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7.1 Zum Begriff und zur Theorie der Ideologie(-)

Unter ‘Ideologie(-)’, so hieß es, ist ein Erkenntnisdefizit näher zu bestimmender und prinzipiell vermeidbarer Art zu verstehen; dann wurde auch von illusionären Vorstellungen gesprochen. Daran ist nun anzuknüpfen.

Von welcher Position aus werden die Erkenntnisdefizite festgestellt? Nach den früheren ‘Bekenntnissen’ ist klar: Ausgegangen wird von der oben dargelegten Position profaner Vernunft, die sich zunächst einmal am Erfahrungswissen vorwissenschaftlicher und wissenschaftlicher Art orientiert.

Eine Annahme bzw. Vorstellung kann als Ideologie(-) bezeichnet werden, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind:

(1) Die zur Debatte stehende Annahme hält einer sachlichen Prüfung im Sinn der Position profaner Vernunft, d.h. einer empirischen und rationalen Überprüfung, nicht stand – sie erscheint nunmehr als höchst fragwürdige und in kognitiver Hinsicht ‘schwachbrüstige’ Annahme.

(2) Eine Ideologie(-) ist aus der Sicht profaner Vernunft immer auch ein Irrtum, aber nicht jeden Irrtum bezeichne ich auch als Ideologie(-). Es kann ein Irrtum sein, wenn ich sage ‘Es regnet gerade’, doch ein solcher ‘einfacher’ Irrtum ist noch keine Ideologie(-).

Was muss hinzukommen? Hier greife ich auf die Grundthese von der menschliche Ideologie(+)-Gebundenheit zurück, die auch eine Bindung an ein bestimmtes Wertsystem einschließt. Das, was aus der Sicht profaner Vernunft als Irrtum erscheint, kann, aber muss nicht direkt mit den Grundlagen der jeweiligen Ideologie(+) zusammenhängen. Nur wenn ein solcher Zusammenhang besteht, spreche ich von Ideologie(-).

Was besagt das? Ein Irrtum bzw. eine in kognitiver Hinsicht fragwürdige Annahme kann trotz ihrer kognitiven Schwäche für das jeweilige Überzeugungssystem nützlich und dienlich sein. Das ist, wie an mehreren Beispielen bereits durchexerziert, etwa bei der Wertprojektion der Fall. Mit der eigenen Position sind z.B. bestimmte politisch relevante Wert- und Zielvorstellungen verbunden; wird nun mit einem Begriff des ‘Wesens des Menschen’ gearbeitet, der genau mit diesen Vorstellungen gefüllt ist, so hat dies den Vorteil, dass die eigene politische Position als privilegiert erscheint (‘Nur das, was wir wollen, stimmt mit dem menschlichen Wesen überein’), obwohl dieser Wesensbegriff empirisch-rationaler Kritik nicht standhält.

Ich schlage daher folgende Definition vor: Eine Annahme ist eine Ideologie(-), wenn sie einerseits, mit den Maßstäben profaner Vernunft gemessen, als höchst fragwürdig gelten muss, und wenn sie andererseits geeignet ist, die jeweilige Ideologie(+) zu stützen und zu stärken, z.B. als Selbstbewusstseinsverstärker.

Wir haben bereits etliche Ideologien(-) kennengelernt, ohne sie immer mit diesem Ausdruck bezeichnet zu haben. So können wir z.B. sagen, dass die Willensrichtung des Marxschen Denkens durch die Vermengung von abstrakter und konkreter Utopie, die Wesensprojektion und die zusätzliche Projektion der eigenen Ziele in ‘die Geschichte’ gestützt und verstärkt wird. Es handelt sich demnach um drei einzelne Ideologien(-) oder Ideologeme(-), die zusammen die Grundlage eines ganzen Denk- und Theoriesystems bilden, das als ‘große’ Ideologie(-) aufgefasst werden kann. Eine Ideologie(-) liegt aus profaner Sicht also z.B. dort vor, wo eine Wertung nicht als Wertung, sondern als Wirklichkeitserkenntnis auftritt: Die Wesenstheorie etwa verwandelt Wertüberzeugungen projektiv in ein angeblich erkennbares ‘Wesen des Menschen’.

Der Begriff der Ideologie(-) lässt sich mit dem Begriff des Vorurteils in Verbindung setzen. Versteht man unter einem Vorurteil ein ‘Urteil’, das einerseits fehlerhaft bzw. kognitiv fragwürdig ist und das andererseits eine Lebensfunktion erfüllt, indem es die zugrunde liegende Weltanschauung stützt und stärkt, so können wir ‘Vorurteil’ als Synonym für ‘Ideologie(-)’ gebrauchen.

Auf so verstandene Vorurteile stossen wir nicht nur bei der kritischen Analyse von hochkomplexen Theorien – lebensdienliche Fehlbeurteilungen der Wirklichkeit begegnen uns auch im Alltagsleben. Sie werden zuweilen auch mit dem Ausdruck ‘Lebenslügen’ bezeichnet, der aber nicht ganz treffend ist, da eine Lüge immer eine bewusste Irreführung darstellt; es handelt sich jedoch eher um eine lebensdienliche, d.h. die jeweilige Weltanschauung bzw. einige ihrer Elemente stützende Selbsttäuschung.

Wenn wir über unsere Erfahrungen im Alltagsleben nachdenken, so können wir leicht einige Fälle angeben, in denen zumindest der Verdacht besteht, es könne eine solche Art von Vorurteil oder Selbsttäuschung vorliegen. Diese Eltern wollen nicht wahrhaben, was mit ihrem Kind eigentlich los ist; sie erscheinen dem kritischen Blick als verblendet. Oder: Diese Frau ignoriert alle Hinweise darauf, dass ihr Mann sie betrügt, sie täuscht sich selbst und hält auch nach unmißverständlichen Hinweisen an ihrer Illusion fest. Man kann in einigen Fällen auch von einem Wunschdenken sprechen: Ein Wunsch führt ohne weiteres, d.h. ohne dazwischengeschaltete Realitätsprüfung zu der Ansicht, die Wirklichkeit sei tatsächlich so beschaffen, wie es dem Wunsch entspricht.

Bestimmte politische Vorstellungen und Argumentationen erwecken den Eindruck, interessegeleitete Verfälschungen der sozialen Wirklichkeit zu sein. Partikularinteressen werden als Interessen der Allgemeinheit ausgegeben. Die Unterdrückung der einen durch die anderen wird auf vorurteilshafte Weise gerechtfertigt. Usw.

Für die Position profaner Vernunft ist klar, dass es vorurteilshaft-ideologisches (verblendetes, illusionäres, auf Selbsttäuschungen beruhendes) Denken und Handeln tatsächlich gibt.

Die Disziplin, die sich mit diesen Gebilden beschäftigt, bezeichne ich als kritische Ideologieforschung oder auch als kritische Vorurteilsforschung. Zu ihren Aufgaben gehört es, Ideologien(-), Vorurteile systematisch zu erfassen und zu erklären. Und diese theoretisch-analytische Anstrengung wird unternommen, um Vorurteile überwinden zu können.

Für die Position profaner Vernunft ist als Lebensorientierung das Ideal charakteristisch, mit so wenig Vorurteilen wie möglich auszukommen, d.h. Ideologien(-) als solche zu erkennen und möglichst weitgehend zu überwinden. Wir sind also bestrebt, uns an einen ideologie(-)freien Lebensvollzug anzunähern.

Das Projekt einer umfassenden kritischen Theorie der Vorurteile hat eine Reihe von Vorläufern, die hier nicht im einzelnen vorgestellt werden können.[30] Ein früher Vorläufer ist Bacons Idolenlehre, die bereits wichtige Einsichten enthält, die sich aus der speziellen philosophischen Theorie Bacons herauslösen lassen. Er hat z.B. auf die Neigung aufmerksam gemacht, etwas – ohne nähere und eigene Prüfung – als wahr anzunehmen, weil es von alters her gilt und geglaubt wird. Er wußte um fragwürdige Stützungs- und Beweisverfahren, die gerade auch im Alltagsleben zur Anwendung gelangen: Man stützt sich auf die ‘passenden’ Fälle und ignoriert die entgegengesetzten Fälle. In der Tat kann ein Denken, welches alles unberücksichtigt lässt, was gegen die eigenen Thesen spricht, nur schwer zu kognitiv relevanten Ergebnissen gelangen.

Einen historisch später aufgebrachten Terminus verwendend, könnte man sagen, dass Bacon auf die Neigung des menschlichen Geistes zur Immunisierung der eigenen Auffassungen gegen Kritik hinweist. Wer das, was nicht passt, schlicht ignoriert, hat damit die eigene Auffassung gegen Kritik abgeschottet. Bacon hat auch sicherlich recht, wenn er diese Abschottungstendenz insbesondere im Aberglauben, in der Astrologie und dergleichen am Werk sieht. Es handelt sich um eine allgemeinmenschliche Tendenz, die keineswegs nur dort auftritt, wo wissenschaftliche Erkenntnis angestrebt wird.

Bacon fordert, so könnte man zusammenfassend sagen, eine kritische und selbstkritische Haltung. Man kann es lernen, nicht ausschließlich dem ‘Bejahenden’ sich zuzuneigen und sich auch dem ‘Verneinenden’ zu stellen, z.B. so, dass eine Theorie dergestalt revidiert wird, dass sie nun auch die zuvor unterdrückten Fälle zu erfassen vermag. Im Alltag: Die Eltern können es lernen, ihr Kind ‘realistisch’ zu sehen usw.

Bacon hat auch erkannt, das der Einfluß des Willens und der Gefühle auf den menschlichen Geist dazu führen können, dass man das unmittelbar für wahr hält, was den eigenen Wünschen entspricht. Ein kritischer und selbstkritischer Mensch wird bestrebt sein, diesen Einfluß einzuschränken. Er wird Geduld zur Untersuchung aufwenden und so der Tendenz zur direkten Gefühls- und Willensbestätigung entgegenarbeiten.

Das vorurteilskritische Ethos Bacons ist, wenngleich unter veränderten theoretischen Vorzeichen, für die Position profaner Vernunft weiterhin verbindlich. Wir sollten erstens die Vorurteilstendenzen des menschlichen Geistes erkennen, z.B. die Neigung zur Dogmatisierung und Immunisierung der eigenen Auffassungen. Und wir sollten zweitens diesen Vorurteilstendenzen entgegenarbeiten, z.B. durch die Selbstverpflichtung zur Aufmerksamkeit auf die ‘entgegengesetzten Fälle’. Kurzum, wir sollten uns um Befreiung und Reinigung des Geistes von Vorurteilen bemühen.

Ein wichtiges Element unserer Lebensorientierung ist also das Ideal eines kritischen und selbstkritischen Denkens (und Lebens). Wer dieses (alt-aufklärerische) Ideal anerkennt, wird sich bemühen, eigene und fremde Vorurteile zu erkennen und so weit wie möglich auszuschalten. Der kritische und selbstkritische Mensch neigt nicht zu einem blinden Autoritätsglauben, und er bzw. sie wird nicht bereit sein, überlieferte Meinungen ohne weiteres zu akzeptieren.

Innerhalb der kritischen Vorurteilsforschung vertrete ich somit ein durchaus aufklärerisch zu nennendes Konzept. Diese Form von Aufklärung wendet sich primär an das Individuum, das zur Selbst-Aufklärung, zur Aufklärung über sich selbst aufgefordert wird. Die systematische Erkenntnis der Verblendungstendenzen und ihrer Resultate kann wichtige Hilfe bei dem Versuch leisten, die eigenen Verblendungen zu durchschauen und so weit wie möglich abzubauen. Insofern die Verblendungen anderer aufgedeckt werden, kann diese ‘Aufklärung’ als Teil des Versuchs angesehen werden, die anderen ebenfalls zu einer Selbst-Aufklärung zu bewegen.
Wahrscheinlich können wir eine völlige Befreiung von Vorurteilen, Verblendungen, Illusionen gar nicht erreichen. Das ist jedoch nicht sonderlich schlimm oder gar tragisch, denn was wir auf jeden Fall können, ist, bestimmte Vorurteile und Verblendungen zu durchschauen und zu überwinden (die Eltern können es lernen, ihr Kind realistischer wahrzunehmen usw.). Jede Überwindung eines bestimmten Vorurteils kann jedoch – wenn nicht einfach ein neues Vorurteil die Stelle des alten einnimmt (aber in einem solchen Fall läge ja gar keine eigentliche Überwindung vor) – als eine Annäherung an das Ideal vorurteilsfreien Denkens und Lebens angesehen werden. Und jeder Schritt dieser Art, so klein er auch sein mag, sollte positiv bewertet werden – und nicht etwa im Licht des ‘reinen’ Ideals ‘totaler’ Vorurteilsfreiheit hyperutopistisch als marginal und unerheblich abgewertet werden. In dieser Dimension gilt vielmehr: Jeder Schritt, sei er auch so so klein, ist ‘erheblich’.

Im Rahmen der kritischen Vorurteilsforschung gehe ich von der Annahme aus, dass wir zwar grundsätzlich zur Erlangung verläßlichen empirischen Wissens (z.B. auch über ihre Frauen betrügende Ehemänner) befähigt sind, dass es aber Vorurteils- oder Verblendungstendenzen gibt, welche den Wissensgewinn behindern und sogar gänzlich verhindern können. Diese Vorurteilstendenzen sind zu einem gewissen Teil in der ‘menschlichen Natur’ verankert und vielleicht als angeboren zu betrachten (dies wäre näher zu untersuchen), andere Vorurteile und Verblendungen sind erworben, z.B. durch Erziehung vermittelt. Das Projekt einer ‘Reinigung’ des menschlichen Geistes von Vorurteils-, Verzerrungs- und Verfälschungstendenzen durch Einsicht in deren Wirkungsmechanismen ist nach wie vor bedeutsam, wenngleich Bacons mehrere Jahrhunderte alte Form natürlich einer erheblichen Überarbeitung bedarf.
Dabei dürfte klar sein, dass man durch einen ideal-gespeisten Appell an das Subjekt nicht ohne weiteres riesige Effekte wie z.B. eine große Wende der Gesellschaft zum Besseren, die Herstellung einer ‘vernünftigen Ordnung’ und dergleichen erreichen kann. Ich plädiere hier dafür, an der kritischen Vorurteilsforschung und dem erwähnten Ideal festzuhalten, ohne übertriebene Erwartungen mit der Vermittlung der entsprechenden Erkenntnisse zu verbinden. Übertriebene Erwartungen diverser Art haben wir ja bereits kennengelernt.


[30] Vgl. jedoch Teil II meiner Theorie der Illusionen, der den Titel trägt: Streifzüge durch die Geschichte der Ideologienlehre.

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