkern, Vernichtung der Kulturen, Reichtümer, Geschichten und Zivilisationen der nicht-europäischen Menschen mit sich brachte, verdanken wir den Regierungen, die demokratisch gewählt wurden, Regierungen, die an Liberalismus glaubten." (18) Die fundamentalistische Konsequenz lautet: Weg mit alledem! Orientieren wir uns an der durch unsere Religion vermittelten ‘absoluten’ Wahrheit, um deren kompromißlose politische Umsetzung wir uns bemühen sollten!

Die Zuwendung zum politisierten Fundamentalismus ist bis zu einem gewissen Grad verständlich als Reaktion auf die "Kolonialherrschaft" mit ihren vielfältigen Konsequenzen. Dazu gehört, dass "wir zu Menschen zweiter Klasse, zu Untermenschen, zu wilden, halbzivilisierten, kannibalischen, unbegabten, faulen, irrationalen, rückständigen, kulturlosen, ungebildeten, unlogischen Eingeborenen" (19) wurden. Dass die Betroffenen leicht dahin gelangen können, das ‘westliche System’ generell zu verteufeln, liegt auf der Hand; dass sie durch eben diese generelle Abwehr von Demokratie, Liberalismus usw. den Weg für ein rigides autoritäres Regime bereiten, das alles Abweichende beiseitezuräumen geneigt ist, müssen sie erst schmerzhaft erfahren – falls sie nicht auf der ‘richtigen’ Seite stehen.

In terminologischer Hinsicht etwas überraschend unterscheidet Schariati am Ende seines Vortrags "zwei Arten von Demokratie, die freie Demokratie und die engagierte bzw. dirigierte Demokratie" (20). Das bislang kritisch über die Demokratie Gesagte gilt nur für die (angeblich) "freie Demokratie", für die "nicht-engagierte Demokratie". Der ‘Wahrheitspolitik’ hingegen wird nun die "engagierte Demokratie" zugeordnet. Sie "findet ihren Ausdruck in einer Regierungsform, die aufgrund eines fortschrittlichen und revolutionären Programmes die Menschen, ihre Anschauung, Sprache, Kultur, gesellschaftlichen Verhältnisse und ihren Lebensstandard sowie die Struktur der Gesellschaft verändern und sie in bestmöglicher Form führen möchte. Sie stützt sich auf eine Ideologie, eine philosophische Schule und verfährt nach einer genauen Planung. Sie verfolgt nicht das Ziel, die Stimmen der Bevölkerung auf sich zu einigen, sondern beabsichtigt, die Gesellschaft so weit zu entwickeln, daß sie sich auf der Basis dieser Ideologie zu einem höheren Ziel bewegt und ihre revolutionären Ziele verwirklicht." (20) Menschen, "die an diesen Weg nicht glauben", muss man "verurteilen" und letztlich ... ausschalten.

"Zweifelsohne ist der Islam eine engagierte Regierungsform und der Prophet ein engagierter Führer. [...] Er ist kein Prophet, der die Offenbarung verkündet und schweigt. Er ist einer, der die Botschaft verkündet, sich um ihre Verwirklichung bemüht, dafür leidet, kämpft und bekämpft wird. Er fordert alle Regierungen der Welt auf, sich zu ergeben oder sich ihm nicht in den Weg zu stellen, damit er seine Botschaft den Menschen verkünden kann." (21) Das Engagement im Sinne der ‘Wahrheitspolitik’ ist verbunden mit einem – mit objektivem Anspruch auftretenden – "Sendungsbewußtsein". (21) Es hält sich deshalb für berechtigt, sich nicht an die Spielregeln der "nicht-engagierten Demokratie" zu halten. "Wenn daher heute eine engagierte politische Gruppe oder Regierung die Führung eines Landes übernimmt, das sich im Stillstand befindet, das unter dekadenten Beziehungen und Traditionen leidet [...], ist sie verpflichtet, nicht zuzulassen, daß das Schicksal der Revolution durch die Demokratie der gekauften, wertlosen Stimmen zum Spielball der Ignoranz, des Aberglaubens und der Feindseligkeit wird. Sie ist verpflichtet, die Revolution zu starten, zu lenken und zum Ziele zu führen. Sie ist [...] nicht verpflichtet, sich auf die Stimmen der Mehrheit zu stützen." (21)

Das ist Klartext in Sachen ‘Wahrheitspolitik’. Das eigene Programm, das als ‘absolute’ politische Wahrheit aufgefasst wird, soll kompromißlos verwirklicht werden; alle Einrichtungen, die dem im Wege stehen, dürfen, ja müssen aus dem Weg geräumt werden. Ziel ist es, die Gesellschaft "auf der Grundlage einer revolutionären Ideologie zu entwickeln, ihre Gesellschaftsordnung zu erneuern, Kultur, Moral und Meinungen des Volkes zu revolutionieren, obwohl die Mehrheit eine andere Meinung vertritt" (21f.). Die Meinung der "Volksmasse" zählt nicht, da sie (noch) nicht in der Lage ist, die "fähigste Führung" zu erkennen.

Erhellend ist, dass Schariati sich in diesem Zusammenhang auf Lenin beruft. Die (profane) bolschewistische Revolution sowie Lenins Revolutionstheorie dienen offenbar als Vorbilder für die (religiöse) islamische Revolution und die zugehörige Theorie. In beiden Fällen wird versucht, in einer "rückständigen Gesellschaft" ein "revolutionäres Regime mit einer fortschrittliche Ideologie" an die Macht zu bringen. In beiden Fällen wird mit einem längeren Prozeß gerechnet. "Im Gegensatz zu früheren Revolutionären, die glaubten, daß die Machtergreifung eines revolutionären Regimes und der Sturz seines reaktionären Vorgängers den Sieg der Revolution bedeuten, glauben gegenwärtige Revolutionäre, daß die konterrevolutionären Elemente, der entmachtete Feind, der auf der Lauer liegt, und Schlangen, die durch den plötzlichen Schlag betäubt sind, Jahre nach der Etablierung der Revolution eine Gelegenheit suchen, sich in der nachrevolutionären ruhigen Zeit plötzlich zu erheben und die Bewegung von innen zu zerschlagen. Die Ruhe setzt nach der ersten Generation der Revolution, besonders nach dem Tod des ersten Revolutionsführers, ein. [...] Nach dem Tode des unbestrittenen Revolutionsführers zerbrechen die Macht der Volksmase und die Einheit der revolutionären Front durch Flügelkämpfe in der Partei, Klassenkampf in der Gesellschaft, offene und verborgene Gruppenbildungen und Verfilzungen und wahltaktische Konfrontationen bei der demokratischen Wahl der politischen Führungsnachfolge. [...] Hunderte von Konterrevolutionären, die [...] auf der Lauer liegen wie die Bazillen zahlreicher Krankheiten, die durch die Adern der Gesellschaft zirkulieren, tauchen wieder auf, wenn sie nach dem Tode des Führers die Gelegenheit für innere Zusammenstöße und Streitigkeiten für gekommen sehen. Sie höhlen die Revolution von innen aus, bauen unter der neuen Maske die alte Ordnung wieder auf und betreiben die Unterwerfung des Volkes unter dem Deckmantel der Herrschaft des Volkes." (22f.)

Der Andersdenkende und -wollende ist für den ‘Wahrheitspolitiker’ stets der bösartige, den Sieg der ‘Wahrheit’ verhindern wollende Feind, der vernichtet werden muss; der Vergleich mit einem Krankheitsbazillus liegt daher nahe.

Die revolutionäre Führung in einer "rückständigen Gesellschaft" muss immer wachsam sein. Sie darf die "Geschicke der Revolution" niemals der Demokratie anvertrauen. "Die gefährlichen Bazillen vielfältiger, akuter sozialer Krankheiten sind immer noch im Unterbewußtsein der Bevölkerung vorhanden." (24)

Erst am Ende eines längerenUmorientierungsprozesses werden die Meinungen der Menschen mit der ‘Wahrheit’ übereinstimmen. Dann erst ist die "Verwirklichung der wahren Demokratie, d.h. der Demokratie der eigenen Meinungen, möglich" (27). Kritisch akzentuiert: Erst wenn die Gehirnwäsche vollständig gelungen ist, wenn die Menschen total indoktriniert sind, kann zur "Demokratie der eigenen Meinungen" übergegangen werden. Das der "westlichen Demokratie" fälschlich zugeschriebene totale Manipulationssystem soll, so stellt sich heraus, unter dem Deckmantel der ‘Wahrheit’ von der selbsternannten Elite etabliert werden.


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