7.3 Zwischen Ideologie(+) und Ideologie(-)[32]Wir sind immer an einen weltanschaulichen Rahmen irgendwelcher Art, an eine Ideologie(+) gebunden. Diese Gebundenheit ist prinzipiell ‘positiv’ zu sehen - sie ermöglicht allererst sozio-kulturelles Leben. Auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, dass die Behauptung einer unaufhebbaren Ideologiehaftigkeit nur in der Dimension der Ideologie(+) zu verteidigen ist; sie darf nicht auf die Dimension der Ideologie(-) übertragen werden. Sonst verliert die kritische Vorurteilsforschung jeden Sinn. Einige Grundannahmen der jeweiligen Ideologie(+) sind der Ideologie(-) in systematischer Hinsicht noch vorgelagert. Während z.B. die Wertüberzeugungen stets in das Denken ‘hineinragen’ und sich immer prägend auswirken, können ideologische Verfahrensweisen hinzukommen, müssen es aber nicht. Die Abhängigkeit des Denkens von Ideologien(+) ist zu einem erheblichen Teil keine Fehlerquelle, sondern eher eine Lichtquelle. Es ist auch möglich, den uns selbst bestimmenden weltanschaulichen Rahmen – zumindest ansatzweise und partiell – ins Bewusstsein zu heben. Und dieses Bewusstmachen ist wiederum für die Theorie der Ideologie(-) relevant, denn es erschwert die naive Verabsolutierung des eigenen Überzeugungssystems. Während die Theorie der Ideologie(-) z.B. versucht, als Tatsachenbehauptungen getarnte Wertungen aufzudecken, ist die Theorie der Ideologie(+) unter anderem bestrebt, den weltanschaulichen Rahmen freizulegen, der auch die ‘korrekte’ Erkenntnis prägt. Die Theorie der Ideologie(+) kann insofern auch als Lehre von der unaufhebbaren Perspektivität des Wissens gefasst werden. Die Theorie der Ideologie(-) trägt jedoch dazu bei, dass aus der Einsicht in die Weltanschauungs-Gebundenheit nicht vorschnell total-relativistische Konsequenzen gezogen werden. Im Umkreis des ‘Postmodernismus’ gibt es z.B. etliche Ansätze, die sich als Versuche begreifen lassen, die Theorie der Ideologie(+) so zu radikalisieren, dass eine Theorie der Ideologie(-) unmöglich und überflüssig wird. In eine gruppenspezifische Bewusstseinsstruktur können auch vor aller bewussten Lüge ideologische Verfahrensweisen eingebaut sein. Wissenssoziologie, verstanden als Aufweis dieser Bewusstseinsstruktur, und kritische Ideologienlehre sollten daher kooperieren und sich weniger als voneinander säuberlich abtrennbare Bereiche verstehen. Zwar können wir zunächst – gewissermaßen ‘neutral’ – den jeweiligen weltanschaulichen Rahmen, die Bewusstseinsstruktur herausarbeiten, aber wir sollten dann erkennen, dass Teile dieses Rahmens selbst ideologisch(-) sein können. Die ‘klassische’ Wissenssoziologie unterscheidet nicht hinlänglich zwischen einer unvermeidlichen Einseitigkeit, die sich einfach aus der Gebundenheit an eine Ideologie(+) ergibt, und Falschheit. Wenn ich eine bestimmte ‘Perspektive’ lebe, schließe ich eben damit andere ‘Perspektiven’ aus. Diese unausweichliche Gebundenheit führt nicht notwendigerweise zu einer falschen bzw. verzerrten Sicht. Es besteht die Gefahr, dass die Hervorhebung der ‘Perspektivität’ zur Ansicht führt, dass die Aussagen nur innerhalb der jeweiligen Perspektive Gültigkeit besitzen. Ich möchte einige Bedenken knapp skizzieren. Nehmen wir die Interpretation eines literarischen Textes in der Literaturwissenschaft. Es ist gewiß nicht völlig verfehlt zu sagen, dass z.B. in der Werther-Forschung die verschiedenen Zeiten und Betrachtungsweisen häufig neu ansetzen und in einer neuen Aspektstruktur ‘dieselbe’ Gegenständlichkeit erfassen. So führen z.B. zeittypische feministische Orientierungen zu verschiedenen Formen eines feministischen Blicks auf Literatur. Eine solche Erforschung des Werther unterscheidet sich deutlich von anderen, die anderen ‘Denkstilen’ verpflichtet sind, und sie können mit ihnen auch nicht direkt verglichen werden. Eine Aussage über Goethes Frauenbild im Werther ist als solche nicht richtiger oder besser als eine Aussage über die biografischen Hintergründe des Werks usw., für die sich ein anderer ‘Denkstil’ vorrangig interessierte. Der kognitive Wert einer Werther-Interpretation bzw. ihrer einzelnen Elemente hängt aber gar nicht direkt und unmittelbar von der jeweiligen Perspektive ab. Die feministische Perspektive z.B. bestimmt nur die Auswahl des ‘Aspekts’ (z.B. Frauenbild), nicht aber auch den Erkenntniswert. Dieser hängt vielmehr u.a. von folgenden Punkten ab: Sind alle relevanten Tatsachen berücksichtigt worden; gelingt es der Deutung, diese Tatsachen zu einer stimmigen ‘Erklärung’ zu bündeln; besitzt diese Deutung eine größere oder geringere Erklärungskraft als konkurrierende Deutungen usw. Die Frauenbildforschung kann den angedeuteten Standards wissenschaftlicher Forschung voll genügen, sie kann aber auch ideologisch(-) und von vorurteilshaften Wert-Projektionen gekennzeichnet sein. Direkt denkstil-abhängig ist etwa die Wahl der Fragestellung und des Aspekts; die Ergebnisse der stets denkstil-geprägten Forschungen sind es nicht. Denn diese Aussagen sind, insofern sie die Bewährungsprobe bestanden haben, nicht schlicht Ausdruck z.B. feministischer Weltanschauung - sie sind eben gut bewährte Aussagen, die bloß im Licht einer feministischen Perspektive gewonnen wurden. Festzuhalten, dass etwa eine historische Arbeit dem Denkstil des Positivismus, des Marxismus usw. verpflichtet ist, ist eine Sache. Den Erkenntniswert von Aussagen zubeurteilen, ist etwas anderes. Und diese Kriterien gelten unabhängig davon, welchem Aspekt des jeweiligen Gegenstandes man sich denkstil-spezifisch zuwendet. Und hier kann sich dann auch die Theorie der Ideologie(-) einschalten, denn in den jeweiligen Denkstil können selbst ideologische Verfahrensweisen eingebaut sein. Diejenigen Aussagen, die einer allgemeinen Standards folgenden Bewährungsprobe nicht standhalten, sind immer auch darauf zu prüfen, ob sie sich auf ideologische Verfahrensweisen zurückführen lassen.[33] |
[32] Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf die von Karl Mannheim entwickelte Wissenssoziologie. Vgl. dazu Kapitel 10 meiner Theorie der Illusionen. [33] Mein interpretationstheoretisches Konzept habe ich inzwischen genauer ausgearbeitet in: Mythos & Literatur. Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung. Würzburg 2001. Vgl. insbesondere Buch II. |