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8.1 Generalisierung des Fundamentalismusbegriffs und Utopie der "humanen Gemeinschaft"

Ich habe versucht, ein theoretisches Konzept des Fundamentalismus zu entwickeln, das – zunächst verstehend, dann aber auch kritisch – auf bestimmte religiöse und profane Weltauffassungen bezogen ist, die von anderen, nicht-fundamentalistischen oder offenen Sichtweisen abgegrenzt werden. Die "fundamentalen Überlegungen zur religiösen Erneuerung" von Jaeggi und Krieger können nun als Beispiel für den Versuch angesehen werden, ein generalisiertes Fundamentalismuskonzept zu vertreten.

Bezugstext: C.G. Jaeggi/D.J. Krieger: Fundamentalismus. Ein Phänomen der Gegenwart. Zürich/Wiesbaden 1991. Insbes. S. 185-233.

Vor der Sichtung der vorgebrachten Argumente liegt folgende Einschätzung nahe. Die Generalisierung des Fundamentalismusbegriffs kann unproblematisch sein, wenn sie auf die Einführung einer zusätzlichen Ebene hinausläuft, die dann, vom etablierten Sprachgebrauch abweichend, als fundamentalistisch bezeichnet wird; sie ist aber problematisch, wenn der ‘neue’ den ‘alten’ Begriff ersetzen soll – dann ist das gesamte Kritikpotential, dessen Tragfähigkeit ja sichtbar geworden sein dürfte, in der Gefahr, geopfert zu werden.

Zu Beginn der hier zugrunde gelegten Seiten beziehen sich die Autoren auf Strömungen, die man gewöhnlich als fundamentalistisch bezeichnet: "die Erweckungsbewegung in den USA des frühen 20. Jahrhunderts", der "islamische Fundamentalismus" mit seiner "Verquickung von Religion und Politik, von absolutem Wahrheitsanspruch und gemeinschaftsbildendem Auftrag". "Nach der gängigen Vorstellung sind diejenigen Gruppen und Bewegungen fundamentalistisch, welche versuchen, der für die moderne säkulare Gesellschaft typischen Disorientierung dadurch zu entgehen, dass sie eine Rückkehr zu den religiösen oder ethnischen Wurzeln anstreben." (187) Sie lehnen "kritische Rationalität, demokratische Formen der Konsensbildung und eine abstrakte, universale Gruppenidentität ab".

Ich sehe keinen Grund, mich von dieser "gängigen Vorstellung" zu distanzieren, denn solche Gruppen und Bewegungen gibt es ja tatsächlich, und es ist erforderlich, die Prinzipien zu bestimmen, denen sie folgen, und es muss auch erlaubt sein, diese Prinzipien zu kritisieren.

Was Jaeggi und Krieger hauptsächlich stört, ist die – vor allem von Meyer vertretene – "Auffassung von Fundamentalismus als ‘Anti-Aufklärung’", verbunden mit einer "polemischen Gegenüberstellung von Religion und säkularer Gesellschaft. Dadurch wird aber nur der ideologische Streit der Aufklärung gegen die Religion neu entfacht anstatt nach der Bedeutung und Stellung von Religion innerhalb der heutigen, globalen Kultur und des ‘postmodernen’ Wissenskontexts zu fragen." (187)

Mit dieser Einlassung begeben sich die Autoren auf die Ebene der weltanschaulichen Auseinandersetzung, auf der auch Meyer agiert. Während Meyer die Fundamentalismen aller Art aus der Sicht offener Profanität kritisiert, welche zumindest partiell an den "Streit der Aufklärung gegen die Religion" anknüpft, scheinen Jaeggi / Krieger bestrebt zu sein, eine Sicht offener Religiosität zu etablieren, welche die "Bedeutung und Stellung von Religion innerhalb der heutigen, globalen Kultur" positiv akzentuiert.

Das ist eine legitime weltanschauliche Position, die in Gegnerschaft zu der Meyers steht. Zudem hat sich gezeigt, dass Meyers generelle Auffassung des Fundamentalismus als Anti-Aufklärung und Anti-Moderne einige Schwachpunkte aufweist. Fragwürdig ist jedoch, dass die Gegenführung zu Meyers weltanschaulicher Kritik zugleich als Gegenführung zu der "gängigen" Vorstellung von Fundamentalismus aufgebaut wird, denn auch eine offene religiöse Weltanschauung muß ‘radikale’ Bewegungen vom Typ des "islamischen Fundamentalismus" von ‘gemäßigten’ Bewegungen unterscheiden, und genau dazu dient üblicherweise das Etikett ‘Fundamentalismus’.

Die Autoren vertreten eine (religiös-theologische) Position, welche "die implizite oder explizite Voraussetzung des säkularen Weltbildes als ‘normal’" ablehnt und sich folgerichtig dagegen wendet, wenn religiöse und speziell fundamentalistische Bewegungen "von Anfang an als ‘abweichend’" dargestellt werden (187f.). Sie erwecken dabei jedoch den irreführenden Eindruck, die "gängige Vorstellung" (und damit auch die Unterscheidung zwischen Fundamentalisten und Nicht-Fundamentalisten) sei notwendigerweise an diese Voraussetzungen gebunden.

Die religiös-theologische Position, die im Text aufgebaut wird, macht die Gegenrechnung zu der Meyers auf. Vermutet wird etwa, dass das "Defizit an gemeinschaftsbildender Kraft, welches der moderne Säkularismus überall aufweist, [...] aus den versteckten fundamentalistischen Zügen im Säkularismus selbst stammen" (188) könnte.[34] Gemeint ist damit unter anderem folgendes: "Die Symbole des säkularen Staates werden mit quasi religiösen Gefühlen und Zeremonien ausgestattet und eine bestimmte Form des Denkens dogmatisch verabsolutiert." (188) Gegen derartige Dogmatisierungen wendet sich freilich auch die von Meyer (und mir) vertretene profane Position, wie ja insbesondere mein kritischer Begriff des profanen Fundamentalismus zeigt. Und verweist die Rede von den "versteckten fundamentalistischen Zügen im Säkularismus" nicht auf einen kritischen Fundamentalismusbegriff?

Die Autoren betonen, dass die "weltweite religiöse Erneuerung" nicht nach dem "Schema eines Rückfalls in prämoderne Lebensformen, als blosse Ablehnung aller Vernunft und Demokratie" (188) kritisiert werden dürfe. Dem ist insofern zuzustimmen, als es natürlich auch religiöse Bewegungen gibt, die nicht (in unserem Sinn) fundamentalistisch sind (RF 2).

Angesichts der diversen religiösen Fundamentalismen ist die generelle Auskunft, das "heutige Phänomen religiöser Erneuerung" stelle ein "Zeichen" dar, "dass ein Horizont globaler Kommunikation sich auftut in der Form eines interreligiösen Dialogs" (188), problematisch. Ein solcher Horizont tut sich eben nur (ansatzweise) bei den Formen offener Religiosität auf, nicht aber bei den geschlossen-fundamentalistischen. Hier erweist sich das Konzept als im negativen Sinne ‘idealistisch’. Darüber hinaus ist aus profaner Sicht zu bemängeln, dass ein "interreligiöser Dialog", der zwischen unterschiedlichen religiösen Bewegungen stattfindet, nicht als "wahrhaft universale Form von Rationalität und kommunikativem Handeln" (188) gelten kann, wenn er profane Weltauffassungen von vornherein ausschließt.

In das ‘Ideal’ eines "wahrhaft universellen Diskurses in der Postmoderne" (188) gehen überdies unzulässige ‘Idealisierungen’ ein. Denn es handelt sich ja um das Feld weltanschaulicher Auseinandersetzungen. Auf diesem Feld bestehen aber, wie gesehen, untilgbare Gegnerschaften. Sinnvollerweise kann daher nur angestrebt werden, dass die unterschiedlichen Ideologien(+), die wir vier Grundtypen zugeordnet haben (geschlossene und offene Religiosität, geschlossene und offene Profanität), einander erstens verstehen, dass sie zweitens, wo dies möglich ist, voneinander lernen, und dass sie drittens ihre Gegnerschaften offen austragen, was partielle Übereinstimmungen und ‘Koalitionen’ nicht ausschließt, z.B. eine ‘Koalition’ zwischen offener Religiosität und offener Profanität gegen religiöse und profane Fundamentalismen. Da in einem solchen interweltanschaulichen Dialog konkurrierende Typen von "Rationalität" aufeinandertreffen, erscheint es nicht als angemessen, hier von einer "wahrhaft universalen Form von Rationalität" zu sprechen.

Der generalisierte Fundamentalismusbegriff wird vorbereitet durch die Rede von einem "fundamentalistischen Diskurs". Dieser ist "nicht eine Sprache des Individuums, sondern eine Sprache der Gemeinschaft. Nicht subjektive Meinungen und Gefühle, sondern allgemeingültige Verhaltensmuster, Werte und Normen werden im fundamentalistischen Diskurs zum Ausdruck gebracht. Wenn menschliche Gemeinschaft im breitesten Sinne als das einheitliche System typischer Rollen, Institutionen und Identitäten, als die Gesamtheit standardisierter zwischenmenschlicher Beziehungen aufgefasst wird, dann ist die Sprache, in der sich dieses System als theoretisches Weltbild ausdrückt, notwendigerweise ein fundamentalistischer Diskurs." (188f.)

Mit dieser Auskunft nähern sich die Autoren der Einsicht in das, was ich als Weltanschauungs-Gebundenheit bezeichne. Wir bewegen uns immer innerhalb eines jeweils bestimmten weltanschaulichen Rahmens; dieser Rahmen besteht aus bestimmten ‘fundamentalen’ Annahmen; diese Annahmen prägen z.B. auch die jeweiligen "standardisierten zwischenmenschlichen Beziehungen"; den "Diskurs", der den jeweiligen weltanschaulichen Rahmen (ganz oder teilweise) zum Ausdruck bringt, z.B. also gewisse "Verhaltensmuster, Werte und Normen", können wir als ‘fundamentalen’, d.h. die fundamentalen Annahmen artikulierenden Diskurs bezeichnen. Den von Jaeggi / Krieger verwendeten Ausdruck ‘fundamentalistischer Diskurs’ würde ich, um einer Ebenenvermengung vorzubeugen, lieber vermeiden.

Der Ebene der Weltanschauungs-Gebundenheit können wir z.B. den folgenden Satz zuordnen: "Wie das Individuum, so benötigt auch die Gemeinschaft ein Selbstbild, Gemeinschaften entstehen, wenn die Gruppe ein Bild macht von sich und der Welt, in der sie lebt, welches nicht nur beansprucht, der Wirklichkeit zu entsprechen, sondern auch erklärt, warum gerade diese Wirklichkeit normativ richtig ist." (189) Das betrifft die oben herausgestellte Verbindung zwischen Weltbild und Handlungsorientierung. Weltanschauungsgebunden sind "alle menschlichen Gemeinschaften", auch die "säkularisierten".

Terminologisch unbefriedigend finde ich jedoch, dass "Gesamtauffassungen der Wirklichkeit mit normativer Gültigkeit" als "Religionen" bezeichnet werden; ich ziehe es bekanntlich vor, hier von Weltanschauungen oder Ideologien(+) zu sprechen und zwischen religiösen und profanen Weltanschauungen zu unterscheiden.[35] Ich halte es für wenig sinnvoll, "’Religion’ im breiteren Sinne als die Selbstdarstellung einer Gemeinschaft, eines Volkes oder einer Kultur als Ganzes" (189) zu verstehen und folglich "jede Weltanschauung oder Ideologie" als "Religion" einzuordnen. Daher bezeichne ich z.B. den "Glauben an die heilsbringende Kraft von Wissenschaft und Technologie" auch nicht als eine der "religiösen Formen des Säkularismus", sondern vielmehr als eine fundamentalistische Spielart profaner Weltanschauung.

An der von Jaeggi / Krieger verwendeten Terminologie ist aus profaner Sicht vor allem auszusetzen, dass sie dazu verführt, den allgemeinen Begriff der Religion (Religion = Weltanschauung) mit dem speziellen Begriff (Religion = Weltanschauung mit supranaturalistischer Ontologie) zu vermengen. Das führt z.B. dazu, dass im Bereich profaner Weltanschauungen auftretende Phänomene von vornherein als deformierte religiöse Phänomene (i.e.S.) aufgefasst werden, wie etwa die Rede von "quasi religiösen Gefühlen" (188) zeigt.

Dazu passt auch die folgende Berufung auf Eliade[36], demzufolge es "immer die religiöse Dimension ist, in der die Fundamente einer Gemeinschaft letztlich artikuliert werden. So schreibt sich das Überindividuelle, das Transzendente, das ‘Heilige’ in jeder menschlichen Gemeinschaft ein" (189). Demgegenüber präferiere ich die Formulierung, dass im ‘ideellen’ Voraussetzungsgefüge immer die grundlegenden Weltbild- und Wertannahmen die Rolle der ‘letzten Instanz’ spielen. Von einem Bezug zu einem ‘geglaubten’ "Transzendenten" und "Heiligen" kann nur innerhalb von religiösen Weltauffassungen die Rede sein.

Jeder Ideologie(+), die sozial wirksam geworden ist, d.h. die Grenzen eines Individuums ‘überschritten’ hat, korrespondiert das, was man eine "soziale ‘Welt’" nennen kann; damit hängen bestimmte "Diskursformen, Symbole, Riten und Handlungen" zusammen (189f.). Die Setzung der "Grenzen einer Welt" geschieht "nicht durch Übereinkommen". "Denn bevor wir Meinungen, Gründe und Argumente austauschen können, um einen Konsens zu erreichen, muss die Welt, in der wir existieren, schon da sein." (190) Anders formuliert: Der konkrete Austausch von "Meinungen, Gründen und Argumenten" findet innerhalb einer bestimmten ‘ideologischen’ Konstellation statt, die für die zugehörige "soziale Welt" konstitutiv ist.

Die Autoren sehen nun "im Fundamentalismus weniger eine soziale Pathologie oder eine abweichende Form der Sozialisation [...] als ein notwendig konstitutives Moment in jeder Gemeinschaftsbildung" (190). Das ist wieder das generalisierte Fundamentalismuskonzept mit den bereits angesprochenen Mängeln: Der wohlbestimmte ‘konkrete’ Fundamentalismusbegriff wird ohne Not aufgegeben und durch einen ‘abstrakten’ ersetzt, der den Fundamentalismus gewissermaßen zur anthropologischen Konstante macht.

Die tatsächlich existierende Konstante lässt sich jedoch bestimmen, ohne den Ausdruck ‘Fundamentalismus’ zu benutzen und ohne die Fundamentalismuskritik mit einem Streich vom Tisch zu fegen. Etwa so: Die (stets konkrete) Weltanschauungs-Gebundenheit ist ein konstitutives Moment in jeder Gemeinschaftsbildung. Wir sollten uns auch die Fundamentalismuskritik, die sich übrigens nicht unbedingt des Begriffs der "Pathologie" bedienen muss, nicht durch einen terminologischen Trick verbieten lassen.

Ich schlage daher vor, den Text einfach von der Fundamentalismus-Terminologie zu befreien – dann bleiben wichtige Einsichten übrig. Ein Beispiel: "Alltäglicher Diskurs wird fundamentalistisch immer dann, wenn ein bisher selbstverständliches Weltbild problematisch wird. Fundamentalistischer Diskurs entsteht als Antwort auf eine Sinnkrise [...]. Er aktualisiert somit eine Möglichkeit, die in jeder menschlichen Kommunikation innewohnt, denn alltagssprachliche Aussagen drücken implizit auch die Grundlagen oder das Weltbild einer Gesellschaft mit aus." (190) Man ersetze ‘fundamentalistisch’ durch ‘fundamental’ (im oben erläuterten Sinn), und alles ist in Ordnung.

Der fundamentale, die jeweiligen weltanschaulichen ‘Fundamente’ artikulierende und gegebenenfalls revidierende Diskurs "ist zwangsläufig konfessionell formuliert, auf Bekehrung hingeordnet" (190) – wenn man diese Begriffe in einem ‘formalen’ Sinn verwendet, der auf alle Weltanschauungen beziehbar ist. Ein solcher "Diskurs der Grenze" wird stets von einem Bekenntnis (religiöser oder profaner Art) getragen und, sofern er sich auch an Andersdenkende richten, von der Hoffnung auf Bekehrung gespeist. Ein solches "Bekenntnis" kann jedoch auch implizit bleiben, d.h. der faktisch Bekennende kann sich über den weltanschaulichen Bekenntnischarakter seiner Rede im Unklaren sein.

Der Sozialisationsprozeß lässt sich in gewisser Hinsicht als ‘primäre’ Bekehrung auffassen. "Wir merken normalerweise nicht, dass wir zu unserer eigenen Wirklichkeitsauffassung ‘bekehrt’ worden sind, aber die ‘Narben’ einer unsanften Erziehung, die Angst vor dem Chaos und Anarchie sozialer Abweichung und der immer gegenwärtige Anpassungszwang weisen darauf hin." (190f.) Sozial wirksame Weltanschauung ist auch immer "mit Macht verquickt".

Jaeggi/Krieger kommen nun auf die Idee des "interreligiösen Dialogs" zurück. "Da die Menschen ihre Letztüberzeugungen nur konfessionell auszudrücken vermögen [...], stellt sich die Frage, ob in einer Welt, die durch eine unwiderrufliche Pluralität solcher Ansprüche bestimmt ist, ein nicht-apologetischer Dialog zwischen den ‘Religionen’ möglich ist. [...] Hier müssten Formen gewaltloser Konfliktlösung an die Stelle polemischer Rhetorik und Machtstrategien treten. Es müsste eine neue kommunikative Praxis entwickelt werden, die fähig ist, zwischen Weltbildern und Religionen Räume der Begegnung zu erschliessen. Eine neue Selbstdefinition des Menschen als kommunikatives Wesen, als Wesen der Ver-Mittlung müsste an die Stelle des modernen Individualismus, dessen dialektischer Gegenpol der politische Kollektivismus gegenwärtiger fundamentalistischer Bewegungen ist, treten." (191)

Hier kommt der bereits bemängelte ‘Idealismus’ der Autoren wieder zum Vorschein. Richtig ist: Es gibt eine Pluralität von Weltanschauungen, die auf jeweils spezifischen "Letztüberzeugungen" beruhen. Richtig ist ferner, dass ein Dialog zwischen den Weltanschauungen möglich und auch anzustreben ist. Sicherlich ist es möglich, "Räume der Begegnung" zu schaffen, in denen sich Vertreter der unterschiedlichen Überzeugungssysteme austauschen können. Sobald es jedoch nicht bloß um ein ‘bereicherndes’ Kennenlernen und Verstehen anderer Sichtweisen, sondern um handfeste Konflikte und "Konfliktlösung" geht, kommen die weltanschaulichen Gegnerschaften, die beim bloßen ‘Austausch’ zurückhaltbar sind, zwangsläufig zum Zuge, und mit ihnen wiederum sind "polemische Rhetorik und Machtstrategien" verbunden. In diesen Fällen erweist sich die Hoffnung auf gelingende "Konfliktlösung" im "Raum der Begegnung" als naiv-idealistisch und weltfremd. Nicht zuletzt deshalb, weil Fundamentalisten (gemäß unserer Begrifflichkeit), wie bereits dargelegt, zu einem echten Dialog unfähig sind, da für sie jegliche Wahrheitsfrage von vornherein zugunsten der eigenen Position entschieden ist und der weltanschauliche Gegner als bösartiger Feind verrechnet wird.

Unter Idealismus- bzw. Utopismusverdacht steht auch das anheimelnde Konzept des Menschen als "Wesen der Ver-Mittlung". Wie soll denn, bitte schön, eine "Ver-Mittlung" z.B. zwischen einer Position offener Profanität und einem religiösen Fundamentalismus aussehen? "Ver-Mittlung" ist auf der Ebene des Verstehens durchaus erreichbar, z.B. durch Denkformanalyse, nicht aber auf der Ebene der "Letztüberzeugungen" selbst – diese stehen sich in etlichen Fällen ‘unversöhnlich’ und ‘unvermittelbar’ gegenüber. Die "Räume der Begegnung" sind, wenn das anfängliche Sich-Kennenlernen vollzogen ist, unausweichlich Räume für das Austragen weltanschaulicher Gegnerschaften, die nicht jenseits der "polemischen Rhetorik" und der "Machtstrategien" stehen. Das Schaffen solcher Räume führt daher auch keineswegs, wie die Autoren nahelegen, zur Überwindung des "modernen Individualismus" einerseits und des "politischen Kollektivismus" andererseits, es eröffnet diesen Positionen nur ein neues Feld für Auseinandersetzungen. Selbst wenn sich ein Fundamentalist auf das Feld der "Begegnung" begibt, bedeutet das nicht, dass er damit schon seine Position in Frage stellt. Er hat keine Schwierigkeiten damit, mit einem Andersdenkenden zu reden, ihn, zumindest ansatzweise, zu verstehen und ihn dennoch weiterhin als bösartigen Feind der ‘großen Wahrheit’ zu bekämpfen. Für ihn gibt es keine "Korrektur von aussen" (210) .

Jaeggi/Krieger zeigen auch die ‘postmodernistische’ Neigung, die unbestreitbare "Gleich-Zeitigkeit" unterschiedlicher Weltanschauungen ohne weiteres als "Gleich-Gültigkeit" zu behandeln (191)[37]. Das hängt ebenfalls mit dem fehlenden Bewusstsein für weltanschauliche Gegnerschaften zusammen. Ein Vertreter irgendeiner Ideologie(+), der sich über diese Dinge im Klaren ist, kann niemals die Gleich-Gültigkeits-These unterschreiben. Er kann problemlos einräumen, dass es eine Pluralität und "Gleich-Zeitigkeit" von Weltanschauungen – und in diesem Sinn "kein einheitliches Rationalitätsmodell" – gibt, aber er kann unmöglich den jeweils konkurrierenden Überzeugungssystemen die gleiche "Gültigkeit" zubilligen. Für den religiösen und den profanen Fundamentalisten sind die offenen Weltauffassungen einfach blind für die ‘Wahrheit’, für die Position offener Profanität sind alle Fundamentalisten, ohne vernünftige Gründe dafür angeben zu können, Absolutisten und Dogmatiker[38] usw.

Wir lesen: "Es gibt keinen Diskurs der Vernunft gegenüber allen Irrationalismen, sondern viel eher einen Polylog von verschiedenen Grenzdiskursen oder Fundamentalismen." (191) Wieder die ‘postmodernistische’ Vermengung von "Gleich-Zeitigkeit" und "Gleich-Gültigkeit". Gleich-Zeitigkeit: Es gibt eine Pluralität von Weltauffassungen und einen zugehörigen "Polylog" von "Grenzdiskursen", es gibt nicht mehr nur eine Weltanschauung (nebenbei: hat es sie, im Weltmaßstab gesehen, überhaupt je gegeben?).[39] Keine Gleich-Gültigkeit: Eine der Gegnerschaften, die in diesem "Polylog" auftreten, ist der Kampf der "Vernunft gegenüber allen Irrationalismen", in dem diesen die "Gleich-Gültigkeit" abgesprochen wird.

Die Ebenenvermengung wiederholt sich beim Punkt "Universalitätsanspruch der Moderne". Gleich-Zeitigkeit: Es gibt (trivialerweise) keine Weltanschauung, die tatsächlich Universalität, universale Akzeptanz besäße. Keine Gleich-Gültigkeit: Jede Weltanschauung, sei sie auch noch so ‘offen’, erhebt Geltungsansprüche; das gilt für den religiösen Fundamentalismus ebenso wie für den "aufgeklärten Diskurs der Vernunft".[40] Dabei ist freilich zu unterscheiden zwischen geschlossenen Konzepten, die einen ‘harten’ "Universalitätsanspruch" erheben, und offenen Konzepten, die einräumen, dass die eigenen "Letztüberzeugungen" keiner letzten oder absoluten Begründung fähig sind. Mit einem ‘verbalen’ Verzicht auf jeden weltanschaulichen Geltungsanspruch ist hier gar nichts gewonnen, da ein solcher Verzicht gar nicht durchhaltbar ist. Auch Radikalpluralisten gehen von bestimmten Weltbildannahmen aus, die sie – zumindest implizit – als gültig betrachten.

Die Ebenenvermengung betrifft schließlich auch das Postulat einer "Form kommunikativen Handelns [...], welche fähig ist, Solidarität mit dem anderen über ideologische und religiöse Grenzen hinweg aufrecht zu erhalten" (191). Denn es wird übersehen, dass zu einer solchen "Solidarität mit dem anderen" eben nur offene (religiöse und profane) Weltanschauungen fähig sind, nicht aber die diversen Fundamentalismen mit ihren Feindbildern. Für die Position offener Profanität etwa bleibt auch der Fundamentalist, obwohl er bekämpft wird, ein Mit-Mensch, dem eine elementare Solidarität gilt; der Fundamentalist hingegen ist zu einer solchen Solidarität aufgrund seiner Denkform unfähig.

Die Vision einer "globalen Kultur" (192) ist ‘gut’, wenn damit "Räume der Begegnung" zwischen Weltanschauungen und Räume für Auseinandersetzungen zwischen ihnen gemeint sind; ‘schlecht’, weil ‘utopistisch’ wird diese Vision hingegen, wenn ein harmonisches Neben- und Miteinander der Weltanschauungen für realisierbar gehalten wird, denn eine solche Harmonie kann es aufgrund der auf der Ebene der Weltanschauungen unvermeidlichen Gegnerschaften prinzipiell nicht geben.[41] Und nur für einige Überzeugungssysteme, nämlich die offenen, ist das grundsätzliche Eintreten gegen "die Ausrottung und Nivellierung von traditionellen, religiösen und ethnischen Lebensformen" (192) und die Bewahrung der kulturellen Vielheit ein hoher Wert. Politisierte Fundamentalisten hingegen wenden sich zwar häufig gegen die Ausrottung und Nivellierung bestimmter Lebensformen, aber ihr ‘Programm’ läuft stets auf ‘radikale’ Durchsetzung der eigenen Lebensform hinaus, was im jeweiligen Einzugsbereich eben stets mit Ausrottung und Nivellierung konkurrierender Lebensformen verbunden ist. Die Bewahrung kultureller Vielheit, kultureller "Differenzen" ist hier kein Grundwert.[42]

In einer Situation der Gleich-Zeitigkeit verschiedener Weltanschauungen und "Rationalitätsmodelle", die in "kämpferischer Auseinandersetzung" stehen, kommt dem "Kampf um die Grenzen der Welt, die Kriterien der Kommunikation und der Rationalität" (195) entscheidende Bedeutung zu. Im ‘fundamentalen’ "Diskurs der Grenze" geht es "um ‘meine Welt’ oder ‘deine Welt’, nicht aber um die Erhebung von kritisierbaren Geltungsansprüchen für Aussagen über Tatsachen in ‘unserer’ Welt" (196).

Vorsicht. Richtig ist, dass sich unterschiedene Welten bzw. Weltanschauungen gegenüberstehen, was von der "Kommunikation innerhalb eines bestimmten Weltbildes" (195) zu unterscheiden ist. Daraus folgt aber nicht direkt, dass die Rede von "kritisierbaren Geltungsansprüchen" nur dort, aber nicht auf der Ebene des interweltanschaulichen Dialogs anwendbar ist. Hier zeigen Jaeggi/Krieger die verbreitete Neigung, Weltanschauungen als in sich vollständig abgeschlossene Systeme zu denken, die nach jeweils eigenen "Kriterien von Wahrheit, Sinn und Recht" funktionieren und die ‘von aussen’ gar nicht kritisierbar sind.

Nun, es ist nicht falsch, z.B. einen konkreten religiösen Fundamentalismus als ein in sich geschlossenes System zu betrachten, aber ich behaupte, dass das eine sinnvolle ‘Kritik von aussen’ nicht ausschließt. Wenn ich zeigen kann, dass diese Weltauffassung auf bestimmten religiösen Annahmen beruht, die – vom subjektiven Überzeugtsein direkt zur objektiven Wahrheit übergehend – willkürlich dogmatisiert und zu ‘absoluten’ Wahrheiten erhoben werden, so habe ich damit einen schwerwiegenden Mangel aufgedeckt. Der für bestimmte Aussagen erhobene ‘absolute’ Geltungsanspruch ist kritisierbar und kritisiert. Der uneingeschränkt gläubige Fundamentalist wird diese Kritik natürlich einfach ignorieren und mit einer dogmatischen Handbewegung vom Tisch fegen, aber für einen ansatzweise selbstkritisch gewordenen Fundamentalisten kann sie relevant sein und dazu beitragen, dass ein Prozeß des Umdenkens in Gang kommt.

Die Theorie der in sich vollständig abgeschlossenen weltanschaulichen Systeme läuft auf einen Total-Relativismus hinaus, bei den Autoren freilich mit dem Zusatz, dass diese Systeme nun in einen friedlichen Dialog eintreten sollen. "In der Postmoderne ist universelle Kommunikation nur auf der Basis einer Kommunikation zwischen Grenzdiskursen möglich und nicht mehr nach dem aufklärerischen Modell von argumentativem Diskurs, der ja die Gültigkeitskriterien als unproblematisch gegeben voraussetzt, oder besser gesagt, seine Kriterien allen Parteien unterstellt." (196) Demnach gilt: Jedes System hat seine eigenen "Gültigkeitskriterien", und jegliche ‘Kritik von aussen’ begeht den Fehler, die eigenen Kriterien als unproblematisch vorauszusetzen bzw. dem fremden System zu unterstellen.

Dieses Argumentationsschema gilt, so behaupte ich, für die inhaltlichen Grundannahmen der jeweiligen Weltanschauung und deren Konsequenzen: Eine Kritik, die darauf beruht, dass ich inhaltliche Grundannahmen meiner Sichtweise der gegnerischen Weltanschauung unterstelle und dann z.B. logische Widersprüche konstatiere, ist unzulässig. Nicht gültig ist das Schema hingegen dort, wo es um die formale Art der Einführung der Grundannahmen geht: Eine Kritik, die Verfahren dogmatischer Setzung aufzeigt, mit deren Hilfe beliebige Annahmen auf scheinhafte Weise in den Status ‘absoluter’ Wahrheit eintreten können, ist möglich und zulässig. Mag z.B. ein religiöser Fundamentalist eine solche Kritik auch ignorieren oder aus ‘Glaubenssicherheit’ verwerfen, so sind doch Situationen denkbar, in denen sie, zumindest teilweise, für ihn relevant wird. Ich denke an Konflikte zwischen mehreren Fundamentalismen, in denen es ja um die Frage geht, welcher der geäußerten ‘absoluten’ Geltungsansprüche nun berechtigt ist und welcher nicht. Das zeigt auch, dass es sich hier nicht um eine bloße ‘Kritik von aussen’ handelt.

Nach Jaeggi/Krieger ist es Aufgabe des "fundamentalistischen" (‘fundamentalen’) Diskurses, "die Grenzen einer Kommunikationsgemeinschaft zu setzen" (209). Und diese Setzung, sei sie auch noch so krude dogmatisch, gilt als der Kritik entzogen; eben dadurch erweist sich der Ansatz als dogmatismus-begünstigend.

An dieser Stelle ist ein von den Autoren gegebenes Beispiel erhellend. "Wenn z.B. Hexen, Orakel und Geister normale Bestandteile eines bestimmten Weltbildes sind, dann werden in dieser Welt Aussagen über Hexerei und den Einfluss von Geistern als relevant und begründbar betrachtet." (212) Der Kern der Sache ist: Im Rahmen dieser Weltauffassung gelten z.B. Hexen als reale Wesen, während andere Weltauffassungen, vor allem profane, die Existenz von Hexen bestreiten.[43] Wenn man die Grundannahme ‘Es gibt Hexen’ akzeptiert, ergibt sich der Rest wie von selbst.

Die Annahme bzw. Setzung von Hexen ist konstitutiv für eine bestimmte Weltanschauung und die von ihr geprägte ‘Lebenswelt’. Sind solche Setzungen aber der Kritik entzogen? Keineswegs. Es handelt sich nicht bloß um einen einfachen ‘Glaubenssatz’, dem andere einen anderen ‘Glaubenssatz’ entgegenstellen. Gewiß, für den Hexengläubigen ist es sonnenklar, dass es Hexen gibt. Aber was ist, wenn wir den Sprung zwischen subjektivem Überzeugtsein und objektiver Wahrheit bedenken und den Finger darauf legen, dass der ‘Gläubige’ direkt vom ersteren zum letzteren übergeht? Dann erweist sich der ‘Glaubenssatz’ selbst als begründungsbedürftig. Auf dieser Ebene aber gilt: Glaubenssätze, die auf dogmatische Setzungen zurückgehen, sind in kognitiver Hinsicht wertlos, da dieses Verfahren völlig beliebig angewandt werden kann.

Daraus aber ergibt sich, dass "Gültigkeitskriterien" nicht schlechthin und durchweg weltanschauungs-relativ sind. Auch jemandem, der sich ganz innerhalb der fundamentalistischen ‘Logik’ bewegt und der jeden Zweifel abweist, ist das benutzte Kriterium nicht fremd, denn er weiß in anderen Kontexten sehr wohl zwischen subjektivem Überzeugtsein und objektiver Wahrheit zu unterscheiden – er wendet das Kriterium nur nicht auf die eigenen Grundannahmen an. Das alles zeigt, dass der Spielraum der "argumentativen Rationalität" – trotz der Weltanschauungs-Gebundenheit – größer ist, als die Autoren meinen.

Und der Hinweis auf das Entstehen des subjektiven Überzeugtseins, insbesondere bei den Heranwachsenden, kann das Geltungsproblem nicht lösen. Gewiß, "Überzeugung" erfolgt primär "über Prozeduren der ‘Sozialisation’, ‘Einweihung’ oder ‘Bekehrung’"; "man wird in das Spiel eingeführt und auf ähnliche Weise in eine Gesellschaft, eine Kultur, eine Religion sozialisiert oder enkulturiert" (214). Jede ‘herrschende’ Weltanschauung, z.B. zu einer gewissen Zeit auch die NS-Ideologie, wird durch Sozialisation vermittelt, d.h. in subjektives Überzeugtsein überführt. Und dennoch lassen wir es uns nicht nehmen, die Grundannahmen dieser Ideologie zu kritisieren.

In einem ‘fundamentalen’ Diskurs werden die Fundamente der eigenen Weltauffassung entweder ‘nachträglich’ expliziert oder primär gelegt bzw. entworfen. Mit Jaeggi/Krieger können wir im letzteren Fall sagen: "Grenzdiskurs eröffnet einen Seinsbereich, einen Welt- oder Sinnhorizont, ein Feld der Existenzmöglichkeiten, in das hinein wir eintreten können" (215). Für den ‘Gläubigen’, der den angebotenen Sinnhorizont akzeptiert, gilt: Das Verstehen des "Grenzdiskurses" fällt zusammen mit dem Für-wahr-halten. Das gilt jedoch, anders als die Autoren meinen, nicht generell, denn ich kann den "Sinnhorizont" auch verstehen, ohne in ihn ‘existentiell’ einzutreten.

Das tatsächliche "Eintreten in eine neue Welt" bzw. Weltanschauung können wir als "’Bekehrung’ (metanoia, conversio)" (215) bezeichnen. Diese Ausdrücke passen freilich besser auf einen Weltanschauungswechsel als auf die primäre ‘Vermittlung’ einer Weltanschauung im Sozialisationsprozeß. Das zeigen die folgenden Sätze: "Es geschieht eine völlige Wendung oder Umkehr in der Welt- und Lebensdeutung. Das alte Weltbild, das durch eine Sinnkrise zusammengebrochen war, wird aufgegeben und man nimmt eine neue Weltsicht an." (215) Das kann, insbesondere bei religiösen Weltauffassungen, mit "Prozeduren der Einweihung, Initiation" (215) verbunden sein.

Zu stark auf religiöse "Bekehrungen" zugeschnitten sind allerdings die folgenden Sätze: "Die ‘frohe Botschaft’ der neuen Welt verlangt, verkündet zu werden. Der Konvertit ist auch Missionar, Gesandter, Berufener, Ermächtigter. Grenzdiskurs konstituiert sich somit als Verkündigung und Mission, denn er artikuliert sich [...] als absoluter Wahrheitsanspruch, als exemplarische Lösung einer Lebens- und Sinnkrise, als Entwurf eines totalistischen, einheitlichen Sinnhorizontes, der transzendenten Ursprungs ist und in dessen Namen das Individuum spricht." (215f.) Diese Bestimmungen sind nur zum Teil auf ‘Konversionen’ zu profanen Weltanschauungen übertragbar; so wird hier nicht angenommen, dass der "Sinnhorizont" im Wortsinn "transzendenten Ursprungs" ist und dass das Individuum "in dessen Namen" spricht. Profane Fundamentalismen können jedoch das Sprechen im Namen einer höheren Instanz auf profane Instanzen wie den ‘Sinn der Geschichte’ übertragen.

Und wenn wir die primäre Weltanschauungsvermittlung in der Sozialisation bzw. Enkulturation einbeziehen, so gilt nicht in allen Fällen, dass "das ganze Leben aufs Spiel gesetzt" und "totales Engagement" (216) verlangt wird.

Fraglich ist auch, ob wir bei allen weltanschaulichen Konversionen mit einer "’grundlosen’ Glaubensentscheidung" (216) zu rechnen haben. Wird denn nicht eine "neue Weltsicht", zumindest in einigen Fällen, angenommen, weil sie Sinn-Probleme zu lösen geeignet ist, die das "alte Weltbild" nicht zu lösen imstande war? Überhaupt ist fraglich, ob man sagen kann: "die einzige Kritik einer Mission ist eine Gegen-Mission, wie die einzig mögliche Kritik einer Offenbarung eine andere Offenbarung ist" (216) .

Richtig ist, dass die Annahme einer neuen Weltsicht, die sich im "Grenzdiskurs" vollzieht, immer eine "Trennung zwischen denjenigen, die zugehören und denjenigen, die ausgeschlossen sind", bedeutet: "Grenzdiskurs ist somit einschliessend-ausschließend" (216). Damit hängen die weltanschaulichen Gegnerschaften zusammen. Wenn wir die Ausdrücke nur ‘formal’ verstehen, können wir sagen, dass mit der Annahme einer Ideologie(+), sei sie nun religiös oder profan, immer die Unterscheidung zwischen Gläubigen und Ungläubigen gesetzt ist. Demgegenüber scheint die "Unterscheidung zwischen den ‘Geretteten’ und den ‘Verdammten’, zwischen den ‘Auserwählten’ und den ‘Ausgeschlossenen’" (216) nicht für alle Weltanschauungen konstitutiv zu sein. Und die These, Grenzdiskurs artikuliere sich "als Wiederholung einer immer schon geschehenen Offenbarung oder Sinngebung" ist wiederum zu stark auf religiöse Weltauffassungen zugeschnitten: "Es wird somit nicht etwas Neues verkündet, sondern das, was immer so war und immer so sein wird, seit dem Anfang aller Dinge" (216)[44]. Im religiösen Grenzdiskurs hat die "Rede von dem, was am Anfang der Welt geschehen ist", zentrale Bedeutung. In profanen Weltauffassungen wird die "Kontinuität einer Tradition, zu der man ‘gehört’" (216), in der Regel auf andere Weise begründet, eine "Traditionsgemeinschaft der Zugehörigen" (217) gibt es jedoch auch hier.

Im "Vollzug des Argumentierens", das immer weltanschauungsgeprägtes Argumentieren ist, wird – bewusst oder unbewusst – versucht, "das Weltbild des Sprechers durchzusetzen" (218) .Der "Grenzdiskurs" ist mit "Macht" verbunden. "Solidarität durch einen Konsensus" kann nur dort erzielt werden, wo Solidarität hinsichtlich der weltanschaulichen Grundlagen besteht – "Solidarität in einer Gemeinschaft des Bekennens" und eventuell auch des "rituellen Darstellens" (218) .

Der Grenzdiskurs nähert sich jedoch der "Willkürlichkeit eines Machtspruches" an, da "das Setzen von Regeln ohne Verweis auf eine externe Instanz", ohne "die Möglichkeit einer Korrektur von aussen" geschieht (218). Der interreligiöse bzw. interweltanschauliche Dialog soll hier Abhilfe schaffen. "Die blosse Wiederholung einer Verkündigung in der Begegnung mit anderen Mythen [hier = Weltanschauungen? P.T.] ist an sich kein kommunikatives Handeln. Ein verabsolutierter Grenzdiskurs ist wie eine ‘Privatsprache’, die behauptet, dass das, was sie jeweils als richtig setzt, richtig sei." (219) Hier gibt es, wie man sieht, Berührungspunkte mit meiner Diagnose. Es fragt sich nur, wie die "Korrektur von aussen" gedacht wird, die auf der dritten Diskursebene, im "Erschliessungsdiskurs", stattfinden soll.

Wie bereits erwähnt, ist es grundsätzlich zu begrüssen, wenn ein "Raum der Begegnung und gegenseitigen Verständigung zwischen Grenzdiskursen" (219) – und damit zwischen Weltanschaungen – erschlossen und dann auch genutzt wird. Erstens ist es möglich, dass Anhänger unterschiedlicher Ideologien(+) einander verstehen, wobei die Denkformanalyse hilfreich sei kann. Zweitens können sie voneinander profitieren, d.h. A enthält vielleicht Elemente, die in B bislang noch nicht enthalten, aber mit B vereinbar sind; der Anhänger von B kann von von A lernen und sich Elemente aus A transformierend aneignen. Drittens können die Anhänger unterschiedlicher Weltanschauungen ihre Gegnerschaften offen austragen und das jeweilige Kritikpotential nutzen, wie an der Fundamentalismuskritik aus der Sicht offener Profanität beispielhaft vorgeführt. Viertens können die ‘Begegnungen’ in Einzelfällen zu einem individuellen Weltanschauungswandel, zu einer Konversion führen, und eine Vielzahl von Konversionen kann wiederum sozio-kulturelle Konsequenzen haben.

Konversionen sind sicherlich Sonderfälle. In der Regel findet die ‘Begegnung’ von einer bestimmten Position aus statt, deren Grundlagen durch die ‘Begegnung’ nicht wesentlich verändert werden. Die jeweilige Position steuert die Prozesse der selektiven Aneignung wie auch die kritische Auseinandersetzung.

Jaeggi/Krieger sehen das zumindest teilweise anders. Nach ihrer Auffassung ist der "Erschliessungsdiskurs" durch eine "Pragmatik" bestimmt, die "Macht in Rationalität verwandelt. Handlungen, die sonst ausserhalb des Bereiches von Diskurs fallen, und das sind alle Machthandlungen, werden erst auf dieser Ebene in den Diskurs eingeholt." (219) So wird eine "unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft, d.h. eine wahrhaft entgrenzte oder universale Rationalität" (219) gestiftet. Von einer "unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft" könnte man dann sprechen, wenn tatsächlich jede gegenwärtig vertretene Weltanschauung in den "Raum der Begegnung" eingetreten ist; de facto sind einige Weltanschauungen aber an solchen ‘Begegnungen’ gar nicht interessiert. Es handelt sich also eher um das Ideal einer "unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft", dem wir uns höchstens annähern können. Bedenklich ist ferner die Rede von der Stiftung einer "universalen Rationalität", denn in puncto Auseinandersetzung ist der "Raum der Begegnung" ja ein Kampfplatz, auf dem sich unterschiedliche Auffassungen von "Rationalität" gegenüberstehen, zwischen denen, wie die Auasführungen zum Fundamentalismus zeigen, kein Konsens möglich ist.

Die Autoren zeigen noch in einem weiteren Punkt die Neigung, ihre eigenen Ideale auf unzulässige Weise in die Argumentation einzuschmuggeln. Ihr zentrales Anliegen ist offenbar, dass (religiöse) Weltanschauungen gewaltlos vertreten werden. Und dieses Ideal wird als Ergebnis der "sprachpragmatischen Analyse" ausgegeben: "um eine Aussage auf der Ebene von fundamentalistischem Grenzdiskurs zu verstehen, muss man nun wissen, wie man sie gewaltlos vertreten kann, sonst verfällt sie der [...] Sinnlosigkeit." (219)

Das ist eine bloße Behauptung, die angesichts der Fundamentalismusanalyse als ‘utopisch’ erscheint. Das gewaltsame Vertreten und Durchsetzen einer Weltanschauung ergibt sich doch, wie an Varianten von RF 2 gesehen, aus bestimmten Annahmen, etwa aus einer messianischen Geschichtsauffassung. Wenn ich diese Annahmen akzeptiere, dann ist es z.B. meine Aufgabe, den Willen Gottes politisch durchzusetzen und die bösartigen Feinde der ‘Wahrheit’ zu bekämpfen, wenn nötig mit Gewalt. Es ist nicht erkennbar, wie man die relevanten Aussagen "gewaltlos vertreten kann". Das Ideal der Gewaltlosigkeit entstammt der persönlichen Weltanschauung der Autoren, und es soll durch die "sprachpragmatische Analyse" offenbar mit höheren Weihen ausgestattet werden.[45]

Der "Raum der Begegnung" zwischen den Ideologien(+) wird ‘idealistisch’ mißverstanden – berücksichtigt man die Dimensionen der Aneignung und des Austragens der Gegnerschaften, so wird man kaum sagen können, es gehe hier "um das schlichte Sich-verständigen ohne Bestimmung und Begrenzung von persönlichen und kollektiven Identitäten", um eine "Handlung, die in ‘purem menschlichen Miteinandersein’ geschieht" (220). Das bedeutet freilich nicht, dass "keine Kommunikation über die jeweiligen Grenzen der Gruppe, der Gemeinschaft, der Kultur oder Religion" stattfinden könne, es bedeutet nur, dass diese Kommunikation sich anders vollzieht, als Jaeggi/Krieger sich das – wunschgeleitet – vorstellen. Das "Ideal einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft" ist, so verstanden, eine bloßes Ideal, das – Habermas folgend – als "in jedem Sprechakt contrafaktisch vorausgesetzt" nur behauptet wird. Die "Tiefenstruktur der Ausschliessung/Einschliessung" ist in Wahrheit unübersteigbar, und jede interreligiöse bzw. interweltanschauliche Begegnung findet innerhalb dieser Struktur statt. Eine "Begegnung von Eigenem und Anderem in einem Raum, der nicht von der [...] Dynamik der Ausschliessung/Einschliessung strukturiert wird" (220), kann es aufgrund der unaufhebbaren Weltanschauungs-Gebundenheit und den damit zusammenhängenden Gegnerschaften prinzipiell nicht geben. Die Idee einer "gegenseitigen Teilnahme an den verschiedenen Religionen" scheint mir, insofern sie über das ‘einfache’ Verstehen weit hinausgeht, nicht ‘lebbar’ zu sein: "Hier muss die Stellung des Beobachters verlassen und die andere Religion von innen kognitiv und affektiv ‘angenommen’ werden." (221) Ich sehe demgegenüber nur die Alternative zwischen Konversion zu einer anderen Weltanschaung und Aneignung anderer Weltanschauungen, die gesteuert ist von der eigenen Position. Die postulierte "nicht ausschliessende, nicht konfessionelle, d.h. ‘reflektierte’ Bekehrung" (221) erscheint daher als Deckmantel für diese Möglichkeiten.

De Spannung zwischen religiösen und profanen Weltanschauungen wird von den Autoren ebensowenig bedacht wie die eigentliche Fundamentalismusproblematik. Ist es z.B. sinnvoll, angesichts einer fundamentalistischen Denkform die "Bereitschaft" zu fordern, "die Bekehrungserfahrung auf beiden Seiten und immer neu zu machen" (221)? Ist diese Rede nicht ganz auf den Fall einander ‘nahestehender’ Religionen zugeschnitten? Die "Bereitschaft, Weltbildtransformationen zu akzeptieren", sollte nicht überstrapaziert werden.

Jaeggi/Krieger wenden sich auch der "Entstehungsgeschichte" des "postmodernen Pluralismus" zu. "Weltanschauliche Fragmentation nach innen begleitete die Relativierung westlicher Ansprüche nach kultureller Überlegenheit nach aussen." (196) Ich stimme (selbstverständlich) der Kritik am "Programm einer europäischen Weltherrschaft" und am "Kolonialimperialismus" zu, möchte aber die Kritik am "universalistischen Denken" etwas genauer untersuchen. Insbesondere interessiert mich folgende These: "Im posthistorischen Zeitalter, d.h. in einer globalen Kultur, hat der apologetische Universalismus ausgedient." (196)

Hier scheint nämlich wieder die Vermengung von Gleich-Zeitigkeit und Gleich-Gültigkeit der Weltanschauungen ins Spiel zu kommen. Jedes Überzeugungssystem kann einräumen, dass gleichzeitig mit ihr andere Auffassungen existieren, doch aus der Tatsache, dass keine Weltanschauung universell anerkannt wird, folgt nicht, dass keine universellen Geltungsansprüche (mehr) erhoben werden können. Selbstverständlich erheben z.B. religiöse und profane Fundamentalismen auch in einer Situation des faktischen Weltanschauungs-Pluralismus weiterhin den Anspruch, über eine ‘absolute’ Wahrheit zu verfügen; für sie gibt es weiterhin die Wahrheit. Die diversen "Orientierungsmodelle" haben heute keineswegs "ihren absoluten Wahrheitsanspruch eingebüsst" (195), was sie eingebüßt haben, ist nur der Status, das einzig denkbare Modell zu sein – immer mehr Menschen werden sich dessen bewusst, dass es zu jedem Modell Alternativen gibt. Wenn es aber auf der Ebene der Geltungsansprüche weiterhin "universalistisches Denken" gibt, so hat vielleicht auch der "apologetische Universalismus" nicht ausgedient.

Die postmodernistische "Skepsis gegenüber den Metaerzählungen" (Lyotard)[46] kann im gegenwärtigen Zusammenhang als (relativistische) Skepsis gegenüber den verschiedenen weltanschaulichen Absolutheitsansprüchen aufgefasst werden. Diese Skepsis ist jedoch, was häufig übersehen wird, selbst nur eine Stimme im heutigen Weltanschauungskonzert – sie ist nicht die objektiv gültige Beschreibung der gegenwärtigen Situation. Versteht man sie als eine

solche Beschreibung, so ist sie vielmehr eindeutig falsch, da ja von anderen Stimmen weiterhin Absolutheitsansprüche erhoben werden.

Begreifen wir eine ‘Metaerzählung’ hingegen allgemeiner als den Kernbestand einer Weltanschauung, so gilt: Der Postmodernismus ist selbst eine Ideologie(+) mit zugehöriger Metaerzählung; von anderen (z.B. von fundamentalistischen) Weltauffassungen unterscheidet er sich durch die total-relativistische Ausrichtung. Legt man diese Begriffsverwendung zugrunde, so kann die "ausschliessende und zugleich einschliessende Struktur von Metaerzählungen" eben nicht auf das "historische Zeitalter" (197), auf die vor-postmoderne Zeit begrenzt werden, diese Struktur scheint vielmehr konstitutiv für Weltanschauungen überhaupt zu sein.

Jaeggi/Krieger sprechen davon, dass "parallel existierende Traditionen und Religionen in die unilineare Geschichte eines Volkes mehr oder weniger gewalttätig aufgehoben" (197) werden. Ich meine, dass die Kritik an Formen gewalttätiger Aufhebung nicht ohne weiteres alle ‘Aufhebungsversuche’ treffen muss. ‘Aufhebungsversuche’ (in einem hegelnahen Sinn von ‘Aufhebung’) kann es nämlich im Prinzip innerhalb jeder Weltanschauung geben. Hier gilt: "Weltauffassungen, die von der normalen Sinnwelt einer Gesellschaft abweichen, stellen eine Existenzbedrohung für die Gruppe dar. Um die eigene Existenz abzusichern, muss eine Gruppe demnach Techniken entwickeln, die ihr erlauben, alles, was neu und fremd ist, in die eigene Struktur zu integrieren." (197f.) Gehört nicht zu jeder Ideologie(+) die "Funktion der Verteidigung und Durchsetzung einer normativen Gesamtauffassung der Wirklichkeit" (198)? Vollzieht nicht auch der Postmodernismus eine solche (sachlich allerdings fragwürdige) Integration in die "eigene Struktur", indem er das eigene, aus dem Total-Relativismus stammende Postulat der "Gleich-Gültigkeit" als objektive Eigenschaft der gegenwärtigen Situation ausgibt?

Jaeggi/Krieger meinen, eine Position jenseits des "apologetischen Universalismus" erreicht zu haben. Daher können sie ihn kritisch darstellen. "Es wird zuerst das Recht des anderen auf eigene Wahrheit neutralisiert, sodann zweitens, werden was immer für Wahrheiten, die der Andere hat, enteignet und schliesslich drittens, werden diese in die eigene Position integriert." (198) Diese "grenzziehenden Techniken der Einschliessung und Ausschliessung" sollen offenbar grundsätzlich ‘überwunden’ werden.

Ich behaupte demgegenüber, dass "Einschliessung und Ausschliessung" notwendig zu jeder Weltanschauung gehören, mögen spezifische "grenzziehende Techniken" auch variieren. Erstens schließen die jeweiligen grundlegenden Weltbild- und Wertannahmen immer konkurrierende Annahmen aus, zweitens aber ist es im Prinzip immer möglich (wenngleich diese Möglichkeit nicht immer genutzt wird), Elemente aus anderen Weltauffassungen durch Umdeutung gemäß den eigenen Prinzipien zu integrieren. Jede derartige Integration stärkt die eigene Position und erleichtert ihre "Verteidigung" und "Durchsetzung", z.B. in dem Sinn, dass Gegner nun durch die Umdeutung ihrer eigenen Prinzipien ‘geneigt’ werden, ihre bisherige Position zu verlassen und die des bisherigen Opponenten anzunehmen.

Es ist also nicht zulässig, "grenzziehende Techniken der Einschliessung und Ausschliessung" generell zu verwerfen, die Kritik kann sich nur gegen bestimmte Techniken dieser Art richten, und dies wiederum auf der Ebene weltanschaulicher Auseinandersetzung. Für die Position offener Profanität etwa gilt, dass die auf Umdeutung beruhende Integration ‘fremder’ Weltanschauungselemente in die eigene Struktur grundsätzlich positiv zu werten ist – eine solche Integration ist ein Mittel zur ‘Bereicherung’ und zum möglichst weitgehenden und konsequenten Ausbau des eigenen Überzeugungssystems. Die Integrationsfähigkeit ist ein Index für die Kraft eines Überzeugungssystems. Und mit den Integrationsleistungen nehmen die Chancen auf Verbreitung zu.

Bei der Analyse konkreter Integrationen sollten immer mehrere Leitfragen berücksichtigt werden. Erstens: Welche ‘fremden’ Weltanschauungselemente werden in die eigene Position eingebaut? Zweitens: Durch welche Umdeutungen wird der Einbau möglich? Drittens: Welche Konsequenzen hat die Integration für die betroffenen anderen Weltauffassungen?

Die Ausführungen zum Christentum erweisen sich in diesem Kontext als instruktiv. Sie zeigen, dass die mit der eigenen Position verbundenen Wahrheits- und Überlegenheitsansprüche in der "Apologetik" konsequent umgesetzt werden. In der "Auseinandersetzung mit dem Judentum" werden die Konsequenzen der eigenen religiösen Grundüberzeugungen entfaltet. Dass "die Christen die jüdische Schrift, das Alte Testament, für sich beanspruchten", ergibt sich z.B. aus der Annahme, dass diese Schriften die "Vorbereitung auf oder Erziehung zu Christus" darstellen (199). Wenn sich unterschiedliche Religionen auf denselben Textkorpus beziehen, so müssen "grenzziehende Techniken der Einschliessung und Ausschliessung" angewandt werden. Hier ist allerdings zwischen geschlossener und offener Religiosität zu unterscheiden. Während erstere das "Existenzrecht einer anderen Auffassung der Wirklichkeit" bestreitet, kann letztere dem Anderen ein Recht auf "eigene Wahrheit" zugestehen (199).

Ferner können die Begründungen, die für den Einbau ‘fremder’ Weltanschauungselemente gegeben werden, kritisch analysiert werden, etwa die christliche "Behauptung, dass alles Positive in der griechischen Kultur entweder von Moses geliehen war oder unmittelbar den Griechen von Christus selbst als präexistenter Logos offenbart wurde" (200). Solche Behauptungen stellen natürlich eine fragwürdige ‘Enteignung’ dar, die aufgrund eines Dogmas erfolgt; dennoch bleibt die Integration der "Wahrheiten" des Anderen in die "eigene Position" ein legitimes Unterfangen. Es ist nichts Schlechtes daran, "verschiedene Strömungen in sich aufzunehmen und zu vereinigen" (200). Mit solchen Integrationen ist die allgemein verstandene "Methode der Apologetik" (201) notwendig verbunden; welche speziellen Techniken verwendet werden, hängt jedoch vom Weltanschauungstyp ab. So kann sich auch eine "rein säkulare Apologetik" (202) entwickeln.


[34] Die These von den "versteckten fundamentalistischen Zügen im Säkularismus" geht in dieselbe Richtung wie die These, dass "die Aufklärung selber durchaus ‘religiös’ geworden ist"; das wiederum dient als Begründung dafür, "dass das alte Schema Aufklärung contra Religion heute seine Gültigkeit verloren hat" (188).

[35] Wenn menschliches Lebens weltanschauungsgebunden ist, so gilt: Alle Menschen, auch die "heutigen säkularisierten Menschen", haben eine "bestimmte Auffassung der Wirklichkeit als Ganzes" und beziehen eine "gewisse Grundstellung des Menschen im Kosmos" (189) – sie sind sich dessen aber häufig nicht bewusst

[36] Vgl. die Auseinandersetzung mit Eliade in: P. Tepe/H. May: Mythisches, Allzumythisches II. Abenteuer und alte und neue Mythen. Ratingen 1996, S. 49-98.

[37] "Die Wahrheit gibt es nicht mehr. An die Stelle der einen Weltgeschichte ist eine Gleich-Zeitigkeit und Gleich-Gültigkeit von verschiedenen Weltbildern, Ideologien und Religionen getreten." (195)

[38] Arbeitet ein ‘Profaner’ mit der Opposition modernprämodern, so wird er ferner den ‘modernen’ Fundamentalismus nach dem "Schema eines Rückfalls oder Flucht in eine prämoderne Phase der Entwicklung der Menschheit" (194) deuten.

[39] Setzt man ‘Ideologie’ mit ‘Weltanschauung’ gleich, so gilt: Es gibt "kein ideologiefreies Denken", und zwar nicht erst im "postmodernen Wissenskontext" (191).

[40] Dieselbe Kritik trifft auch den folgenden Fragesatz: "Ist es nicht möglich, dass die Rationalität der abendländischen Aufklärung in einer globalen, pluralistischen Gesellschaft nur lokale Gültigkeit hat?" (195)

[41] Nach Jaeggi/Krieger wird "die Fähigkeit kommunikativ über die Grenzen des eigenen Weltbildes hinaus und d.h. in Solidarität mit dem Andersdenkenden, zu handeln, [...] eine humane Gemeinschaft in der globalen Situation stiften" (233).

[42] Auffällig ist, dass die Autoren als einziges Beispiel für einen ‘schlechten’ "kulturellen Universalismus" die "europäische Aufklärung" (192) nennen, während sie von der "religiösen Erneuerung", ohne auf fundamentalistische Strömungen näher einzugehen, einen ‘guten’, differenz-freundlichen Universalismus erwarten. Das ist nicht nur eine absurde Totalverdammung der "europäischen Aufklärung", wie sie für viele religiöse Strömungen charakteristisch ist, sondern zeigt auch eine erstaunliche Blindheit für die Gefahren, die mit etlichen religiösen Erneuerungen verbunden sind.

[43] Entsprechendes gilt für "Wunder": Die einen glauben an Wunder, die anderen bestreiten, "dass es überhaupt Wunder gibt".(213). Wenn man die Grundannahme ‘Es gibt Wunder’ akzeptiert, kann man mit ‘Gleichgesinnten’ über die "wunderhafte Qualität eines bestimmten Ereignisses" (213) kommunizieren usw.

[44] "Grenzdiskurs verneint Zeit und Geschichte und somit eine bestimmte Art von Wissensfortschritt. Er artikuliert sich als Rede von dem Ewigen, Unwandelbaren, Identischen." (217)

[45] Im Abschnitt "Die Politik des Gewissens" (223ff.) wird im Anschluß an Gandhi ein Konzept politischer Gewaltlosigkeit entwickelt.

[46] Vgl. die Auseinandersetzung mit Lyotard in: P. Tepe: Postmoderne/Poststrukturalismus. Wien 1992, S. 109-146.

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