[zurück]

8.2 Weltanschauungs-Gebundenheit und säkularer Rechtsstaat

In welchem Verhältnis steht der säkulare Rechtsstaat zum Fundamentalismus? Und gerät das Theorem der unaufhebbaren Weltanschauungs-Gebundenheit nicht in Konflikt mit der Auffassung, der säkulare Rechtsstaat sei weltanschaulich neutral?

Bezugstext: H. Bielefeldt: Zwischen laizistischem Kulturkampf und religiösem Integralismus: Der säkulare Rechtsstaat in der modernen Gesellschaft. In: H. Bielefeldt/W. Heitmeyer (Hg.): Politisierte Religion, a.a.O., S. 474-492.

Bielefeldt vertritt die These, "daß die Säkularität der politisch-rechtlichen Ordnung für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Orientierung in einer freiheitlichen Demokratie unumgänglich ist", er verteidigt also den "säkularen Rechtsstaat" (474). Er wendet sich jedoch kritisch gegen "Formen der ideologischen Vereinnahmung des säkularen Staates", die den "Raum des politischen Diskurses einseitig weltanschaulich okkupier[en] und dadurch zerstör[en]" (474f.).

Meine Bedenken richten sich ausdrücklich nicht gegen das Prinzip des säkularen Rechtsstaates, sondern gegen die Durchführung der Ideologiekritik, d.h. hier: der Kritik an diversen "Ideologisierungen der Säkularität". Bielefeldts Kritikstrategie vernachlässigt nämlich die Dimension der unaufhebbaren Weltanschauungs-Gebundenheit, und sie arbeitet darüber hinaus mit Vermengungen im Begriff der Säkularität.

Zunächst daher ein paar Worte zum leitenden Begriff des "säkularen Rechtsstaats" und seiner Einführung bei Bielefeldt. Unter der "Säkularität der politisch-rechtlichen Ordnung" scheint er die "institutionelle Trennung von Staat und Kirche" (476) sowie dann generell die Trennung von Staat und Weltanschauung (religiöser oder profaner Art) zu verstehen. Diese Trennung gilt als Voraussetzung für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher weltanschaulicher Orientierung.

Unberücksichtigt bleibt, dass z.B. die Trennung von Staat und Kirche nicht notwendigerweise mit dem Ziel verbunden ist, ein friedliches Zusammenleben von Anhängern unterschiedlicher Weltanschauungen zu ermöglichen. Man kann für diese institutionelle Trennung ja auch votieren, um einer anderen Weltauffassung eine Monopolstellung zu sichern. Einer solchen Richtung kann aber nicht ohne weiteres vorgeworfen werde, sie liefere eine verfälschende "Ideologisierung der Säkularität", da sie ja das Ziel, eine friedliche Koexistenz von Weltanschauungen zu gewährleisten, überhaupt nicht verfolgt. Es wird nur das Prinzip der "Trennung von Staat und Kirche" aufgenommen und mit einem neuen weltanschaulichen Monopolanspruch verbunden. Zu unterscheiden ist also zwischen der ‘kleinen’ Säkularität (Prinzip der Trennung von Staat und Kirche) und der ‘großen’ Säkularität (hier kommt das erwähnte Ziel hinzu, das in gewisser Hinsicht einen Weltanschauungs-Pluralismus voraussetzt). Die ‘kleine’ Säkularität ist mit "politischer Ausgrenzung, Diskriminierung und Entmündigung" (475) durchaus vereinbar.

Schauen wir uns Bielefeldts Ideologiekritik genauer an. Eine "Ideologisierung der Säkularität", d.h. hier: eine einseitige weltanschauliche Okkupation, sieht Bielefeld zunächst einmal im "Säkularismus", der als "antireligiöse oder postreligiöse Ideologie" begriffen wird. "Die im Namen der Menschenrechte und der Religionsfreiheit verlangte institutionelle Trennung von Staat und Kirche geriet [...] in das Fahrwasser eines antiklerikalen, gelegentlich sogar eines antireligiösen Kulturkampfes." (475f.) Der Säkularismus nahm "schließlich selbst weltanschauliche Züge an" und schlug bei Comte sogar "in eine neue atheistische Quasireligion um" (476).

Es entsteht der Eindruck, dass die "Säkularität des modernen demokratischen Rechtsstaats" im Kern weltanschauungs-neutral ist, dann aber "weltanschauliche Züge" annehmen kann, wenn sie durch Ideologien wie die "Fortschrittsideologie August Comtes" vereinnahmt wird. Hier wird jedoch die Zielsetzung des säkularen Staates, das "friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Orientierung" zu ermöglichen, vermengt mit der Unabhängigkeit von "religiöser und weltanschaulicher Orientierung". Ich behaupte demgegenüber, dass der säkulare Rechtsstaat – im Sinn der ‘großen’ Säkularität – ein Ziel verfolgt, auf das sich mehrere (aber nicht alle) weltanschaulichen ‘Parteien’ einigen können. Dabei stehen die Pluralisten, welche die friedliche Koexistenz konkurrierender Weltauffassungen bejahen, den Monisten gegenüber, die – in der Regel einem ‘wahrheitspolitischen’ Konzept folgend – eine bestimmte Ideologie(+) umfassend durchsetzen wollen und daher die Sicherung des Weltanschauungs-Pluralismus nicht als ‘gemeinsamen Nenner’ anerkennen können.

Eine "antireligiöse oder postreligiöse Weltanschauung" monistischer Art kann natürlich ebenfalls die "institutionelle Trennung von Staat und Kirche" fordern, aber sie teilt nicht das Ziel, ein friedliches Zusammenleben von Anhängern unterschiedlicher Weltanschauungen zu ermöglichen – sie will ja eine Ideologie(+) definitiv durchsetzen. Daher kann gar nicht von einer "fortschrittsideologisch-laizistischen" Form der "ideologischen Vereinnahmung des säkularen Staates" gesprochen werden, da das zuvor diesem Staat zugeschriebene Ziel ja gar nicht akzeptiert wird – die ‘große’ wird also mit der ‘kleinen’ Säkularität vermengt. Die Monopolstellung einer bestimmten religiösen Weltanschauung soll ja durch die Monopolstellung einer profanen, dezidiert "antireligiösen" Weltanschauung ersetzt werden. Es geht hier um die "Verdrängung der traditionellen Staatsreligion durch eine moderne, fortschrittliche Staatsideologie liberalistischer oder sozialistischer Prägung" (476).

Selbstverständlich kann eine "antireligiöse oder postreligiöse Weltanschauung", etwa in der Gestalt des "weltanschaulichen Positivismus", von anderen Positionen aus kritisiert werden. Zunächst einmal ist sie jedoch als eine Ideologie(+) unter anderen zu behandeln. Sie nimmt eine Radikalisierung des ‘kleinen’ Säkularismus vor, die auf ein Monopol für eine antireligiöse Ideologie(+) hinausläuft. Von einer "Ideologisierung des Säkularismus" im Sinn einer Ideologie(-) der ‘großen’ Säkularität kann hingegen, wie bereits dargelegt, nicht gesprochen. werden. Und es sollte auch der Eindruck vermieden werden, der Aufbau einer umfassenden säkularen oder profanen Weltanschauung sei als solcher schon eine Fehlentwicklung. Wenn unterschiedliche weltanschauliche Orientierungen zugelassen werden, so muss natürlich auch deren konsequente Entfaltung zugelassen werden.

Bielefeldts Terminologie erweist sich hier als unglücklich. Es ist nämlich nicht der "weltanschauliche Säkularismus" (säkular-profane Weltanschauung) als solcher, der – wie die "Staatsreligion" – "Andersgläubige an den Rand" drängt und einen "umfassenden politischen Herrschaftsanspruch" erhebt, das Gesagte gilt vielmehr nur für profane Weltanschauungen monistischer (und fundamentalistischer) Art.

Nach Bielefeldt gehört "der europäische Kulturkampf zwischen weltanschaulichem Säkularismus und kirchlichem Christentum weitgehend der Vergangenheit an", wenngleich sich "Elemente eines ideologischen Säkularismus auch heute noch finden. Dazu gehört die oft unreflektierte Unterstellung, Religion sei in der Moderne zur bloßen Privatsache geworden und habe in der Öffentlichkeit, zumal in der politischen Öffentlichkeit, keinen legitimen Ort." (477)

Nach meiner Auffassung finden weltanschauliche Kämpfe, die stets auch Kulturkämpfe sind, immer statt [47]; bestimmte neue Kampf-Konstellationen treten dabei jedoch zuweilen an die Stelle der alten. Früher vorherrschende Positionen können aber nach wie vor vertreten werden, sei es nun ‘vollständig’ oder in Teilen. Für eine antireligiöse Weltanschauung monistischen Typs stellen "öffentliche Manifestationen religiösen Glaubens und religiöser Praxis" natürlich unerträgliche "Provokationen" dar (477). Daraus folgt jedoch auf der anderen Seite nicht, dass Befürworter des Weltanschauungs-Pluralismus jede öffentliche Manifestation religiösen Glaubens akzeptieren müßten. So ist das "islamische Kopftuch an öffentlichen Schulen" (476) seitens der Schüler eher akzeptabel als seitens der Lehrer.

Bielefeldt wendet sich nun der "christlichen Vereinnahmung der Säkularität" (478) zu. Gemeint ist damit z.B. die Auffassung, die Säkularität sei genuiner "Bestandteil des abendländisch-christlichen Kulturerbes" (478). "So erscheint die verfassungsrechtliche Trennung von Kirche und Staat in einigen zeitgenössischen christlichen Interpretationen als die historisch-notwendige Entfaltung einer im christlichen Glauben im Grunde ‘immer schon’ angelegten Differenz zwischen Religion und Politik, die sich bis in das Jesus-Wort ‘Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist [...]’ zurückverfolgen lassen soll." (479) Nebenbei bemerkt: das betrifft primär die ‘kleine’ und nicht unbedingt auch die ‘große’ Säkularität.

Wenn menschliches Leben immer weltanschauungs-gebunden ist, so folgt daraus, dass jede Ideologie(+) für die von ihr bejahten Prinzipien weltanschauungskonforme Interpretationen hervorbringen muss. Das gilt auch für politische Prinzipien. Wenn der Katholizismus die "Idealvorstellung eines ‘christlichen Staates’" (479) verfolgt, muss er dieses Konzept aus den eigenen weltanschaulichen Grundlagen heraus rechtfertigen; ebenso wenn er später seinen Frieden mit dem säkularen Staat macht. Diese Art der ideologischen "Vereinnahmung" ist – mein Argumentationsschema bleibt dasselbe – nicht als solche zu kritisieren; sie ist zunächst einmal ein Versuch, die ‘kleine’ und gegebenenfalls auch die ‘große’ Säkularität mit den Grundlagen der eigenen Weltauffassung kompatibel zu machen.

Davon ist die "Vereinnahmung" im Sinne der Ideologie(-) zu unterscheiden. Die ‘positive’ kann in eine (sachlich falsche oder zumindest fragwürdige) ‘negative’ "Vereinnahmung" umschlagen. Das ist z.B. dann der Fall, wenn der eigenen Weltanschauung, hier: dem Christentum, ein privilegiertes Verhältnis zum säkularen Staat zugeschrieben wird, etwa derart, dass dieser Staat nur aus dem Christentum heraus habe entstehen können oder sogar müssen. Hier gilt kritisch: "Die Säkularität des Staates mutiert somit schließlich zu einem quasitheologischen Begriff." (479)

Gegen Bielefeldt ist jedoch der ‘positiven’ "Vereinnahmung" das gute Gewissen zurückzugeben. Dass der säkulare Staat überhaupt "weltanschaulich okkupiert" und z.B. von Christen "christlich getauft" wird, ist, wenn man vom Theorem der unaufhebbaren Weltanschauungs-Gebundenheit ausgeht, völlig ‘normal’ und unanstößig. In kognitiver Hinsicht anstößig wird die Angelegenheit erst, wenn eine Okkupation mit Ausschließlichkeitsanspruch vorgenommen wird, die man als "einseitig christliche Begründung des säkularen Staates" (480) bezeichnen könnte. Das läuft nämlich darauf hinaus, dass "Menschen nichtchristlicher Orientierung [...] im Rahmen der christlich-säkularen Verfassungsordnung keinen legitimen Platz haben" (480). Und das widerspricht dem Ziel der ‘großen’ Säkularität, das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher weltanschaulicher Orientierung zu ermöglichen. Die Ideologiekritik kann sich also sinnvollerweise nur gegen derartige ‘negative’ Vereinnahmungen richten. [48]

Ideologien(+), die den Weltanschauungs-Pluralismus bejahen, werden eine solche Kritik zur Selbstkorrektur nutzen, denn diese Kritik zeigt ja gerade auf, dass man vom eigenen pluralistischen Grundprinzip, ohne dies zu bemerken, abgewichen und in Denkmuster zurückgefallen ist, die für den Weltanschauungs-Monismus und die ‘Wahrheitspolitik’ kennzeichend sind. Ein solcher Rückfall kann z.B. dort vorliegen, wo jemand darauf insistiert, "daß die politische Toleranz des demokratischen Verfassungsstaates ihr kulturelles Zentrum im christlichen Glauben hat, der somit für die politische Kultur des säkularen Staates im ganzen tragend bleiben muß" (480). Dem ist dann entgegenzuhalten, dass das Plädoyer für "politische Toleranz" nachweislich auch aus nichtchristlichen (und nicht-religiösen) Weltanschauungen hervorgehen kann.

Immer aber ist zu unterscheiden: das Projekt des säkularen Staates mit Weltanschauungs-Pluralismus (‘große’ Säkularität) und die weltanschauungs-gebundenen Begründungen für das Projekt; bei diesen Begründungen ist wiederum zwischen ‘positiven’ und ‘negativen’ Vereinnahmungen zu differenzieren. Das Christentum ist eine mögliche "geistig-kulturelle Basis der Toleranz", aber nicht die einzig mögliche.[49]

Bielefeldt will – im Sinn der ‘großen’ Säkularität – eine "politisch-rechtliche Ordnung" ohne "verbindliches weltanschauliches Fundament" (480). Er übersieht jedoch den sich aus der Ideologie(+)-Gebundenheit ergebenden Zwang für jede weltanschauliche Orientierung, der jeweiligen Ordnung eine zu den eigenen Prinzipien passende Interpretation zu geben.[50] Es ist Aufgabe vor allem der jeweiligen ‘ideologischen’ Gegner, den Finger auf die Punkte zu legen, an denen der Umschlag in eine kognitiv fragwürdige und den Weltanschauungs-Pluralismus gefährdende Vereinnahmung erfolgt.

Das ‘große’ Projekt des säkularen Staates lässt sich als eine Art Kompromiß begreifen, den mehrere Weltanschauungen miteinander geschlossen haben, der aber wiederum andere Ideologien(+) ausschließt, insbesondere die fundamentalistischen mit ihrer monistischen ‘Wahrheitspolitik’. Der "Kultur- und Weltanschauungskampf" (485) ist damit nicht beendet, er nimmt im Rahmen der Anerkennung des weltanschaulichen Pluralismus der Moderne nur eine neue Gestalt an. Und die Teilnehmer an diesem Kampf sollten sich bemühen, die eigenen Auffassungen von solchen Elementen zu ‘reinigen’, welche den erzielten Kompromiß durch einen umfassenden weltanschaulichen Anspruch monistischer Art wieder in Frage stellen.

Bielefeldt wendet sich nun den "islamischen Ideologisierungen" (481) zu. Zumeist wird der säkulare Staat abgelehnt, wobei wiederum zwischen ‘kleiner’ und ‘großer’ Säkularität unterschieden werden müsste. Den "muslimischen Autoren" erscheint der säkulare Staat entweder "als ein spezifisch christliches Modell, das für den Islam irrelevant ist, oder – und diese Sicht scheint zu dominieren – die Säkularität wird in die Nähe von politischem Atheismus gerückt und gilt damit per se als verwerflich" (481). Das sind jedoch schlichte Anwendungen der islamischen Ideologie(+), die nicht ohne weiteres als ‘negative’ "Ideologisierungen" verrechnet werden dürfen. Für eine strenge Religiosität liegt es in der Tat nahe, den Begriff der Säkularität als ‘verwestlicht’ völlig abzulehnen; wer ihn positiv aufgreift, zieht leicht den "Vorwurf der Ungläubigkeit" (481) auf sich. Ganz grundsätzlich wird die Ablehnung "bei islamisch-fundamentalistischen Politikern und Intellektuellen, die das ‘islamische System’ als überlegene Alternative gegen den säkularen Rechtsstaat ausspielen" (482). Eine "sakralisierte Umma-Demokratie" ist mit "politischem Pluralismus und liberalen Freiheiten" sowie mit einer "menschenrechtlich gedachten Religionsfreiheit" unvereinbar (482f.). "Wahre Freiheit ist nach Qutb nur in der bedingungslosen Unterwerfung unter das göttlicher Gesetz der Scharia möglich, weil einzig die Herrschaft Gottes der Verknechtung des Menschen durch den Menschen ein Ende setzen kann." (483)

Die kurz gestreiften islamischen Einschätzungen der Säkularität ergeben sich zunächst einmal aus den verschiedenen Varianten der islamischen Religion als Ideologie(+). Das schließt jedoch nicht aus, dass sie mit fragwürdigen Ideologisierungen(-) verbunden sind. Davon grenzt Bielefeldt nun eine "islamische Vereinnahmung des Säkularitätsbegriffs" ab. Die "islamische Theokratie" wird in dieser Argumentation vom "Klerikalismus westlicher Prägung" unterschieden, und es wird behauptet, "der schwierige Prozeß der Säkularisierung des Staates sei ein ausschließlich christliches Problem, weil nur das Christentum einen institutionalisierten Klerus hervorgebracht habe, dessen Autoritätsansprüche im Lauf der Jahrhunderte immer wieder mit den Machtansprüchen des Staates kollidiert seien, bis man den Streit schließlich durch institutionelle Trennung beider Bereiche geschlichtet habe" (484).

Diese Argumentation trägt deutliche Züge einer Ideologie(-), denn das allgemeine Problem der Trennung von Staat und Kirche bzw. Religion wird reduziert auf das spezielle Problem der Vermeidung einer "Priesterherrschaft". Eine Religion, die keinen "Klerus" (in einem näher zu bestimmenden Sinn) kennt, muss dessen Macht auch nicht beschränken; das ist geradezu trivial. Wird das "Ziel des säkularen Staates" aber auch für die eigene "klerusfreie Politik" reklamiert und behauptet, diese "sei im Islam im Grunde immer schon erreicht worden", so ist zwar der Weg frei, "den Begriff der Säkularität [...] islamistisch zu okkupieren", aber es wird verkannt, dass bereits das Konzept der ‘kleinen’ Säkularität gerade gegen die "Verquickung von Religion und Politik" gerichtet ist, welche die Islamisten doch verteidigen wollen (484). Die postulierte "Überbietung" des Westens "durch den Islam" ist also völlig unbegründet. "Mehr noch: In islamistischer Umdeutung wird die Säkularität zur Kehrseite des integralistischen Programms der unmittelbaren Einheit von Religion und Staat, so daß in radikaler Zuspitzung Säkularismus und Theokratie schließlich als identisch erscheinen." (485)

Im Gegenzug gegen die "Ideologisierungen der Säkularität" – die behandelten Phänomene sind freilich, wie gesehen, nur zum Teil unter diesen Begriff subsumierbar – möchte Bielefeldt den säkularen Staat gleichsam "entideologisieren", ohne einen "gänzlich ideologiefreien Standpunkt" zu beanspruchen (486). Er erklärt den "säkularen Rechtsstaat" für unverzichtbar, der versucht, "das friedliche Zusammenleben in einer pluralistischen modernen Gesellschaft so zu organisieren, daß die Vielfalt der Überzeugungen und Lebensformen gleichberechtigt zur Geltung kommen kann" (486). Ein solcher Staat schreibt nicht eine bestimmte "ideologische Orientierung" fest, sondern eröffnet eben den Raum für eine friedliche Weltanschauungs-Koexistenz.

Ich insistiere jedoch darauf, dass das Projekt des säkularen Rechtsstaats (‘große’ Säkularität) selbst weltanschauliche Grundlagen hat. Entscheidend ist hier, dass es nicht auf eine Ideologie(+) direkt zurückführbar ist, sondern dass sich mehrere Ideologien(+) darauf als gemeinsamen Nenner einigen können. Darüber hinaus ist jede der beteiligten Weltanschauungen genötigt, eine mit den eigenen Grundlagen kompatible Begründung des Projekts zu entwickeln, wobei es leicht zu ‘überschüssigen’ Ideologien(-) kommt.[51]

Innerhalb des durch "Anerkennung des Pluralismus" geschaffenen ‘Freiraums’ konkurrieren die beteiligten Ideologien(+) auf allen betroffenen Ebenen um die Hegemonie. Die "Anerkennung des Pluralismus" hat jedoch Grenzen, denn es werden, wenn das Projekt konsequent umgesetzt werden soll, ja nicht alle weltanschaulichen ‘Parteien’ uneingeschränkt zugelassen, vor allem diejenigen nicht, welche monistisch und fundamentalistisch ausgerichtet sind. Das aber heißt: Es sollen zwar viele, aber doch nicht alle "Überzeugungen und Lebensformen gleichberechtigt zur Geltung kommen".

Die Aufgabe des säkularen Staates besteht "nicht darin, eine bestimmte religiöse oder weltanschauliche Wahrheit als Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung zu schützen" (486) – gewiß, aber hinzuzufügen ist, dass dieser Staat den gemeinsamen politisch-rechtlichen Nenner mehrerer Weltanschauungen als Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung schützt. Man darf dies durchaus auch so formulieren, dass es im Interesse jeder am Kompromiß beteiligten Ideologie(+) liegt, einen allgemeinen "Verzicht des Staates auf Eingriff in religiöse und weltanschauliche Überzeugungen" (487) zu unterstützen.[52]

Wir können die ‘große’ "Säkularität des Staates" begreifen "als die notwendige Kehrseite der Religionsfreiheit, die ihrerseits als Menschenrecht an den Prinzipien der menschenrechtlichen Demokratie – Freiheit, Gleichheit und Solidarität – Maß nimmt" (486). Hier wiederholt sich die Situation: Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit wie auch die Prinzipien der menschenrechtlichenDemokratie sind keine "ideologiefreien" Postulate. Sie werden nur von offenen Weltanschauungen (religiöser und profaner Art) akzeptiert und sie stellen ebenfalls einen gemeinsamen Nenner zwischen mehreren offenen Ideologien(+) dar. Die Menschenrechte sind, wie Bielefeldt selbst sagt, "Ausdruck eines spezifisch modernen, aufklärerischen Anspruchs auf Mündigkeit" (487). Sie sind keine den weltanschaulichen Konflikten übergeordneten ‘ewigen Wahrheiten’.

Aus dem Grundwert der "Mündigkeit" ergibt sich der grundsätzliche "Respekt vor den Überzeugungen der Menschen" und das Projekt eines Staates, der diesen Bereich vor Eingriffen schützt. Die (relative) "Neutralität des Staates" ist, so verstanden, in der Tat keine diffuse "Wertneutralität" (487), sie ist ja gerade am werthaft-normativen "Leitbild sittlicher Mündigkeit eines gleichwohl endlichen und fehlbaren Wesens" (488) orientiert. "Menschenwürde, Menschenrechte und Demokratie bilden daher einen normativen Verbund politisch-rechtlicher Prinzipien, für die der moderne Staat [...] auch kämpferisch einstehen soll. Diese unverzichtbare kämpferische Komponente demokratischen Engagements gilt es, u.a. auch gegen allzu harmlose Aufrufe zu multikultureller Toleranz in Erinnerung zu bringen." (488) Nach Bielefeldt darf dieser "kämpferische Einsatz" jedoch nicht in einen "Weltanschauungskampf" oder einen "’Kreuzzug’" abgleiten. Dem halte ich entgegen, dass es sich eben doch um einen "Weltanschauungskampf" handelt, nur eben um einen Kampf besonderer Art. Die Verteidiger von "Religionsfreiheit, Menschenrechten und Demokratie" sind keine Monisten, sondern Pluralisten, und sie verteidigen nicht direkt die eigene Weltanschauung, sondern den gemeinsamen Nenner zwischen mehreren Weltanschauungen.

Und der (relativ) "neutrale Staat" beschränkt sich darauf, "die politisch-rechtlichen Entfaltungsbedingungen mündiger Freiheit zu sichern" (488). Daher können auch die "Religionsgemeinschaften" ein positives Verhältnis zum säkularen Rechtsstaat gewinnen und ihn als "Chance" ergreifen.[53] In der von diesem Staat geprägten demokratischen Ordnung können und sollen Religionsgemeinschaften an der Gestaltung gesellschaftlichen Lebens mitwirken.

Im "Fazit" scheint sich Bielefeldt in einen Widerspruch zu verwickeln. Einerseits bestimmt er die Säkularität des Rechtsstaates als ein "hohes, zugleich aber ein hochgradig gefährdetes politisches Gut", das nicht zuletzt durch "religiöse Fundamentalisten" bedroht ist, die vom "Ideal der unmittelbaren Einheit von Religion und Politik" ausgehen und aus religiöser Offenbarung verbindliche Anweisungen für die Politik ableiten wollen (490). Damit scheint eine "antagonistische Frontstellung des säkularen Staates gegen religiöse Fundamentalismen und Integralismen" geradezu gefordert zu sein – zumindest, was den RF 2 und den PF 2 betrifft. Von eben dieser Frontstellung heißt es nun jedoch, sie könne unter Umstände dazu führen, "daß der Rechtsstaat seine liberale Orientierung preisgibt" (490). Sinnvollerweise kann hier nur eine generelle Frontstellung gegen "Religionsgemeinschaften" gemeint sein.


[47] Die negative Besetzung des Ausdrucks ‘kulturkämpferisch’ ist daher zu revidieren. Weltanschauliche Gegnerschaften sind unterschwellig immer vorhanden, und es ist eher positiv zu bewerten, wenn sie ‘kulturkämpferisch’ offen ausgetragen werden.

Dass es in weltanschaulich-kulturkämpferischen Auseinandersetzungen häufig zu kognitiv fragwürdigen Gleichsetzungen kommt, steht auf einem anderen Blatt. So neigen Vertreter säkular-profaner Positionen manchmal dazu, mit einer zu einfachen Opposition zwischen Aufklärung/Moderne und "religiöser Kultur" zu arbeiten, die "religiöse Kulturen von vornherein pauschal unter den Verdacht eines antiaufklärerischen Fundamentalismus" (477) stellt. Vgl. dazu auch die in 8.1 behandelte Argumentation von Jaeggi/Krieger.

[48] Bielefeldt unterscheidet später die "theologische ‘Würdigung’ der Säkularität" von "theologischer ‘Begründung’ oder Fundierung". "Während eine theologische ‘Begründung’ der Säkularität leicht darauf hinausläuft, den säkularen Staat allein aus der je eigenen Glaubenstradition heraus zu verstehen und damit christlich bzw. islamisch zu vereinnahmen, bedeutet die ‘Würdigung’ des säkularen Staates zunächst die Anerkenntnis seiner spezifischen Modernität." (488f.) Ich ziehe eine etwas andere Terminologie vor: Jede ‘beteiligte’ Weltanschauung muss eine zu den eigenen Prinzipien passende Begründung für die Bejahung des säkularen Rechtsstaats geben. Eine ‘beteiligte’ Religionsgemeinschaft muss "der modernen Säkularität einen theologischen ‘Sinn’ ab[..]gewinnen und sie mit zentralen Erfordernissen des religiösen Glaubens in Beziehung [...] setzen"; eine mögliche Anschlußstelle ist z.B. die "Einsicht, daß der Glaube nur in Freiheit angenommen und gelebt werden kann" (489). Dabei besteht aber stets die Gefahr des Umschlags in eine monopolistische und die historischen Tatsachen verfälschende Begründung, die z.B. übersieht, "daß die Säkularität von Recht und Staat in der Regel nicht von den etablierten Religionsgemeinschaften durchgesetzt wurde, sondern gegen ihren teils entschiedenen Widerstand erkämpft werden mußte", oder die den säkularen Staat als "organische Entfaltung eines im Christentum (oder auch im Islam) ‘immer schon’ angelegten Potentials" erscheinen läßt (489).

[49] Es gilt daher, den Anspruch christlicher Theologen zu relativieren, die "geborenen Hüter einer ‘recht verstandenen’ Säkularität" (480) zu sein.

[50] Eine in weltanschaulicher Hinsicht völlig "freigegebene Säkularität" (480) ist daher prinzipiell nicht möglich.

[51] Einerseits "erweist sich die Anerkennung des Pluralismus als eine genuin ethische Leitidee, die über die begrenzten Toleranzvorstellungen der christlichen bzw. der islamischen Tradition prinzipiell hinausgeht, insofern sie auf politisch-rechtliche Gleichberechtigung der unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen zielt" (487), andererseits muss innerhalb jeder am Projekt beteiligten "Tradition" und mit ihren "begrenzten" Vorstellungen eine zu den jeweiligen Prinzipien passende Begründung für die "politisch-rechtliche Gleichberechtigung" gegeben werden

[52] Es ist daher irreführend, wenn ‘einfach so’ von der "religiös-weltanschaulichen ‘Neutralität’ des säkularen Staates" (487) gesprochen wird.

[53] Zur "Religionsfreiheit als Menschenrecht" gehört der "Aspekt der Gleichberechtigung. Es ist bekannt, daß muslimischen Minderheiten in der Bundesrepublik die rechtliche Gleichstellung mit den christlichen Kirchen immer noch vorenthalten wird." (491)

[zurück]