I Zur Basis-Analyse
Hauptgegenstand ist Kleists Amphitryon und in diesem Kontext auch die vorangehende Bearbeitung Molières. Dabei dient das in Mythos & Literatur dargelegte mythologische Arbeitsprogramm[4] als Leitfaden. Erster Auftrag: Fertige eine Kurzdarstellung des mythoshaltigen Textes an![5] Kleists Komödie Amphitryon (1807) beginnt mit Sosias’ Auftritt. Amphitryon sendet seinen Diener nachts nach Theben, um den Sieg des Feldherrn verkünden zu lassen. Alkmene soll von der baldigen Ankunft ihres Gatten unterrichtet werden. Der Diener übt seinen Bericht ein. Merkur, in Sosias’ Gestalt, will den wahren Sosias aufhalten, damit Jupiter, als Amphitryon getarnt, ungestört die Nacht mit Alkmene verbringen kann. Sosias fühlt sich seinem Gegenüber zunächst gewachsen. Als Sosias jedoch Schläge einstecken muss, ändert er seine Auffassung. Unverrichteter Dinge kehrt der Diener zu Amphitryon zurück. Jupiter/Amphitryon verabschiedet sich am nächsten Morgen von Alkmene. Der Göttervater fordert von ihr, eine Unterscheidung zwischen Gemahl und Geliebtem zu treffen. Die Fürstin vermag dies jedoch nicht. Merkur/Sosias trifft auf Charis, die Gattin des Dieners. Es kommt zu einem Streitgespräch über das Verhalten des vermeintlichen Ehemannes. Der Götterbote gesteht Charis zu, ihren Gemahl zu betrügen. Der Feldherr und Sosias sind auf dem Weg nach Hause. Sosias schildert seinem Herrn, was in der Nacht an dessen Haus vorgefallen ist. Amphitryon hält den Bericht des Dieners für wirres Gerede. Alkmene und Charis treten aus dem Haus. Freudig eilt Amphitryon seiner Frau entgegen. Ihre Begrüßung enttäuscht ihn jedoch. Sie rechtfertigt sich, indem sie von dem Empfang erzählt, der Jupiter/Amphitryon am Vorabend zuteil wurde. Der Thebaner lässt seine Gattin über das Geschehen des vorigen Tages berichten. Amphitryon bezichtigt seine Frau des Ehebruchs. Das Ehepaar entzweit sich. Sosias überprüft, ob ihm mit Charis ein ähnliches Schicksal widerfahren ist, wie Amphitryon mit Alkmene. Zu seiner Beruhigung erfährt der Diener, dass sein Ebenbild nicht die Nacht mit Charis verbrachte. Alkmene sind Zweifel gekommen. Charis behauptet, dass sich eine Frau nicht über die Anwesenheit ihres Mannes täuschen könne. Die Fürstin erinnert sich an die von Jupiter/Amphitryon verlangte Unterscheidung zwischen Gatten und Geliebtem. Sie bleibt beunruhigt. Jupiter/Amphitryon erscheint. Alkmene gesteht ihm, sie sei sich ihrer Unschuld nicht mehr sicher. Zunächst bestätigt ihr der höchste Gott, dass nur Amphitryon sie aufgesucht habe. Dann sagt er allerdings, es sei Jupiter gewesen. Jupiter/Amphitryon gibt Alkmene zu verstehen, er wisse, dass sie sich bei Gebeten an den Göttervater immer ihren Ehemann vorstelle. Er macht ihr klar, dass dies Jupiter kränke und dieser sich dafür rächen könnte. Die Fürstin schwört, beim Gebet künftig nicht mehr an Amphitryon zu denken. Der Gott erklärt, dass Jupiter als er selbst geliebt werden wolle. Alkmene sagt deutlich, sie liebe nur Amphitryon. Jupiter eröffnet ihr, dass der Göttervater sich ihr zeigen wolle. Er lässt Sosias im Lager Gäste für ein Fest einladen. Charis vermutet nun, dass sich ihr in der Nacht auch ein Gott genähert habe. Sie stellt Sosias auf die Probe. Enttäuscht muss die Dienerin feststellen, dass es sich bei ihm doch um ihren Gatten handelt. Amphitryon hadert mit seinem Schicksal. Merkur/Sosias lässt seinen Herrn nicht ins Haus. Der vermeintliche Diener sagt, Amphitryon sei bereits bei Alkmene. Der Feldherr schwört Rache. Sosias erscheint mit den geladenen Feldherrn. Amphitryon will sich auf Sosias stürzen. Die Gäste nehmen den Diener in Schutz. Jupiter/Amphitryon öffnet die Haustür. Verwirrung entsteht. Man versucht, den wahren Feldherrn zu erkennen. Amphitryon gerät außer sich. Jupiter/Amphitryon bewahrt die Ruhe. Sosias stellt sich auf Jupiter/Amphitryons Seite. Die Feldherren kommen zu keinem Ergebnis. So gehen sie mit Jupiter/Amphitryon speisen, während der echte Fürst Freunde holen geht, die seine Identität beweisen sollen. Sosias begegnet Merkur/Sosias. Der Gott beharrt weiter darauf, Sosias zu sein. Erneut muss Sosias aufgeben und seine Identität dem Doppelgänger überlassen. Amphitryon kommt zurück. Zur gleichen Zeit nähert sich das Volk seinem Haus. Der Feldherr hält eine Ansprache, in der versichert, der wahre Fürst zu sein. Sosias stellt sich nun auf seine Seite. Er erzählt von seiner Begegnung mit seinem Ebenbild. Jupiter/Amphitryon kommt mit allen anderen Beteiligten aus dem Haus. Amphitryon will gegen seinen Doppelgänger kämpfen, wird aber zurückgehalten. Alkmene soll die Entscheidung treffen, wer von den beiden ihr wirklicher Gatte ist. Die Fürstin bezeichnet Jupiter/Amphitryon als den echten Feldherrn. Trotzdem besteht Amphitryon weiterhin darauf, der wahre Fürst zu sein. Jupiter gibt sich zu erkennen. Alkmene bricht zusammen. Das Volk, nicht aber Amphitryon, wirft sich vor dem Göttervater zu Boden. Jupiter gewährt dem Feldherrn zum Dank die Erfüllung seines größten Wunsches. Amphitryon erbittet sich einen mächtigen Sohn. Jupiter gibt dem Verlangen nach, indem er Herkules’ Geburt und seine Taten voraussagt. Der Fürst bedankt sich. Jupiter und Merkur entschwinden. Das Volk sieht in dem Geschehen Ruhm und Triumph für Amphitryon. Zweiter Auftrag:
Prüfe, ob der vorliegende Text ein mythoshaltiger Text vom Typ a ist! Das liegt – wie schon bei Christa Wolfs Medea – auf der Hand; wir können also gleich weitergehen. Dritter Auftrag:
Arbeite den zugehörigen Mythenkomplex und dessen bisherige literarische
Verarbeitung auf! Einer der „fruchtbarsten Lustspielstoffe der Weltliteratur“[6] ist die Geschichte des Amphitryon. Am Anfang steht eine ägyptische Königslegende: Der höchste Himmelsgott nimmt die Gestalt eines Königs an, um der Königin beizuwohnen und den künftigen Herrscher zu zeugen.[7] Schon in archaischer Zeit wurde dieser Mythos auf Herakles als Stammvater dorischer Königsgeschlechter übertragen. Es kam auf die göttliche Abkunft eines Herrschergeschlechts und seines Ahnherrn an.[8] Seit der Antike, über Jahrhunderte hinweg, beschäftigten sich zahlreiche Autoren mit der Geschichte des thebanischen Feldherrn Amphitryon. In einer pseudohesiodischen Bearbeitung wird zum erstenmal erzählt, dass Zeus mit einer Sterblichen, Alkmene, den Halbgott Herakles zeugt, der die Menschen von Plagen befreien soll. Die Frau des Amphitryon gebiert Zwillinge, den Göttersohn Herakles und Iphikles, den Sohn des Amphitryon. Sophokles, Aischylos und Euripides griffen den Stoff auf, indem sie die Tragik und die Konflikte der Geschichte hervorhoben. Jedoch ist keine der ernsten Fassungen erhalten. Der Römer Titus Maccius Plautus (etwa 250–184 v. Chr.) lieferte das Vorbild für alle weiteren Bearbeitungen. Er schuf eine Komödie, in der Jupiter auf die Erde kommt, um eine Nacht bei der Frau des Feldherrn Amphitryon zu verweilen. Plautus muss „als der Dichter gelten, der mit genialem Griff die Komödie vom verliebten Gott auf Erdenbesuch schuf“.[9] Allerdings unterscheiden sich die Dramen in den Beweggründen des Gottes für seinen Besuch und in den Folgen seines Eingreifens in die menschlichen Geschicke. Plautus’ Amphitruo bringt das Doppelgänger‑Motiv in die Geschichte ein. Juppiter nimmt die Gestalt des Amphitruo an, um Alcumena verführen zu können, deren höchstes Gut die Tugend ist. Durch den Gestaltentausch soll Alcumena vor dem „Makel der Untreue“[10] geschützt werden. Plautus wiederholt die Verwechslungsgeschichte durch den
Doppelgänger auf anderer Ebene. Er lässt Merkur, der Juppiter bei der
Ausführung seines Abenteuers behilflich ist, die Identität des Sklaven Sosia
annehmen, der Amphitruo dient. Bei einem Zusammentreffen des Götterboten mit
Sosia macht Merkur dem Diener den Verlust seiner Persönlichkeit klar. In diesem
Drama vertritt vor allem Sosia das komische Element. Die Tragik der Geschichte
wird von Plautus nicht ausgearbeitet. Alcumena tritt nach der Auflösung des
Betrugs nicht mehr auf. Die Mischung aus Heiterkeit und Ernst hat erheblich zum
Erfolg des Stückes beigetragen.[11] Der Franzose Jean de Rotrou verfasste 1636 das Drama Les Deux Sosies. Dabei handelt es sich um die erste französische Bearbeitung des Amphitryon‑Stoffes. Rotrou folgte weitgehend dem Fragment Plautus’, fügte jedoch neue Szenen ein und veränderte die Nebenrollen. Der Schwerpunkt des Stückes liegt auf den Sosias‑Merkur‑Szenen. „Gehalt, Komik und Sprache des ‘Amphitruo’ aber erfahren die stärkste Veränderung, sie werden im Stil der Epoche ‘franzisiert'“.[12] Rotrous Werk bildet die Basis für Molières Amphitryon, der 1668 uraufgeführt wurde. Molière läßt inhaltlich die Zeugung des Herakles wegfallen und betont stärker das amouröse Abenteuer des göttlichen Liebhabers. Er verfasst eine Satire über Amphitryons eheliches Missgeschick, über das sich Jupiter und Merkur amüsieren. Dennoch steht nicht die Ehebruchproblematik im Vordergrund, sondern die Frage nach der Identität. Auf der komödiantischen Fassung Molières baut der Engländer John Dryden 1690 auf. Er steigert die komischen Dienerszenen, in denen sich Merkur in Sosias’ Frau verliebt, zu humoristischer Derbheit. Die Handlung wird von Dryden durch das Tragikomische erweitert. Seine Charaktere sind zu wahren Gefühlen fähig. Darüber hinaus nimmt er keine bedeutsamen Hinzufügungen im Vergleich zu seinen Vorlagen Plautus und Molière vor. „Da, wo Molière den Faden fallen, das Liebesverlangen des Gottes sich bescheiden und Alkmene unbeirrt von seelischen Konflikten abtreten ließ, nahm Heinrich v. Kleist (1807) den Stoff auf und trieb ihn an die Grenzen des Tragischen vor: sein Jupiter gibt nicht nach in seinem Wunsche, um seiner selbst willen geliebt zu werden“[13]. In diesem Drama wird Alkmene zur tragischen Gestalt. Der Konflikt zwischen Jupiter, Amphitryon und Alkmene wird vertieft. Die Problematik des Individuums und seine Identitätskrise stehen im Vordergrund. Jede Figur ist auf sich selbst gestellt. Jean Giraudoux reiht sich 1929 bewusst in die Stofftradition ein, was durch den Titel seines Stückes, Amphitryon 38, verdeutlicht wird. Außerdem setzt er damit beim Publikum eine gewisse Vertrautheit mit dem Thema voraus. Er lässt Jupiter vor Alkmenes Menschlichkeit kapitulieren und sie scheinbar unberührt zu ihrem Gatten zurückkehren. Die Dialoge Alkmenes und Jupiters gewinnen neue Bedeutungen, da sich darin das Verhältnis der Welt der Menschen zum Universum der Götter zeigt. Die Menschen haben sich in diesem Drama von der Allmacht und Willkür der Götter befreit. Auch in Georg Kaisers Werk Zweimal Amphitryon (1944) rückt die Rolle Alkmenes in den Mittelpunkt. Aufgrund eines Gebets der Gattin des Amphitryon nimmt Jupiter Abstand von seinem Plan, die Menschheit zu vernichten. Stattdessen will er ihr einen „hilfreichen Gottessohn“[14] schenken. 1968 wurde Peter Hacks’ Amphitryon uraufgeführt. Er betont, auf Plautus, Molière, Dryden und Kleist zurückgegriffen zu haben. Bei ihm erscheint der Göttervater als vollkommener Mensch, der die Menschheit fördern will. Alkmene erkennt Jupiter als Gott, sieht in ihm den besseren Amphitryon und entscheidet sich für ihn. Vierter Auftrag:
Vergleiche den Text ausführlich mit den zugehörigen ‘alten’ Mythen und mit
mindestens einer anderen Verarbeitung desselben Mythenkomplexes! Wie schon bei Medea wird auch hier ein Schaubild präsentiert, das in diesem Fall die Versionen von Plautus, Kleist und Euripides miteinander vergleicht.
Schon bei den Vorarbeiten zur Medea-Interpretation wurde betont, dass die allgemeinen Probleme immer dieselben bleiben. Stichworte: Textkonzept, Literaturprogramm, Überzeugungssystem. Die speziellen Deutungsprobleme ergeben sich demgegenüber aus dem Textvergleich. Konzentrieren wir uns der Einfachheit halber auf einige Punkte des Vergleichs Molière – Kleist. Weshalb stellt Kleist die „Unsicherheit Alkmenes über ihre Unschuld“ heraus? Weshalb offenbart Jupiter „indirekt seine wahre Identität“? Was steckt dahinter, wenn Kleist bei all seinen Abweichungen von Molière dennoch folgendes Element beibehält: Jupiter möchte, dass Alkmene eine Unterscheidung zwischen Gebliebtem und Gatten trifft? Weshalb fügt Kleist das neue Element ein, dass Alkmene das Urteil fällen soll, wer der echte Amphitryon ist? Weshalb fällt Alkmene nach Jupiters Offenbarung in Ohnmacht? |
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[4] Vgl. ebd., Kapitel 5. [5] Die Arbeitsaufträge 1-4 sind von Corinna Thiel erledigt worden. [6] E. Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 19764, S. 44. [7] Vgl. H. Tränkle: Amphitruo und kein Ende. In: Museum Helveticum 40 (1983), S. 217. [8] Vgl. ebd., S. 218. [9] Vgl. Frenzel, Stoffe der Weltliteratur, a.a.O., S.44. [10] Vgl. ebd. [11] Art. Amphitryon. In: W. Jens (Hg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 13. München 19962, S. 424. [12] Art. Amphitryon. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 14, S. 370. [13] E. Frenzel, Stoffe der Weltliteratur, a.a.O., S. 46. [14] Ebd. S. 46. |