6.2 Ein konkurrierender AnsatzBezugstext: H. Heimann: Marxismus als Fundamentalismus? In: T. Meyer (Hg.): Fundamentalismus in der modernen Welt, a.a.O., S. 213-230. Versteht man Fundamentalismus als "geistige Bewegung gegen Aufklärung und Moderne", so scheint kein "Zusammenhang zwischen Marxismus und Fundamentalismus" zu bestehen. "Denn der Marxismus ist ja selbst ein Kind der Aufklärung und der Moderne. Das Denken von Karl Marx ist geleitet von dem Motiv, einen Beitrag zur menschlichen Emanzipation und zur Vervollkommnung der menschlichen Gesellschaft zu leisten." (213) Mit diesem Einstieg referiert Heimann ein häufig vorgebrachtes Argument; er selbst setzt dann anders an. Aus meiner Sicht besteht der Hauptmangel des Arguments darin, dass der Fundamentalismus generell als Anti-Modernismus aufgefaßt wird. Ich schlage ja vor, die fundamentalistische Denkform zunächst neutral durch die Elemente ‘absoluter’ Wahrheitsanspruch, Dogmatisierung, kompromißlose Umsetzung zu charakterisieren; bei den politisierten Varianten kommt noch der umfassende politische Gestaltungswille hinzu. Von der Kombination dieser Elemente, d.h. eben vom fundamentalischen Denken kann aber jede Denkströmung und jede soziale Bewegung ‘befallen’ werden – auch aufklärerische und moderne bzw. modernistische Richtungen. Daher ist es sinnvoll, jede Denkströmung und jede soziale Bewegung auf eventuelle fundamentalistische Elemente hin zu untersuchen. Fundamentalismustheoretisch ist auch klar, dass geschlossene Formen der Religiosität, die "aus der Zeit vor der Aufklärung" stammen, einem anderen Typ von Fundamentalismus zugeordnet werden müssen als eine ‘befallene’ Gesellschaftstheorie, die explizit "emanzipatorische Intentionen" verfolgt (213)[27]. In beiden Fällen ist die allgemeine fundamentalistische Denkform wirksam, doch ihre Konkretisationen weisen überhaupt keine inhaltlichen Gemeinsamkeiten auf. Andersherum: Dass es extreme inhaltliche Unterschiede etwa zwischen emanzipatorisch-aufklärerischen und gegenaufklärerischen Richtungen gibt, schließt Gemeinsamkeiten auf der Ebene der Denkform keineswegs aus, und es ist lohnend, nach solchen Gemeinsamkeiten zu suchen. Heimann scheint jedoch an einem neutralen, nicht-(ab)wertenden Fundamentalismusbegriff nicht sonderlich interessiert zu sein. Wie aus der weiteren Argumentation deutlich wird, arbeitet er meistens mit einem kritischen Fundamentalismusbegriff, der weitgehend einem kritischen Ideologiebegriff entspricht. Dabei ist Vorsicht geboten. Für die Position profaner Vernunft ist es nämlich nicht zulässig, eine These oder Theorie direkt als ideologisch(-) zu bezeichnen. Eine solche Zuordnung setzt vielmehr voraus, dass eine rational-empirische Prüfung zu dem Ergebnis führen, dass es gravierende Einwände gegen die These oder Theorie gibt, dass ihr kognitiver Wert gering ist. Ideologien(-) haben zwei Seiten: Es handelt sich um sachlich verfehlte bzw. äußerst fragwürdige Annahmen oder Theorien, die jedoch sehr gut zur jeweiligen Wunsch- und Willensrichtung passen und daher geeignet sind, das eigene Selbstbewusstsein zu stärken. Ideologische(-) Theorien, deren kognitiver Wert gering ist, können in praktisch-politischer Hinsicht sehr leistungsfähig sein und als effektiveWert- und Willensverstärker wirken. Nun zu Heimann. Er nimmt an, dass "nicht nur jede Religion, sondern auch jede theoretisch-philosophisch reflektierte Weltanschauung [...] fundamentalistische Elemente, Tendenzen und Dispositionen enthalten" kann; "umgekehrt enthält auch jede Religion antifundamentalistische und emanzipatorische Elemente" (213f.). Mich stört daran die Opposition fundamentalistisch versus emanzipatorisch, denn das eigentlich Brisante ist doch, dass auch hinter dezidiert emanzipatorischen Elementen, Tendenzen und Dispositionen die fundamentalistische Denkform stecken kann (nicht muss). Zustimmungsfähig sind jedoch die folgenden Sätze: Fundamentalismus manistiert sich "nicht nur als reflektierte Theorie und in Büchern sprachlich formulierte Weltanschauung, sondern auch als individual- und sozialpsychologisches Phänomen, als spezifische individuelle und kollektive Einstellungen und Verhaltensweisen. In allen bisherigen Gesellschaften besitzen die Menschen psychische Dispositionen für fundamentalistische Einstellungen und Verhaltensweisen, so daß fundamentalistische Angebote einem menschlichen Bedürfnis nach Gewißheit und Geborgenheit entgegenkommen." (214) Wie geht Heimann nun die Frage nach möglichen "fundamentalistischen Elementen" im Marxismus an, der doch "in der Tradition der Aufklärung und des Humanismus steht"? Als ein "Merkmal für Fundamentalismus" betrachtet er es, wenn durch "spekulativ-deduktives Denken" gewonnene Theorien "zu sakrosankten unabänderlichen Wahrheiten erklärt werden und zu absoluten Fundamenten, aus denen alle weiteren gesicherten Erkenntnisse deduktiv abgeleitet werden" (215). Das berührt sich mit unseren Elementen ‘absoluter’ Wahrheitsanspruch und Dogmatisierung, ist aber damit nicht identisch. Heimanns Bestimmung hat den Nachteil, dass sie nicht generalisierbar ist: Die Annahmen, für die ein ‘absoluter’ Wahrheitsanspruch erhoben wird und die der Kritik entzogen werden, müssen ja nicht in jedem Fall durch "spekulativ-deduktives Denken", sie können z.B. auchdurch Intuition gewonnen werden. Haben diese Annahmen jedoch den Status "sakrosankter unabänderlicher Wahrheiten" erlangt, so werden alle weiteren Grundsätze aus ihnen "deduktiv abgeleitet". Ergebnisse "empirisch-induktiven Denkens", die mit diesen Grundsätzen nicht vereinbar sind, werden ignoriert und weginterpretiert. Diese fundamentalistische Tendenz ist bei Marx in der Tat nachweisbar, wozu im einzelnen viel zu sagen wäre.[28] Dieser Nachweis lässt Aussagen von Marx über Hegel, die Heimann als "antifundamentalistisch" auffaßt, in einem speziellen Licht erscheinen – man könnte sagen, dass Marx einen ‘idealistischen’ durch einen ‘materialistischen’ Fundamentalismus/Dogmatismus ersetzt. Zu den Grundannahmen des "Historischen Materialismus", die bei Marx durch Dogmatisierung zu ‘absoluten’ Wahrheiten profaner Art werden, gehören das "Basis-Überbau-Schema" und die "gesetzmäßige Entwicklung der Gesellschaft zum Sozialismus" (215). Marx glaubte daher, die "wissenschaftliche Prognose" abgeben zu können, dass die "proletarische Revolution [...]unausweichlich kommen wird" und "daß das Proletariat das revolutionäre Subjekt der kommenden Umwälzung sein wird" (216). Nach Marx ist "das Proletariat, unabhängig vom subjektiven Bewußtsein und Wollen der real existierenden Arbeiter, objektiv dazu determiniert, die allgemeine menschliche Befreiung durchzuführen" (216). Nun, es ist natürlich denkbar, dass Marx mit seinen Grundannahmen recht hat, z.B. mit seiner These von der "historischen Mission des Proletariats". Der Fundamentalismus- bzw. Ideologievorwurf setzt daher eine sachliche Entkräftung oder zumindest eine begründete Problematisierung der entscheidenden Thesen aus der Sicht profaner Vernunft als geleistet voraus. Es muss gezeigt werden, dass es sich um Annahmen handelt, gegen die es gravierende Einwände gibt, so dass ihnen nicht der Status von Wahrheiten, geschweige denn von ‘absoluten’ Wahrheiten zugebilligt werden kann. Ist eine solche Kritik aber erbracht, so kann die vorliegende Weltauffassung, die im nicht-(ab)wertenden Sinn fundamentalistisch ist, auch im kritischen Sinn als Fundamentalismus(-) bezeichnet werden. Marx entwickelte den "Historischen Materialismus" als eine stark ideologie(-)haltige Geschichts- und Gesellschaftstheorie. Die Theorie wurde dann Ende des 19. Jahrhunderts in der "deutschen Arbeiterbewegung" in vereinfachter Form breit rezipiert und stützte deren optimistische Hoffnungen. "Gerade in der Zeit politischer Ohnmacht und Verfolgung fiel die optimistische Botschaft, dass die herrschende Klasse von einem ehernen Geschichtsgesetz bald zum Abtreten von der historischen Bühne gezwungen werden wird, auf einen fruchtbaren Boden." (217) Handelt es sich um eine Ideologie(-), so ist die Marxismus-Rezeption nicht primär als "rationaler Lern- und Erkenntnisprozeß", sondern eher als "emotionaler Bewußtseinsprozeß" (216) einzuschätzen – aufgenommen wurden diejenigen Elemente des Marxismus, welche zu den eigenen politischen Hoffnungen und Bestrebungen passten. Die ideologische Annahme eines "ehernen Geschichtsgesetzes", das auf Seiten der "unterdrückten und ohnmächtigen Arbeiterklasse" steht, fungierte so als (illusionärer) Wert- und Willens-Verstärker. Eine unbegründete "Verheißung" eines (mehr oder weniger) perfekten Zustands trat als "bewiesene wissenschaftliche Erkenntnis" auf und stärkte eben dadurch "das politische Selbstbewußtsein und die Siegeszuversicht". Die Lehre motivierte und mobilisierte auch "viele zum Engagement für den Sozialismus" (217). Eine Theorie, die darauf hinausläuft, dass ‘unsere Seite’ an Ende siegreich sein wird, ja gewinnen muss, ist ‘unserer Seite’ immer willkommen, und sie wird manchmal einfach deshalb akzeptiert, weil sie so gut ‘passt’ und weil sie emotional so befriedigend ist. Nach Heimann entsprach das "popularisierte marxistische Sozialismuskonzept [...] einer fundamentalistischen Denkweise, weil es einfache Erklärungen für das bestehende Elend und für den Weg in eine ganz andere und bessere Gesellschaft anbieten konnte. Dieser Auffassung zufolge liegt die Ursache für alle Übel und für die zunehmende Verelendung der Massen im Privateigentum an Produktionsmitteln [...]." (217) Meiner Ansicht nach müssen "einfache Erklärungen" nicht notwendig fundamentalistisch sein. Fundamentalistisch im neutralen Sinn sind sie dann, wenn sie ‘Produkte’ einer bestimmten Konkretisation der fundamentalistischen Denkform sind. Und als fundamentalistisch(-) können wir eine solche "einfache Erklärung" erst bezeichnen, wenn eine rational-empirische Prüfung zu dem Ergebnis geführt hat, dass es sich um eine zu einfache, eine übervereinfachte Erklärung handelt. Gemäß der Position profaner Vernunft, wie ich sie vertrete, sind bestimmte Formen von "Emanzipation" möglich und anzustreben. Emanzipation gilt dabei jedoch mit Heimann – empiriegestützt – als "risikoreicher Weg in eine ungewisse Zukunft" und gerade nicht als "ein objektiv vorgezeichneter und sicherer Weg in eine bessere Gesellschaft" (217) . Nach Heimann entfaltete sich die "fundamentalistische Potenz des Wissenschaftlichen Sozialismus" (217) im Kontext der Bernsteinschen ‘Revision’ des Marxismus. Mit dem "Anti-Revisionismus" und "Anti-Reformismus" entstand eine "theoretisch reflektierte fundamentalistische Variante einer linken Emanzipationstheorie". Die "Auseinandersetzung über Bernsteins Korrektur marxistischer Theorien" wurde hier "nicht argumentativ als wissenschaftlicher Meinungsstreit geführt, sondern als Glaubenskrieg zwischen zwei antagonistischen Klassen und deren Ideologien. In der Revisionismusdebatte wird das für fundamentalistische Denkweisen charakteristische Freund-Feind-Denken und der daraus folgende Antipluralismus auf die Auseinandersetzungen innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung übertragen." (218) Nicht genügend berücksichtigt wird dabei, dass der Revisionismusstreit eine weltanschauliche Auseinandersetzung innerhalb der Sozialdemokratie ist, bei der es um die Grundlagen des Gesellschaftsbildes und der (politischen) Handlungsorientierung geht – also in einem weitgefassten Sinn ein "Glaubenskrieg". Ob empirisch gestützte wissenschaftliche Argumente in einem solchen "Glaubenskrieg" eine Rolle spielen, hängt davon ab, wie die beteiligten Ideologien(+) beschaffen sind. Bernstein vertritt einen offene Position, die auf solche Argumente großen Wert legt, Luxemburg hingegen vertritt eine geschlossene, dogmatische, fundamentalistische Position, die sich durch empirisch gestützte Argumente nicht beirren lässt, die eine ‘Wahrheitspolitik’ mit klarem Feindbild betreibt, während die andere Seite nur ein Freund-Gegner-Denken zeigt. "Die Wahrheit über die Arbeiterklasse steht endgültig fest und ist nur noch gegen Angriffe des Klassenfeindes zu verteidigen." (218) Als ideologisch(-) erscheint dabei z.B. die Identifikation der "eigenen Denkweise mit dem objektiven Interesse des Proletariats" (218) sowie die Annahme, die "Fundamente des Wissenschaftlichen Sozialismus" seien "durch keine Empirie zu erschüttern" (219). Das ist wieder eine willkürliche Dogmatisierung der schon mehrfach behandelten Art: Luxemburgs "Annahme, Marx habe ‘a priori die Notwendigkeit des sozialistischen Sieges und Kampfes vorausgesehen’ bedeutet, dass das auf diesem ‘Granitblock’ errichtete ‘Gebäude des Sozialismus als Wissenschaft’ weder durch empirische Tatsachen noch durch rationale Argumente zu erschüttern ist." (220) Wer den marxistischen Grundannahmen den Status unbezweifelbarer Wahrheiten zuschreibt, muss jede Korrektur dieser Annahmen a priori ablehnen. Wenn z.B. die Notwendigkeit der ‘große Revolution’ Dogma ist, dann ist eine "reformistische Strategie als Alternative zur Revolution" (220) nicht ernsthaft zu erwägen. Ich erinnere an den Unterschied zwischen dem neutralen und dem kritischen Fundamentalismusbegriff . Bereits auf der Ebene der verstehenden Analyse gilt, dass (religiöse wie profane) Fundamentalisten "empirische Tatsachen und Argumente", die gegen die jeweilige ‘große Wahrheit’ sprechen könnten, einfach vom Tisch fegen. Diese Feststellung ist jedoch keine Kritik, denn es könnte ja sein, dass es die ‘große Wahrheit’, angesichts derer alle empirischen Tatsachen irrelevant werden, tatsächlich gibt. Auf der Ebene kritischer Analyse, sofern diese an unsere Position profaner Vernunft gebunden ist, wird die Feststellung nun zum Einwand. Hier wird erstens "empirischen Tatsachen und Argumenten" grundsätzlich ein hoher Wert zugemessen, so dass es als Mangel gilt, wenn sie ignoriert werden; zweitens wird zu zeigen versucht, dass die postulierten religiösen und profanen ‘großen Wahrheiten’ allesamt auf dem Verfahren der willkürlichen Dogmatisierung der eigenen Grundüberzeugungen beruhen. Wird dieses Verfahren zugelassen, so kann jeder sich mit seiner Hilfe seine eigene ‘große Wahrheit’ erzeugen, ohne dass damit in kognitiver Hinsicht irgendetwas gewonnen wäre. Bei der Anwendung des kritischen Fundamentalismus- bzw. Ideologiebegriffs ist jedoch Vorsicht geboten. So darf das Plädoyer für eine revolutionäre und gegen eine reformistische Strategie nicht unmittelbar als verläßliches Indiz für Fundamentalismus behandelt werden. Auch ein Vertreter offener Profanität kann unter ganz bestimmten Umständen, z.B. innerhalb eines ‘totalitären’ Systems, für eine Revolution plädieren. Die fundamentalistische Denkform gelangt in profaner Konkretisation jedoch zu einem spezifischen Konzept der ‘großen Revolution’, die zu einem Zustand weitgehender sozialer Vollkommenheit führen soll. "Der in ihrer Totalität schlechten bestehenden kapitalistischen Gesellschaft wird die in ihrer Totalität gute künftige sozialistische Gesellschaft antagonistisch gegenübergestellt. [...] Die Totalität der bestehenden Gesellschaft kann nur in einem revolutionären Akt durch die ganz andere sozialistische Gesellschaft ersetzt werden." (220) Noch einmal zur Motivationsfrage. Theorien oder Theorieelemente, die in kognitiver Hinsicht höchst fragwürdig sind, können, so sagte ich, praktisch-politisch höchst effektiv sein. Sie können z.B. "mobilisierend und motivierend" wirken, indem sie "das Selbstbewußtsein und die Siegeszuversicht der Sozialismus" (221) stärken. Dies führt zu einem Konflikt zwischen denen, die primär an – empirisch verstandener – kognitiver Verläßlichkeit interessiert sind, und denen, die möglichst wirksame Wert- und Willens-Verstärker für ihre ‘Wahrheitspolitik’ haben wollen. Letztere werfen den ersteren vor, "daß sie diese mobilisierende Wirkung, Begeisterung und revolutionären Enthusiasmus beeinträchtig[.]en" (221). Für die Position profaner Vernunft liegt hier ein echtes Problem. Man muss nämlich klar sehen, dass die fundamentalistische ‘Wahrheitspolitik’ in ihren religiösen und profanen Formen stärker mobilisiert, motiviert, begeistert als jede nicht-fundamentalistische Politik. Das zeigt z.B. die ‘massenhafte’ Bereitschaft, für die ‘große Wahrheit’ aggressive Kriege zu führen und zu sterben. Auf der anderen Seite kann auch eine Position profaner Vernunft auf Motivation, Begeisterung, Mobilisierung, Selbstbewußtsein und Zuversicht nicht verzichten. "Man muß begeistert sein, um große Dinge zu vollbringen, sagt St. Simon. Aber nur große Ziele können begeistern." (221; Kautsky) Was sich jenseits der ‘Wahrheitspolitik’ ändernmuss, ist die inhaltliche Füllung der Leerstelle ‘große Ziele’. Als großes Ziel gilt z.B. nicht mehr das Erreichen eines (mehr oder weniger) vollkommenen Gesellschaftszustandes, denn hier werden Realisierbarkeitsprobleme ignoriert. Und als großes Ziel gilt auch nicht mehr die ‘totale’ Gestaltung einer Gesellschaft nach den Prinzipien einer bestimmten Weltanschauung. Was aber ist ein großes Ziel im Sinne der Prinzipien offener Profanität? Die möglichst weitgehende Umsetzung des Prinzips Individuation in sozialer Verantwortung – jenseits der Vollkommenheitsvisionen. Für die ‘Wahrheitspolitiker’ zählt z.B. der Enthusiasmus für die ‘große Revolution’, die alles zum Guten wenden wird. Den Gegenpol bildet den ‘Realpolitiker’, der überhaupt kein großes Ziel mehr kennt. Und dann gibt es noch die Möglichkeit eines großen Ziels, das weder überschwänglich noch totalitär ist. Für die Position profaner Vernunft ist nur ein "Enthusiasmus" akzeptabel, der sich nicht gegen jeden "Zweifel" abgedichtet hat, der sich vielmehr um Einklang mit "empirischen Tatsachen und Argumenten" bemüht. Der "Enthusiasmus" für überschwengliche bzw. totalitäre "große Ziele" ist demgegenüber gerade keine zu schützende Größe. Wir brauchen Zuversicht, Begeisterung und dergleichen, aber nicht in jeder denkbaren Form. Manche Formen sind schädlich. Noch einige ergänzende Punkte. Bei Heimann wird, wie bei Meyer, eine weltanschauliche Auseinandersetzung geführt, die sich nicht immer als solche zu erkennen gibt. Fundamentalisches Denken, so heißt es, "kann handlungsmotivierend wirken, aber keineswegs handlungsorientierend. Fundamentalistische Elemente in einer Emanzipationstheorie beeinträchtigen daher eine wirksame politische Praxis für die Verwirklichung emanzipatorischer Ziele." (222) Das ist eine positionsgebundene Kritik, die als objektive Diagnose auftritt. Im Rahmen der verstehenden Analyse des Fundamentalismus muss jedoch konzediert werden, dass zur hier diskutierten Variante auch eine bestimmte Handlungsorientierung gehört und dass nach den Kriterien dieser Theorie die reformistische Praxis gerade die entscheidenden "emanzipatorischen Ziele" nicht zu erreichen vermag. Viele Kritiker verwenden auch Begriffe wie "Heilswissen" (228). Bei deren Gebrauch wird häufig vergessen, dass auch die eigene Position weltanschauliche Grundlagen besitzt, zu denen etwa Vorstellungen eines ‘guten Lebens’ gehören, die sich durchaus als Vorstellungen eines ‘heilen’ Zustands auffassen lassen. Versteht man den Begriff in einem erweiterten Sinn, so gehört zu jeder Ideologie(+) ein spezifisches "Heilswissen".[29] Daran anknüpfend könnte man sagen, dass es in der weltanschauliche Auseinandersetzung tatsächlich nur darum geht, bestimmte Ausformungen des "Heilswissens" zu bekämpfen, z.B. eben aus der Sicht profaner Vernunft die an fundamentalistische Konzeptionen gebundenen, die mit ungedeckten Gewißheits-Schecks arbeiten. |
[27] Derartige Intentionen können z.B. mit übertriebenen, ‘unrealistischen’ Vollkommenheitserwartungen verbunden sein. Aufklärerisches Denken kann so zum Medium werden, in dem ‘alte’ Erlösungssehnsüchte in ‘neuer’ Form wachgehalten werden. [28] Vgl. mein oben erwähntes Buch. [29] Entsprechendes gilt für den Begriff der "Verheißung". |