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III Kleists Amphitryon

Kleists Stück trägt den Untertitel: Ein Lustspiel nach Molière.[17]Tun wir so, als würden wir den Text nach der Molière-Interpretation zum ersten Mal lesen. Dann fällt zunächst einmal auf, dass das Vorspiel gestrichen wird, das uns ja deutliche Hinweise auf die gesellschaftskritische Stoßrichtung der Komödie gegeben hat. Das könnte ein erstes Indiz dafür sein, dass bei Kleist mit einer andersartigen Textkonzeption zu rechnen ist.

Liest man die ersten Szenen des ersten Aktes, so gewinnt man freilich den Eindruck, dass Kleist sich ganz eng an der Version Molières orientiert. Gewiss, die Dialoggestaltung ist anders, der Satzbau ist umständlicher, sozusagen typisch Kleist. Ein Beispiel aus I/1: „Man wird dich feierlich zur Fürstin führen, / Alkmen’, und den Bericht bist du ihr dann, / Vollständig und mit Rednerkunst gesetzt / Des Treffens schuldig, das Amphitryon / Siegreich für’s Vaterland geschlagen hat.“

Auch die Stillage ist anders, etwas emphatischer und pathetischer. Aber insgesamt entsteht zunächst der Eindruck, es mit einem etwas schwerfälligeren deutschen Remake des französischen Originals zu tun zu haben.

I/1 bleibt weitgehend erhalten, doch auf der anderen Seite fällt auf, dass die kritischen Herr-Diener-Passagen, die bei Molière die Akzente setzen, zurückgedrängt werden. „Der Herr befiehlt, der Knecht muß fliegen“ oder: „Du brauchst nur einmal zu versagen, / Da packt ihn schon die Wut!“– Sätze wie diese, und davon gibt es bei Molière in I/1 eine ganze Menge, tauchen bei Kleist nicht auf. Nur schwächere Formulierungen wie: „Ein wenig Rücksicht wär, und Nächstenliebe / So lieb mir, als der Keil von Tugenden, / Mit welchem er des Feindes Reihen sprengt.“ Das ist ein weiteres Indiz für eine Konzeptionsänderung. Um eine Hypothese über eine – eventuelle – neue Gestaltungsidee wagen zu können, wurden jedoch noch nicht genügend Text-Tatsachen gesichtet. In ‘negativer’ Hinsicht verfestigt sich allerdings bereits der Eindruck, dass die Herrscher- und Herrschaftskritik nicht mehr im Zentrum steht.

Auch die erste Begegnung zwischen Sosias und seinem Doppelgänger Merkur bleibt bei Kleist in I/2 weitgehend erhalten. Da das Vorspiel entfällt, müssen indes einige Informationen jetzt gebracht werden. So spricht Merkur vom Glück, „Das in Alkmenens Armen zu genießen, / Heut in der Truggestalt Amphitryons / Zevs der Olympische, zur Erde stieg.“

Die Veränderungen gegenüber Molière sind hauptsächlich sprachlich-stilistischer Art. An einigen Stellen gewinnt man allerdings den Eindruck, dass die Identitätsproblematik bei Kleist etwas anders akzentuiert wird. „Dein Stock kann machen, daß ich nicht mehr bin. / Doch nicht, daß ich nicht Ich bin, weil ich bin.“ Und später: „Was Niemand hat gesehn, kann Niemand wissen, / Falls er nicht wirklich Ich ist, so wie ich.“[18]

Nicht übergangen werden sollte auch eine kleine Hinzufügung, die Kleist vornimmt. Als Sosias seinen Doppelgänger interviewt, wird anlässlich des Schmuckstücks, das Amphitryon seiner Gattin schenken will, die Frage eingeschoben: „Was nahm mit diesem Diadem man vor?“ Und Merkur antwortet: „Man grub den Namenszug Amphitryons / Auf seine goldne Stirne leuchtend ein.“

Aus den letzten Sätzen Merkurs in Molières I/2 macht Kleist eine ganze, allerdings kurze Szene (I/3). Hinzu kommen Wendungen wie: „Denn daß ihn eines Gottes Arm getroffen, / Die Ehre kümmert den Hallunken nicht“.

I/4 entspricht Molières I/3, und das Gespräch zwischen Jupiter und Alkmene nach der Liebesnacht beginnt wie dort. Alkmene betont stärker die von ihr ersehnte Liebesidylle: „Wie gern gäb ich das Diadem, das du / Erkämpft, für einen Strauß von Veilchen hin, / Um eine niedre Hütte eingesammelt. / Was brauchen wir, als nur uns selbst? Warum / Wird so viel Fremdes noch dir aufgedrungen, / Dir eine Krone und der Feldherrnstab?“

Wie bei Molière legt Jupiter Alkmene die Unterscheidung zwischen Geliebtem und Gemahl nahe. „Dir möcht ich, deinem Herzen, Theuerste, / Jedwede Gunst verdanken, möchte gern / Nicht, daß du einer Förmlichkeit dich fügtest, / Zu der du dich vielleicht verbunden wähnst.“ Alkmene wird aufgefordert: „sprich, / Ob den Gemahl du heut, dem du verlobt bist, / Ob den Geliebten du empfangen hast.“

In der Molière-Interpretation sprach ich von einer Kompromissbildung zwischen den Problematiken der betrügerischen und der ‘normalen’ Verführung bzw. der daraus entstehenden Liebschaft. Es wird zu prüfen sein, ob an Kleists Version auf dieselbe Weise, die ja mit der Herrscherproblematik eng verbunden ist, herangegangen werden kann. Da dies ein Punkt von erheblicher Bedeutung ist, erscheint es sinnvoll, weitere Passagen anzuführen. „Entwöhne, / Geliebte von dem Gatten dich, / Und unterscheide zwischen mir und ihm. / Sie schmerzt mich, diese schmälige Verwechslung, / Und der Gedanke ist mir unerträglich, / Daß du den Laffen bloß empfangen hast, / Der kalt ein Recht auf dich zu haben wähnt. / Ich möchte dir, mein süßes Licht, / Dies Wesen eigener Art erschienen sein“.

Kleists Jupiter legt es stärker als der seines Vorgängers darauf an, sich von der angenommenen Gestalt wieder zu lösen und sich als Nicht-Amphitryon  darzustellen. So bezeichnet er Amphitryon als „Laffen“, „eitlen Feldherrn“  und „öffentlichen Gecken“. Und Alkmene antwortet: „Wenn das Volk hier / Auf den Amphitryon dich schmähen hörte, / Es müßte doch dich einen Andern wähnen, / Ich weiß nicht wen?“ Alkmene soll versprechen, „Daß du den Göttertag, den wir durchlebt, / Geliebteste, mit deiner weitern Ehe / Gemeinen Tag’-lauf nicht verwechseln willst.“ Das alles sind Akzentverschiebungen, deren Erklärung noch zu leisten ist.

Wie bei Molière vernachlässige ich die Nebenhandlung zwischen Sosias, seinem Doppelgänger und seiner Frau, die hier Charis heißt. Ich übergehe also I/5 – auch in dieser Szene orientiert sich Kleist sehr weitgehend an seinem Vorgänger – und komme zum zweiten Akt.

 

II/1 besteht, wie bei Molière, aus dem Dialog zwischen Amphitryon und Sosias über den Sosias betreffenden Teil des mythischen Ereignisses – des Vorfalls, der “koboltartig wie ein Mährchen“ ist. Hier sind keine größeren Änderungen, welche die sprachlich-stilistische Ebene überschreiten würden, zu erkennen.

Auch der Ehestreit in II/2 beginnt auf die bekannte Weise. Es gibt aber Ergänzungen und Modifikationen. Als Amphitryon mit dem ihn betreffenden Teil des mythischen Ereignisses konfrontiert wird, berichtet Alkmene: du schwurst „mit seltsam schauerlichen Schwur mir zu, / Daß nie die Here so den Jupiter beglückt.“

Bei Molière führt die unmythische Alkmene das Verhalten ihres Gatten auf eine den Geist verstörende „Krankheit“ zurück. Bei Kleist scheint Alkmene streckenweise etwas mythosnäher gestaltet zu sein – sie greift sogleich zu über-natürlichen Erklärungen, wenn auch vielleicht nur spielerisch. „Hat dir ein böser Dämon das Gedächtniß / Geraubt, Amphitryon? hat dir vielleicht / Ein Gott den heitern Sinn verwirrt, daß du, / Die keusche Liebe deiner Gattin, höhnend, / Von allem Sittlichen entkleiden willst?“

Überhaupt ist die Figur der Alkmene bei Kleist anders angelegt. Ihre innere, seelische Problematik erhält größeres Gewicht als bei Molière. Es geht um ihren „innern Frieden“.

Als bemerkt wird, dass das Diadem im noch versiegelten Kästchen fehlt, bemerkt Amphitryon: „Ich habe sonst von Wundern schon gehört, / Von unnatürlichen Erscheinungen, die sich / Aus einer andern Welt hierher verliehren; / Doch heute knüpft der Faden sich von jenseits / An meine Ehre und erdrosselt sie.“ Aber letztlich sucht auch er – wie sein Vorgänger – eine natürliche Erklärung des Geschehenen.

Alkmene berichtet: „du sagtest scherzend, / Daß du von meiner Liebe Nektar lebtest, / Du seist ein Gott, und was die Lust dir sonst, / Die ausgelass’ne, in den Mund dir legte.“ Hier zeigt sich wieder die verstärkte Neigung Jupiters, sich als Nicht-Amphitryon zu erkennen zu geben.

II/3 gehört zur Nebenhandlung und soll daher ausgeklammert werden. Ich halte nur fest, dass Kleist in dieser Szene ebenfalls weitgehend Molière folgt. Die erotische Eheproblematik wird etwas entschärft, und der „Knoblauch“ wird durch „Meerrettig“ ersetzt, aber das alles ist wohl nicht von größerer Bedeutung.

Ehe ich nun zu Szenen übergehe, die weit deutlichere Akzentverschiebungen als die bislang behandelten aufweisen, sollte überlegt werden, ob erste Hypothesen zur veränderten Konstellation formuliert werden können. Molière benutzt die Amphitryon-Geschichte als Vorwand, um im Rahmen eines mythischen Modells eine Herrscher- und Herrschaftskritik durchzuführen. Die eigentliche Problematik ist eine profane politisch-sozialer Art. Dem entspricht, dass Molière das mythische Szenario selbst nicht aufwertet, sondern konsequent seine politisch-soziale Verweisfunktion nutzt. Dadurch wird es z.B. auch möglich, die Rechtfertigungsfunktion des Mythos indirekt anzusprechen.

Bei Kleist gibt es – bis zur Szene II/3, weiter sind wir ja noch nicht  – zumindest einige Anhaltspunkte dafür, dass eine andersartige Konzeption zugrunde liegt. Kleists Jupiter legt es stärker als der seines Vorgängers darauf an, sich von der angenommenen Gestalt wieder zu lösen und sich als Nicht-Amphitryon darzustellen.

Gibt es eine Hypothese über die Textkonzeption und das Überzeugungssystem Kleists, welche die sich aus dem Textvergleich ergebenden Befunde erklären könnte? Vielleicht sind sogar mehrere Möglichkeiten zu erwägen, ich konzentriere mich jedoch vorläufig auf eine. Das Überzeugungssystem Molières ist in seinen textprägenden Teilen offenbar politisch-profan. Stellen wir uns nun vor, dass jemand mit einem religiösen Überzeugungssystem – wie dies auch im Einzelnen beschaffen sein mag – sich des Amphitryon-Stoffes bemächtigt. Für einen solchen Autor kann die mythische Geschichte eine religiöse Bedeutung gewinnen, die sie für einen profanen Menschen niemals haben kann. Die Mythe wird auf eine religiöse Wahrheit bezogen.

Ein religiöser Mensch könnte also zu der Gestaltungsidee gelangen, die mythische Konstellation für die religiöse Wahrheit gewissermaßen durchsichtig zu machen. Und diese Textkonzeption würde zur Folge haben, dass diejenigen Elemente des Stücks von Molière, die direkt mit dessen politischer Herrschaftskritik in Verbindung stehen, ausgeschieden und durch andere ersetzt werden müssen, welche die neue religiöse bzw. theologische Zielsetzung unterstützen.

Die vorhin zusammengefassten drei Anhaltspunkte würden gut zu einer solchen Textkonzeption passen: der Wegfall der kritischen Herr-Diener-Passagen, die leichte Verstärkung des mythischen Modells und – vielleicht auch – die Enthüllungstendenz des Gottes. Möglicherweise sind jedoch auch Alternativen zu erwägen.

Wenden wir uns nun den von Kleist weitgehend neu gestalteten Szenen II/4 und II/5 zu. Während bei Molière in II/4 Jupiter zurückkommt, um sich mit Alkmene zu versöhnen, was nach einigem Hin und Her und einer Selbstmordandrohung auch einigermaßen gelingt, bringt Kleist erst einmal einen Dialog zwischen Alkmene und Charis, der im Bezugsstück keine Parallele besitzt.

Zu Beginn bestätigt sich der Eindruck, dass die seelische Problematik Alkmenes größeres Gewicht erhält. „Was ist mir, Unglücksel’gen, widerfahren?“ Dann geht es um das „Diadem des Labdakus“, in das ja, wie wir aus I/2 wissen, der „Namenszug Amphitryons“ eingraviert wurde. Charis stellt nun fest, dass das „theure Prachtgeschenk Amphitryons“ diesen Namenszug nicht aufweist. „Hier steht ein andres fremdes Anfangszeichen. / Hier steht ein J.“

Alkmenes Reaktion: „Weh mir! Ich bin verloren.“ Sie hat nun ernsthafte Zweifel, ob ihr nicht doch „ein Anderer erschienen sei“. Dieser Verdacht wird ja nicht nur durch das „J“ auf dem Stein, sondern auch durch die Reden des Doppelgängers deutlich gestützt. „Und jener doppelsinn’ge Scherz mir jetzt / Durch das Gedächtniß zuckt, da der Geliebte, / Amphitryon, ich weiß nicht, ob du’s hörtest, / Mir auf Amphitryon den Gatten schmähte“. „Schaudern“ und „Entsetzen“ ergreifen Alkmene.

Eine Identitätskrise deutet sich an. Denn wenn es möglich war, dass sie einen anderen für Amphitryon gehalten hat, so kann sie ihrer selbst nicht mehr sicher sein. Alkmene sieht, dass die gefühlsmäßige Sicherheit, den geliebten Gatten empfangen zu haben, mit der gefühlsmäßigen Selbst-Sicherheit unauflöslich verbunden ist. Zunächst versucht sie, sich zu stabilisieren. „Nimm Aug’ und Ohr, Gefühl mir und Geruch, / Mir alle Sinn’ und gönne mir das Herz: / So läßt du mir die Glocke, die ich brauche, / Aus einer Welt noch find’ ich ihn heraus.“

Dass tatsächlich Amphitryon bei ihr war, ist ihr – so sagt sie – sogar gewisser als die Gewissheit, dass sie selbst Alkmene ist. „Eh will ich irren ich mir selbst! / Eh’ will ich dieses innerste Gefühl, / Das ich am Mutterbusen eingesogen, / Und das mir sagt, daß ich Alkmene bin, / Für einen Parther oder Perser halten.“ Sie will eher einräumen, dass „diese Hand“ und „diese Brust“ nicht ihre Hand und Brust sind, als zugestehen, dass es nicht Amphitryon war.[19]

Charis unterstützt sie darin. „Wie könnt’ ein Weib in solchem Falle irren? / Man nimmt ein falsches Kleid, ein Hausgeräth, / Doch einen Mann greift man im Finstern. / Zudem, ist er uns allen nicht erschienen?“ „Tausend Augen“ müssten also „Mit Mitternacht bedeckt gewesen sein“.

Doch das „J“ passt nicht zu dieser beruhigenden Deutung, und die Zweifel verstärken sich. „Warum fiel solch’ ein fremdes Zeichen mir, / Das kein verletzter Sinn verwechseln kann, / Warum nicht auf den ersten Blick mir auf?“ Es könnte sein, dass die beiden Zeichen zwei „Führern“ eigen sind, „Die leichter nicht zu unterscheiden wären“. Wie lässt sich die Gewissheit der „reinen Seele“, der „Unschuld“ mit den unleugbaren Tatsachen vereinbaren?

Alkmene durchlebt bei Kleist – und dies in radikalisierter Form – die Probleme, welche Amphitryon und Sosias angesichts des mythischen Ereignisses haben. Wies Alkmenes Verhalten in II/2 einige mythosnähere Züge auf, so reagiert sie hier unmythisch. Sie ist bemüht, ihre Erlebnis-Gewissheit und ihre Selbst-Gewissheit auf eher profane Weise zu verteidigen. Ihre nun folgenden Reflexionen aber setzen einen neuen Akzent.

Sie gesteht sich die Regung ein, „Daß ich ihn schöner niemals fand, als heut. / Ich hätte für sein Bild ihn halten können, / Für sein Gemählde, sieh, von Künstlershand, / Dem Leben treu, in’s Göttliche verzeichnet.“

Wenn sie einräumt, Amphitryon sei schöner als sonst und „ins Göttliche verzeichnet“ gewesen, so ist sie nicht sehr weit davon entfernt, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass ein Gott sie in Amphitryons Gestalt, die eben durch die Anwesenheit des Gottes einen göttlichen touch erhält, besucht haben könnte.

In diese Richtung weisen auch die folgenden Gefühls-Berichte. „Und ein unsägliches Gefühl ergriff / Mich meines Glücks, wie ich es nie empfunden, / Als er mir strahlend, wie in Glorie, gestern / Der hohe Sieger von Pharissa nahte.“ Und er schien selbst schon einer „der Verherrlichten“, d.h. der Götter zu sein: „ich hätt’ ihn  fragen mögen, / Ob er mir aus den Sternen niederstiege.“

Alkmenes Erlebniswelt weist also einige mythische Züge auf, und damit nähert sie sich der  Wahrheit des mythischen Ereignisses etwas an. Für die unmythische Charis ist die Sache einfacher: „Einbildung, Fürstin, das Gesicht der Liebe.“

Alkmene macht auch der „doppeldeut’ge Scherz“  zu schaffen, „Der immer wiederkehrend zwischen ihm / Und dem Amphitryon mir unterschied.“ „Fluch mir, / Die ich leichtsinnig diesem Scherz gelächelt, / Kam er mir aus des Gatten Munde nicht.“ Alkmene rechnet aber nicht ernsthaft mit einem göttlichen, sondern mit einem menschlichen Doppelgänger; in dieser Hinsicht denkt sie unmythisch.

Und das „J“ auf dem geschenkten Stein wird zu einem „Zeugniß“ gegen sie. „Wohin rett’ ich vor Schmerz mich, vor Vernichtung, / Wenn der Verdacht der Männer ihn geprüft? / Muß ich nicht eingestehn, daß dieser Zug / Der Namenszug nicht des Amphitryon? / Nicht eingestehn, daß ein Geschenk mir nicht / Mit fremden Zeichen von ihm kommen kann?“ Die gefühlsmäßige Gewissheit ist nun gefährdet: „Bin ich wohl sicher, sprich, daß ich auch gestern / Das Zeichen, das hier steht, von ihm empfing?“

Bei Molière gibt es zwar auch die doppeldeutigen Reden des Doppelgängers, aber kein Beweisstück, das – wenn man alle Begleitumstände bedenkt – direkt darauf hindeutet, dass ein Gott Menschengestalt angenommen hat.

Jetzt  ist zu überlegen, welche Interpretationsprobleme die Szene II/4 aufwirft. Zur Ebene der Textbeschreibung gehört die Feststellung, dass Alkmene bei Kleist anders angelegt ist als bei Molière. Ihre seelische Problematik und ihre Identitätskrise angesichts des mythischen Ereignisses werden wichtig. Damit hängt ein weiterer Unterschied zusammen. Ist Alkmene bei Molière völlig unschuldig, so ergibt sich bei Kleist aus II/4 ein gewisses Maß an Mitschuld. Der Doppelgänger gibt sich durch das „J“ deutlich als Nicht-Amphitryon zu erkennen; Alkmene ist das – was im Zustand starker gefühlsmäßíger Erregung durchaus verständlich ist – nicht aufgefallen. Sie hätte es jedoch bemerken können.

Zur eigentlichen Interpretation leitet bekanntlich immer die Frage ‘Was steckt dahinter?’ über. Fragen wir also, welche Textkonzeption, welches Literaturprogramm und welches Überzeugungssystem hinter dem bislang Festgestellten zu vermuten sind. Es wurde ja die Möglichkeit erwogen, dass das textprägende Überzeugungssystem religiöser Art ist und dass die Gestaltungsidee des Stücks darin besteht, die Amphitryon-Mythe durchsichtig zu machen für eine religiöse Wahrheit.

Nach der Lektüre von II/4 ist jedoch zu fragen, ob solche weitreichenden Hypothesen überhaupt nötig sind. Könnte man den Textbestand denn nicht viel einfacher mit der folgenden Vermutung erklären: Während Molière die mythische Konstellation für eine Herrscher- und Herrschaftskritik verwendet, greift Kleist sie auf, um die Problematik der Identitätskrise und des Identitätsverlustes zu behandeln. Setzt man die Identitätsproblematik als das Zentrum des Stückes an, so lässt sich die Zurückdrängung der Herrschaftskritik ebenfalls erklären.

Ich sehe zwei Möglichkeiten, diese Hypothese auszubauen. Erstens besteht die Möglichkeit, dass es sich – ähnlich wie bei Molière – um eine im Kern profane Problematik, nur eben um eine Identitäts-Problematik, handelt, die im Rahmen eines mythischen Modells durchgespielt wird. Zweitens könnte es sein, dass wir es mit einer im Kern religiösen Identitätsproblematik zu tun haben. In diesem Fall läge eine Verbindung mit den bislang aufgestellten Hypothesen nahe, wie immer diese Verbindung auch konkret aussehen mag.

Ich verfolge zunächst die profane Variante. Dann wäre zu vermuten, dass Kleists Überzeugungssystem erstens mit der Möglichkeit rechnet, dass radikale Identitätskrisen, die bis zum totalen Identitätsverlust führen mögen, auftreten können, und dass zweitens dieses System solchen Krisen eine große weltanschauliche Bedeutung zumisst. Die Gestaltungsidee des „Lustspiels“ wäre dann, diese weltanschaulich zentrale Problematik anhand eines mythischen Modells zu behandeln.

Wenn wir diesen Interpretationsansatz systematisch durchführen wollen, müssen wir ähnlich vorgehen wie bei Molière – wir müssen annehmen, dass nach Kleists Auffassung das, was im Stück passiert, in Wirklichkeit nicht geschehen kann und dass das mythische Handlungsgerüst als Vorwand dient, um die profane Identitätsproblematik abzuhandeln. Und wir müssen – wie bei Molière – bei Elementen, die die mythische Verpackung betreffen, stets fragen, welche Bedeutung sie innerhalb der indirekt behandelten eigentlichen Problematik besitzen. Wir müssen nach den Verbindungspunkten zu den (gemäß dem vermuteten Überzeugungssystem) real möglichen Identitätsproblemen suchen.

Folgt man dieser Linie, so kann man wiederum von der betrügerischen Verführung einer Frau durch einen Mann (sei dies nun ein Herrscher oder nicht) ausgehen, wie wir sie uns beispielhaft ausgemalt haben: die Intrige, der gefälschte Brief, das abgedunkelte Zimmer. Kleist würde sich dann für einen anderen Aspekt der betrügerischen Verführung interessieren als Molière: Nicht das Verhalten des Herrschers steht im Mittelpunkt, sondern die seelische Krise der Frau. Genauer gesagt: die seelische Krise der Frau, die nicht gemerkt hat, dass sie mit einem anderen geschlafen hat, obwohl sie es – wie sie im nachhinein feststellen muss – an einigen Details hätte bemerken können. Für diese Details steht im mythischen Modell das „J“, aber auch das Gefühl Alkmenes, dass in der fraglichen Begegnung alles bigger than life war. Wir können uns annäherungsweise vorstellen, was in einer solchen Frau vorgeht. Sie wird in der Tat von „Schaudern“ und „Entsetzen“ ergriffen sein, sie wird sich selbst massive Vorwürfe machen, sie wird vielleicht in eine harte Identitätskrise geraten, in der sie substantiell an sich selbst zweifelt. ‘Wenn mein Gefühl und meine Sinne mich in einem so entscheidenden Punkt täuschen können, so wird z.B. auch unsicher, ob diese Hand  und diese Brust hier mein sind.’

Wir können uns vorstellen, dass eine solche Identitätskrise schließlich zu einem völligen Identitätsverlust führen kann, zu Wahnsinn, Geisteskrankheit oder wie wir das nennen wollen. Auch ein Selbstmord ist denkbar.

Dieser Ansatz gerät aber auch in Schwierigkeiten. Zur profanen Identitätsproblematik der betrügerisch verführten Frau, die im Liebesrausch einige Dinge übersehen hat, passt das „J“ ebenso wie der „doppeldeut’ge Scherz“. Passt aber auch das Element, dass Alkmene den Pseudo-Amphitryon „schöner niemals fand, als heut“, dass er ihr „ins Göttliche verzeichnet“ erschien? Vielleicht reicht es aus anzunehmen, dass der betrügerische Verführer ein größerer Liebeskünstler als der Ehemann ist, der ihr ein zuvor ungekanntes Maß an sexuell-erotischer Erfüllung verschafft. Ein solcher Liebeskünstler kann der verführten Frau gewissermaßen als ein Liebesgott erscheinen, ohne dass wir deshalb das profane Deutungsmodell verlassen müssten. Hier bleibt indes das Detail unberücksichtigt, dass Alkmene Amphitryon ja bereits bei der Ankunft für einen der „Verherrlichten“ hält und von einem „unsäglichen Gefühl“ ergriffen ist.

Man sollte das alternative Deutungsmodell, das eine Identitätsproblematik mit religiösem Hintergrund annimmt, nicht ungeprüft verwerfen. Ich halte es für möglich, den bislang gesichteten Textbestand auch mit Hilfe dieses Ansatzes zu erklären. Dann wäre allerdings interpretatorisch anders anzusetzen. Nicht die seelische Krise der von einem menschlichen Mann betrügerisch verführten Frau wäre dann das Bezugssystem, sondern die seelische Krise der tatsächlich von einem höheren Wesen heimgesuchten Frau – oder weiter gefasst: die Krise der tatsächlich von einem mythischen Ereignis betroffenen Frau.

Schreibt man Kleist ein religiöses Überzeugungssystem zu, das mythische Ereignisse zulässt, die der Verwandlung eines Gottes in einen Menschen gleichkommen oder mit ihr verwandt sind, dann ließe sich die folgende These vertreten: Einerseits geht es, wie auch das profane Deutungsmodell annimmt, um die radikale Identitätskrise einer Frau; andererseits aber handelt es sich um eine religiöse Identitätskrise, die mit einem tatsächlichen mythischen Ereignis zusammenhängt, und nicht, wie die Gegenseite behauptet, um eine profane Krise, die nur – Molière vergleichbar – anhand eines mythischen Modells durchgespielt wird.

 

Die Szene II/5 ist für jede Interpretation des Stücks von entscheidender Bedeutung. Jupiter kommt – wie bei Molière in II/4 – in der Gestalt Amphitryons zu Alkmene zurück. Sie legt ihrem „Herrn“ und „Gemahl“ ihr Leben „zu Füßen“. „Hast du mir diesen Stein, betracht’ ihn wohl, / Mit eines fremden Nahmens Zug gegeben, / So küß ich ihn vor Lust und wein’ auf ihn; / Gabst du ihn nicht, und läugnest du ihn mir, / Verläugnest ihn, so sei der Tod mein Loos / Und ew’ge Nacht begrabe meine Schmach.“ Seitdem Alkmene den „fremden Zug“ – das „J“ – erblickt hat, misstraut sie ihrem „innersten Gefühl“ und hält es für möglich, dass ihr „ein Anderer – erschienen“.

Jupiter setzt nun – seine Göttlichkeit für den Rezipienten durchscheinen lassend – einen neuen Akzent. Er gibt keine direkte Antwort auf die Frage ‘Wer war’s?’, sondern wendet die Problematik ins Psychologische. Er sagt: „Alles, / Was sich dir nahet, ist Amphitryon.“ Und: „Wer nahet dir, oh du, vor deren Seele / Nur stets des Ein – und Ein’gen Züge stehn?“ Demnach ist Alkmene so disponiert, dass sie auch einen Gott nur als Amphitryon  wahrnehmen kann. „Wie könnte dir ein Anderer erscheinen?“

Jupiter scheint darauf hinauszuwollen, dass Alkmene ihren Gatten so sehr liebt, dass sie auch den die Gestalt Amphitryons annehmenden Jupiter, der diese Gestalt doch erstens offenbar „in’s Göttliche verzeichnet“ und zudem zweitens das „J“ eingeführt hat, zunächst für Amphitryon hielt.

Alkmene vergöttert Amphitryon, und deshalb verkennt sie den Gott. Vor ihrer „Seele“ stehen nur die „Züge“ Amphitryons. Damit hängt es zusammen, dass sie die Differenzen teils in ihr ‘System’ einbaut, teils übersieht. Das passt gut zur Vermutung eines religiösen Hintergrunds. Die religiöse Problematik: Die Frau vergöttert unzulässigerweise ihren Mann und nimmt damit dem Gott weg, was ihm zusteht.

Das vorhin skizzierte Gegenmodell lässt sich jedoch ebenfalls anwenden: Dann würde es um die profane Identitätskrise einer Frau gehen, welche durch eine Vergötterung ihres Gatten, die zur Verkennung der Tatsachen führt, zumindest mithervorgerufen wird.

Gehen wir erst einmal im Text weiter. Alkmene will definitiv wissen: „Warst du’s, warst du es nicht?“ Jupiter aber antwortet wiederum ausweichend und doppeldeutig: „Ich war’s. Sei’s wer es wolle.“ „Wer deine Schwelle auch betreten hat, / Mich immer hast du, theuerste, empfangen“. Alkmene muss aus Jupiters/Amphitryons (künftig: J.A.’s) Sätzen folgern, dass ihr Gatte es nicht war, dass er aber nun Verständnis für die Verwechslung aufbringt.

Das genügt Alkmene nicht, denn für den Fall, dass er es nicht war, sollte ja der Tod ihr „Loos“ sein: „leben will ich nicht, / Wenn nicht mein Busen mehr unsträflich ist.“ Eine Verwechslung, an der sie mitschuldig ist, ist für sie unverzeihlich. „Ich Schändlich-hintergangene!“

J.A., der Alkmene mehrfach mit „du Heilige“ anredet, behauptet demgegenüber ihre Schuldlosigkeit und Reinheit. „Was könntest du, du Heilige, verbrechen?“ Es fragt sich jedoch, ob dies glaubhaft ist, denn die Gattenvergötterung lässt sich ja durchaus als Schuld auffassen. Es handelt sich wohl eher um einen Vorwand, um sie von ihrem Selbstmordplan abzubringen.

J.A. gibt dem Gespräch wiederum eine neue Wendung. Der eigentlich „Hintergangene“ sei der Doppelgänger gewesen. „Ihn / Hat seine böse Kunst, nicht dich getäuscht, / Nicht dein unfehlbares Gefühl! Wenn er / in seinem Arm dich wähnte, lagst du an / Amphitryons geliebter Brust, wenn er / Von Küssen träumte, drücktest du die Lippe / Auf des Amphitryon geliebten Mund.“

Damit wird von der seelischen Problematik der getäuschten Frau zur seelischen Problematik des göttlichen Doppelgängers übergegangen, ohne dass Alkmene dies bemerken würde. Der Gott wollte offenbar als er selbst geliebt werden, aber die Liebesbezeugungen Alkmenes galten ja immer nur Amphitryon. Der Gott, der in Liebe zu Alkmene entbrannt ist und die „Truggestalt Amphitryons“ angenommen hat, um zur Befriedigung zu gelangen, ist nun enttäuscht, da er doch nicht das bekommen hat, was er eigentlich wollte. „O einen Stachel trägt er, glaub’ es mir, / Den aus dem liebeglüh’nden Busen ihm / Die ganze Götterkunst nicht reißen kann.“

Option 1: Kleist ist es um die profane seelische Problematik sowohl der Identitäts-Betrogenen als auch des Identitäts-Betrügers zu tun.

Option 2: Kleist geht es primär um eine religiöse Problematik, nämlich um das angemessene, das ‘wahre’  Verhältnis zwischen Gott und Mensch, speziell zwischen dem Gott und der ihren Gatten liebenden Frau. Demnach darf und soll die Frau ihren Gatten zwar lieben, aber sie soll ihn nicht vergöttern, d.h. mit Gott selbst vermengen. Alkmene hat diese Grenze überschritten.

Auf der anderen Seite würde der ‘wahre’ Gott nicht direkt – und dann auch noch aus egoistischen Gründen – in die Geschicke der Menschen eingreifen. Jupiter hat diese Grenze überschritten. Kurzum, ich vermute, dass Kleist die Amphitryon-Mythe benutzt, um ein von beiden Seiten unangemessenes Verhältnis zwischen Gott und Mensch darzustellen. Und die Betonung der seelischen Konflikte dient dazu, diese Unangemessenheit herauszuarbeiten. Das gesamte mythische Modell verweist indirekt auf das ‘richtige’ Verhältnis zwischen Gott und Mensch.

Jupiters Verhalten wäre dann das Verhalten eines – zumindest in dieser Hinsicht – ‘unwahren’, läuterungsbedürftigen Gottes. J.A. spielt den auf den göttlichen Besuch stolzen Ehemann: „Mich fester hat der Kuß, den du ihm schenktest, / Als alle Lieb’ an dich, die je für mich / Aus deinem Busen loderte, geknüpft.“ J.A. bietet Alkmene, welche die Zusammenhänge allerdings nicht durchschaut, sogar an, sie in die Schar der Götter einzuführen: „Die ew’ge Here müßte vor dir aufstehn, / Und Artemis, die strenge, dich begrüßen.“ Für Alkmene sind das alles nur ‘schöne’ Beschwichtigungsversuche Amphitryons. „Geh, deine Güt’ bedrückt mich.“ Der ‘wahre’ Gott würde, so ist zu vermuten, nicht auf den Gedanken kommen, eine liebende Gattin um seiner eigenen Liebe willen aus ihrer Lebenssphäre zu reißen.

Nach einigem Hinundher gesteht J.A. dann: „Es war kein Sterblicher, der dir erschienen, / Zevs selbst, der Donnergott, hat dich besucht.“ Doch Alkmene kann das zunächst nicht glauben, und sie hält J.A. ja weiterhin für A. Wichtig für meinen Deutungsansatz ist Jupiters Reaktion auf den Vorwurf, er, Amphitryon, zeihe „die Olympischen / Des Frevels“: „Laß solch’ ein Wort nicht, Unbesonnene, / Aus deinem Mund mich wieder hören.“ „Schweig, sag ich, ich befehl’s.“ Im Licht der Problematik des ‘wahren’ Gottes handelt es sich tatsächlich um einen Frevel – Jupiter tat etwas, was der ‘wahre’ Gott nicht tun würde.

J.A. bringt das Gespräch nun auf die früher von ihm auserwählten Frauen Kallisto, Europa und Leda. Offenbar versucht er, Alkmene dazu zu bewegen, die Nachfolge dieser „Bewohnerinnen ew’gen Ätherreichs“ anzutreten. Er hätte sie gern „empfindlich für den Ruhm [...] / Zu den Unsterblichen die Staffel zu ersteigen“ – und nicht „gesättigt völlig von dem Ruhm, / Den einen Sterblichen zu Füßen dir zu sehn.“ Sie betrachtet sich indes als „solcher Gnad’ Unwürd’g’“. Jupiter: „Ob du der Gnade werth, ob nicht, kömmt nicht / Zu prüfen dir zu. Du wirst über dich, / Wie er dich würdiget, ergehen lassen.“

Das alles sind indirekte Versuche, Alkmene dazu zu bewegen, nunmehr bewusst in die Fußstapfen der Vorgängerinnen zu treten und stolz auf ihre Erwählung zu sein. Das wäre jedoch, folgt man der Hypothese, genau der ‘unwahre’, sozusagen der heidnische Weg. Der weitere Verlauf von II/5 lässt sich dann unter anderem als Aufdeckung dieser ‘Unwahrheit’ deuten.

J.A. bemüht sich, Alkmene zu überzeugen, dass tatsächlich „Der Götter ew’ger, und der Menschen, Vater“ ihr beigewohnt hat. Er spielt die ‘traditionelle’ Rolle – den auf den Götterbesuch stolzen Gatten. „Nur die Allmächt’gen mögen / So dreist, wie dieser Fremdling, dich besuchen, / Und solcher Nebenbuhler triumphir’ ich! / Gern mag ich sehn, wenn die Allwissenden / Den Weg zu deinem Herzen finden, gern, / Wenn die Allgegenwärtigen dir nahn“.

In diesem Kontext werden nun die Konsequenzen der Vergötterung Amphitryons durch Alkmene unter veränderten Vorzeichen erneut durchgespielt. Müssen nicht die „Allwissenden“ und „Allgegenwärtigen“ selber noch „Amphitryon sein, und seine Züge stehlen, / Wenn deine Seele sie empfangen soll?“ fragt Jupiter. J.A. bringt den „Unwillen“ des Gottes über diese übermäßige Gattenverehrung ins Spiel. „Nimmst du die Welt, sein großes Werk, wohl wahr? / Siehst du ihn in der Abendröthe Schimmer, / Wenn sie durch schweigende Gebüsche fällt?“ Alkmene weist den Vorwurf der Götzenanbetung zurück und stellt ihre fromme und kindliche Gottesverehrung heraus. „Verglüht ein Tag, daß ich an seinem Altar, / Nicht für mein Leben dankend, und dies Herz, / Für dich auch du Geliebter, niedersänke?“

Doch J.A. hat ihren eigentlichen Schwachpunkt erkannt. Er weiß: Als Alkmene sich “jüngst noch in gestirnter Nacht“ vor Jupiter auf’s Antlitz warf, so deshalb, weil „in des Blitzes zuckender Verzeichnung“ sie „einen wohlbekannten Zug erkannt“, nämlich den Amphitryons.

„Wer ist’s, dem du an seinem Altar betest? / Ist er’s dir wohl, der über Wolken ist? / [...] / Ist’s nicht Amphitryon, der Geliebte stets, / Vor welchem du im Staube liegst?“ Das aber heißt: Alkmenes Gottesdienst ist mit dem Götzendienst am geliebten Gatten unsauber vermengt. Ihr religiöser Sinn ist ein „befangner Sinn“. Darin zeigt sich die vorhin schon angesprochene Grenzüberschreitung Alkmenes, die es zu korrigieren gilt.

Alkmene ist verwirrt, und sie versucht sich zu verteidigen. Sie kann nicht einfach „zur weißen Wand des Marmors beten“, sie braucht menschliche „Züge“, um den Gott „denken“ zu können – und sie greift eben unwillkürlich zu den Zügen des geliebten Mannes. Nach dem vermuteten textprägenden Überzeugungssystem muss dieser Anthropomorphismus, der ja leicht in die Vergötterung eines Menschen umschlagen kann, jedoch zumindest zurückgedrängt werden.

J.A. legt nahe, Jupiter habe die Gestalt Amphitryons angenommen, um sich für die ihn kränkende „Abgötterei“ zu rächen und um Alkmene „zu zwingen ihn zu denken“. „Wird er wohl gern / Dein schönes Herz entbehren? Nicht auch gern / Von dir sich innig angebetet fühlen?“ Das scheint jedoch bloße Taktik zu sein, um Alkmene doch noch zur Nachfolgerin Kallistos machen zu können. Der ‘unwahre’ Gott – so interpretiere ich – nutzt die religiöse Verfehlung der Frau aus, um sie sich gefügig zu machen, der ‘wahre’ Gott würde sich mit der Abkehr von der „Abgötterei“ begnügen, ohne diesen Lernprozeß egoistisch auszubeuten.

Zunächst entsteht der Eindruck, dass J.A. mit einer religiösen Besserung Alkmenes zufrieden wäre. „Doch künftig wirst du immer / Nur ihn, versteh’, der dir zu Nacht erschien, / An seinem Altar denken, und nicht mich.“ Alkmene: „Wohlan! Ich schwör’s dir heilig zu!“ Sie will künftig „in jeder ersten Morgenstunde“ nicht an Amphitryon, sondern nur an Jupiter denken. „Jedoch nachher vergess’ ich Jupiter.“

J.A. lässt jedoch seine egoistische Motivation durchblicken. Er will, dass Alkmene die Unterscheidung zwischen Geliebtem und Gemahl vollzieht und sich gerade an die Liebesstunden mit Jupiter erinnert. Sie soll „seiner Erscheinung auf das Innigste gedenken“. „Und stört dein Gatte dich, / So bittest du ihn freundlich, daß er dich / Auf eine Stunde dir selbst überlasse.“

Nach dem von mir Kleist zugeschriebenen Überzeugungssystem ist das neue Verhalten Alkmenes das religiös angemessene. Sie vermengt Gott nicht mehr mit ihrem Gatten, sie lässt dem Gott die ihm zukommende Verehrung zuteil werden und wendet sich danach dem irdischen Leben zu, in dem ihr Gatte die zentrale Rolle spielt. Der heidnisch-’unwahre’ Gott aber will mehr – er will letztlich, dass Alkmene ihn dem geliebten Gatten vorzieht.

 „Wenn also jetzt in seinem vollen Glanze, / Gerührt durch so viel Besserung, / Der ew’g’ Erschütterer der Wolken sich dir zeigte, / Geliebte! sprich, wie würdest du dich fassen?“ Er erwartet und wünscht, Alkmene werde „das Herz vor ihm / In tausendfacher Seeligkeit“ aufgehn. „Was du ihm fühlen wirst, wird Glut dir dünken, / Und Eis, was du Amphitryon empfindest.“ Er hofft, dass sie weinen wird, weil sie dem Gott nicht zum Olymp folgen darf.

Doch Alkmene reagiert anders: „Nein, nein, das glaube nicht, Amphitryon.“ Sie würde den Tag, an dem alles passiert ist, am liebsten ungeschehen machen. J.A. ist enttäuscht: „Verflucht der Wahn, der mich hieher gelockt!“

Er gibt dann seine Sehnsucht und Liebesbedürftigkeit zu erkennen. „Auch der Olymp ist öde ohne Liebe.“ „Er will geliebt sein, nicht ihr [der Erdenvölker – P.T.] Wahn von ihm. / In ew’ge Schleier eingehüllt, / Möcht’ er sich selbst in einer Seele spiegeln, / Sich aus der Thräne des Entzückens wiederstrahlen.“ Er ist enttäuscht, dass Alkmene „Sein ungeheures Dasein nicht versüßen“ will.

Alkmene jedoch, die inzwischen – so behaupte ich – zur angemessenen Gottesverehrung gelangt ist, reagiert im Sinn der irdisch-himmlischen Gewaltenteilung. Wäre sie von „Der Götter großem Rathschluß“ zu „so heil’gem Amte auserkohren“, so würde sie sich nicht „sträuben“ – würde ihr hingegen die „Wahl“ gelassen, „so bliebe meine Ehrfurcht ihm, / Und meine Liebe dir, Amphitryon.“ So ist es – nach dem postulierten Überzeugungssystem – recht: Gottes ist die religiöse „Ehrfurcht“, des Gatten die „Liebe“. Der heidnisch-’unwahre’ Gott, der diese ‘Gewaltenteilung’ nicht akzeptiert, scheitert bei der Frau, die ihre anthropomorphistische Verfehlung und Götzenverehrung überwunden hat.

Dazu passen die letzten Dialogpartien in II/5, in denen J.A. die Frage aufwirft ‘Was wäre, wenn ich Jupiter wäre?’ Alkmene wüßte dann nicht, wo Amphitryon wäre: „So würd’ ich folgen dir, wohin du gehst“. Und „wenn sich Amphitryon jetzt zeigte“, wenn sie erkennen würde, dass sie „den Gott in Armen“ hält, „Im Wahn, es sei Amphitryon“? Alkmene: „Wenn du, der Gott, mich hier umschlungen hieltest / Und jetzo sich Amphitryon mir zeigte, / Ja – dann so traurig würd’ ich sein, und wünschen, / Daß er der Gott mir wäre, und daß du / Amphitryon mir bliebst, wie du es bist.“ Das heißt: Alkmene würde wiederum die ‘Gewaltenteilung’ wählen. Jupiters Plan ist somit gescheitert.

Wie ist dann Jupiters Reaktion zu deuten: „Mein süßes, angebetetes Geschöpf! / In dem so seelig ich mich, seelig preise! / So urgemäß, dem göttlichen Gedanken, / In Form und Maaß, und Sait’ und Klang, / Wie’s meiner Hand Äonen nicht entschlüpfte!“ Ich neige dazu, bei Jupiter hier eine ähnliche Selbstkorrektur am Werk zu sehen wie zuvor bei Alkmene. Alkmenes Überwindung der Vermengung des Gottes mit dem geliebten Menschen korrespondiert Jupiters Überwindung des göttlichen Eingriffs in die ‘Eigengesetzlichkeit’ der zwischenmenschlichen Beziehungen. Jupiter wollte es urspünglich anders, aber er erkennt nun, dass er sich „seelig preisen“ kann, einen solchen Menschen geschaffen zu haben. Alkmene entspricht dem „göttlichen Gedanken, / In Form und Maaß“. Daher verkündet er auch: „Es wird sich Alles dir zum Siege lösen.“

Am Ende von II/5 soll Sosias – wie bei Molière in II/6 – verkünden, dass sich Alkmene mit Amphitryon versöhnt hat und „zu einem Feste“ rufen. Die letzte Szene des zweiten Akts (II/6) gehört zwar zur Nebenhandlung, die ich im Prinzip ausspare, aber ein kurzer Blick ist doch sinnvoll, da Kleist Molières II/7 zum einen erheblich ausweitet und zum anderen mit einigen Akzenten versieht, die für meinen Interpretationsversuch relevant sind.

Sosias bemerkt zur Nachricht, dass „Zwei große Götter vom Olymp gestiegen“: „Dergleichen Heirath war mir stets zuwider.“ Und: „Es ist wie Pferd und Esel.“ Das passt zu meiner Interpretationslinie, die ja auch die Unangemessenheit einer Liebesbeziehung zwischen Gott und menschlicher Frau herausstellt.

Die Gegenseite, die hier von Charis repräsentiert wird, sieht eine solche „Heirath“ hingegen als – das Prestige steigernden – „Triumph“. „Solch ein Triumph, wie über uns gekommen, / Ward noch in Theben nicht erhört.“

Ehe ich mich dem dritten und letzten Akt zuwende, sollte überlegt werden, wie es mit den beiden Interpretationsoptionen steht. Während das erste Modell, das die profane Identitätsproblematik als Zentrum ansetzt, bis zur Szene II/4 mit einiger Plausibilität vertreten werden konnte, führt die genaue Analyse von II/5 zur Bevorzugung des zweiten Modells, das einen religiösen background annimmt. Beim jetzigen Stand unserer Überlegungen spricht viel dafür, dass die Identitätsproblematik nur ein Element einer umfassenderen religiösen Problematik ist, die um das angemessene Verhältnis zwischen Gott und Mensch – am Beispiel einer besonderen Ehefrau – kreist. Beide Seiten erweisen sich als lernfähig und korrigieren eine Fehlhaltung, so dass sich ein angemessenes Verhältnis unter Bedingungen der ‘Gewaltenteilung’ abzeichnet. Daher vermute ich auch, dass für das textprägende Überzeugungssystem Kleists gilt, dass Gott und Mensch aufeinander angewiesen sind.

 

Zum dritten Akt. Amphitryons Monolog in III/1 entspricht wieder in der Grundtendenz der französischen Vorlage. Ebenso III/2 – der Dialog zwischen Merkur und Amphitryon. Auch die Szenen III/3 und III/4 sind ganz nach Molière gearbeitet.

In III/5 kommt, wie in der Vorlage, Jupiter hinzu, so dass „zwei Amphitryonen“ anwesend sind, die „Kein menschlich Auge unterscheidet“. Ähnlich wie bei Molière verkündet Jupiter: „Es soll der ganze Weltenkreis erfahren, / Daß keine Schmach Amphitryon getroffen.“

Die kurzen Szenen III/6-7 sind neu, haben aber wohl nur überleitenden Stellenwert. III/8 entspricht dann wieder Molières III/6. Aus dem letzten Beitrag Sosias’ macht Kleist eine eigene Szene (III/9).

III/10 korrespondiert Molières III/7, ist aber etwas verändert. J.A. hat das Volk rufen lassen. „Wir sollten Zeugen sein, so sagte man, / Wie ein entscheidend Wort aus eurem Munde / Das Räthsel lösen wird, das in Bestürzung / Die ganze Stadt gesetzt.“ Amphitryon bezeichnet seinen Doppelgänger als „lügnerischen Höllengeist“ und bemüht sich, das Volk auf seine Seite zu ziehen. Und er knickt seines „Helmes Feder“ ein.

Die Schlussszene III/11 verweist auf  Molières III/10, ist aber erstens ausführlicher gestaltet und zweitens stark verändert. Jupiter sagt anfangs zu Alkmene: „Die ganze Welt, Geliebte, muß erfahren, / Daß Niemand deiner Seele nahte, / Als nur dein Gatte, als Amphitryon.“

Beim Streit darum, wer der echte Amphitryon ist, schlägt der „Erste Oberste“ vor: „Der ist’s, den seine eigne Frau erkennt.“ Amphitryon: „– Wenn Sie als Gatten ihn erkennen kann, / So frag’ ich nichts danach mehr, wer ich bin: /  So will ich ihn Amphitryon begrüßen.“

Alkmene kann sich zunächst nicht entscheiden. „Daß ich zu ew’ger Nacht versinken könnte!“ Dann aber wählt sie – auf Jupiters Aufforderung „Gieb, gieb der Wahrheit deine Stimme, Kind“ – doch J.A. Den ‘echten’ Gatten weist sie, ihn für den Doppelgänger haltend,  als „Ungeheuer“ ab. „Verflucht die Sinne, die so gröblichem / Betrug erliegen. [...] Verflucht die Seele, die nicht so viel taugt, / Um ihren eigenen Geliebten sich zu merken!“

Als Amphitryon schließlich selbst einräumt (oder einzuräumen scheint), dass der andere der echte Amphitryon sei, verkündet Jupiter: „Wohlan! Du bist Amphitryon.“ Die Situation zuspitzend, fragt er die desorientierte Alkmene, ob ihr Amphitryon erschienen sei. Sie antwortet: „Laß ewig in dem Irrthum mich, soll mir / Dein Licht die Seele ewig nicht umnachten.“

Schließlich gibt sich J.A. als Jupiter zu erkennen. Amphitryon reagiert traditionell: „Anbetung dir / In Staub. Du bist der große Donnerer! / Und dein ist Alles, was ich habe.“ Ähnlich wie bei Molière weist Jupiter Amphitryon auf die ihm zuteil gewordene Ehre hin: „öffne dem Triumph dein Herz“. Mehr noch: „Bist du mit deinem Dank zufrieden nicht, / Auch gut: Dein liebster Wunsch soll sich erfüllen“.

Und Amphitryon hat einen Wunsch: „Was du dem Tyndarus gethan, thust du / Auch dem Amphitryon: Schenk’ einen Sohn / Groß, wie die Tyndariden, ihm.“ Amphitryon verhält sich also nach dem von J.A. in II/5 vorgelebten Muster: „Wohlan, ich sag’s, ich neide Tyndarus, / Und wünsche Söhne mir, wie Tyndariden.“ Jupiter antwortet: „Es sei. Dir wird ein Sohn gebohren werden, / Dess’ Name Herkules: es wird an Ruhm / Kein Heros sich, der Vorwelt, mit ihm messen“.

Alkmene jedoch „athmet nicht“, offenbar ist sie in Ohnmacht gefallen – wie etliche andere Protagonistinnen Kleists. Jupiter verkündet: „laß sie ruhn, wenn sie dir bleiben soll!“ Und während er sich, von Merkur gefolgt, auf den Olymp zurückzieht, kommt Alkmene wieder zu sich und beschließt das Stück mit dem berühmten Ausruf „Ach!“

Bewährt sich der vorgeschlagene Interpretationsansatz auch an der Schlussszene? Weshalb die Änderungen, und wie ist das „Ach!“ zu deuten? Wenn ich mit der Annahme einer religiösen Problematik richtig liege, so kann Jupiters Verhalten direkt auf den in II/5 prinzipiell erreichten religiösen Fortschritt bezogen werden. Der Gott verzichtet auf sein grenzüberschreitendes Begehren und respektiert die ‘Gewaltenteilung’. Aber er tut dies nicht ohne inneres Widerstreben, und sein Verhalten in III/11 kann als Verhalten eines gekränkten Gottes betrachtet werden, der seine überlegene Macht noch einmal ausspielt und insbesondere Alkmene irreführt, ehe er sich in sein himmlisches Reich zurückzieht.

Zum einen muss Alkmene nun definitiv anerkennen, dass Jupiter ihr beigewohnt hat, und zum anderen muss sie zum zweiten Mal erkennen, dass ihr Gefühl sie täuschen kann, d.h. dass höhere Mächte in der Lage sind, ihr Gefühl zu verwirren. Die „Goldwaage der Empfindung“ ist keine unerschütterliche Gewissheitsinstanz. Damit wird sie auf einer anderen Ebene erneut auf das angemessene Gottesverhältnis hingewiesen: Nicht nur die Vermengung des Gottes mit dem geliebten Gatten ist zu überwinden, sondern auch die Position der vermeintlich unerschütterlichen Selbstgewissheit, die ja letztlich die Eingriffsmöglichkeit der höheren Mächte negiert.

Jupiter erteilt Alkmene sozusagen eine zweite Lehrstunde, und die Ohnmacht zeigt an, dass Alkmene nunmehr die Größe des numinosen Ereignisses erfasst hat und davon überrollt wird. Sie erkennt, dass sie zuvor mit Jupiter selbst gesprochen hat und dass die höhere Macht ständig in ihr Leben eingreifen kann.

In diesem Zusammenhang ist es nicht ohne Bedeutung, dass Alkmene schon einmal mit „Ach!“ reagiert hat, nämlich in I/4 auf Jupiters Frage: „Schien diese Nacht dir kürzer als die andern?“ Das „Ach!“ kann hier als Ausdruck der überwältigenden, ‘göttlichen’ Liebeserfahrung aufgefasst werden.

 

Ehe ich im letzten Arbeitsgang anhand der Vergleichsliste die speziellen Deutungsprobleme behandle, möchte ich Kleists Amphitryon zusammenfassend mit dem Molières vergleichen. Die bei Molière zentrale sozial-politische Herrscher- und Herrschaftskritik spielt offenkundig gar keine Rolle mehr, bei Kleist liegt keine gesellschaftskritische Konzeption vor. Man kann aber sagen, dass Kleist die allgemeine Problematik der Herrscher- und Herrschaftskritik sehr wohl beibehält, sie jedoch von der sozial-politischen auf die religiös-theologische bzw. metaphysische Ebene verlagert. Die kritische Stoßrichtung geht nicht völlig verloren – sie bleibt in radikal umgedeuteter Form als Kritik an einem bestimmten Gottesverständnis bzw. an einer bestimmten Form der Religion erhalten.

Und die kritische Darstellung eines ‘unwahren’ Gottes wird ergänzt durch die Aufwertung Alkmenes und ihrer seelischen Krise, die auf andere Aspekte der religiös-theologischen Gesamtproblematik bezogen werden kann, nämlich auf die Gefahr der anthropomorphistischen Vermengung des Gottes mit dem Menschen (hier: dem geliebten Gatten) einerseits und auf die Grundhaltung, welche das Gefühl für eine absolute Gewissheitsinstanz hält (was die Möglichkeit des Eingriffs ‘von oben’ ausschließt) andererseits.

Kleist kritisiert, so meine These, eine bestimmte Religion, die mit Göttern rechnet, die sich von egoistischen Beweggründen leiten lassen und keine ‘Gewaltenteilung’ respektieren, die zu stark in die in die menschlichen Schicksale eingreifen. Die Problematik der betrügerischen Verführung bleibt erhalten, sie wird aber auf die religiöse Ebene zurückverlagert, aus der sie ursprünglich stammt. Die Problematik der ‘normalen’ Verführung findet sich (in II/5) ebenfalls in religiöser Gestalt, wenn J.A. versucht, Alkmene zur Nachfolgerin von Kallisto und anderen Frauen zu machen.

Von wo aus inszeniert Kleist diese Kritik? Möglicherweise von einer – näher zu bestimmenden – christlichen Position aus. Die Amphitryon-Mythe würde dann als Vehikel für eine christliche Kritik am Heidentum dienen, die sowohl das Gottesverständnis als auch die Verehrungspraxis betrifft. Kleist würde demnach mit einer religiös-theologischen Fortschrittstheorie arbeiten und Jupiter das durch das Christentum überwundene heidnische Stadium repräsentieren.

Die gefühlsmäßige Sicherheit ist nicht absolut, denn sie kann von den höheren Mächten gestört werden. Es gibt auch profane Identitätskrisen, bei Alkmene haben wir es jedoch – nach meiner Interpretation – mit einer ‘von oben’ ausgelösten Identitätskrise zu tun. Die Schlussszene greift diese Problematik erneut auf. Der Mensch muss stets damit rechnen, dass Gott bzw. ein Gott ihn in die Irre führt, er darf sich seiner selbst nie ganz sicher sein. Die höhere Macht kann einen Menschen insbesondere dahin bringen, einen anderen für den gut bekannten X zu halten.

Der in gewisser Hinsicht ‘unwahre’, gewissermaßen noch unfertige Gott wird mit einer Frau konfrontiert, die eine Fortsetzung seiner bisherigen Praxis nicht zulässt. Für Alkmene ist die irdische Existenz – und in dieser wiederum die Beziehung zu ihrem geliebten Gatten – das eigentliche Handlungsfeld, das durch den Bezug zu Gott bzw. zu den Göttern nur umrahmt wird. Nach einer ersten Phase der unzulässigen Vermengung von Gott und Amphitryon gelangt sie zu einer Position der ‘Gewaltenteilung’. Alkmene ist in der Tat nicht empfindlich für den Ruhm, „Zu den Unsterblichen die Staffel zu ersteigen“.

Der Gott vollzieht diesen Schritt ebenfalls. Er verzichtet auf den ihm prinzipiell möglichen Eingriff und respektiert die Gewaltenteilung, allerdings nicht ohne seine Macht noch einmal vorgeführt zu haben.

Diese Konstellation lässt sich vielleicht am zwanglosesten einem Entwicklungsmodell zuordnen, das mit einem großen religiösen Selbstreinigungsprozess rechnet, der durch die Wechselwirkung von Gott und Mensch vorangetrieben wird. „Verflucht der Wahn, der mich hierher gelockt!“ Der Gott erkennt sein bisheriges Ansinnen als „Wahn“. Gewiss, „der Olymp ist öde ohne Liebe“, doch die Gott angemessene Liebe ist eben nicht die Liebe nach menschlichem Muster, sondern die spezifische Gottesliebe unter Bedingungen der Gewaltenteilung.

Kritik an heidnischer Religiosität, vorgeführt an einer heidnischen Mythe – wenn wir davon ausgehen, so wird verständlich, weshalb Kleist so viele Partien von Molière übernehmen konnte. Das gesamte Verwandlungsszenario, die Verwechslungen, die komischen Konflikte – all das lässt sich zwanglos von der sozial-politischen auf die religiös-theologische Ebene übertragen.

Nehmen wir Merkur. Bei Molière ist der Gott gewissermaßen Deckform für den recht brutalen obersten Handlanger des Herrschers. Bei Kleist hingegen zeigt Merkur durch dieselben Verhaltensweisen die Defizite und die ‘Unwahrheit’ einer bestimmten Religion auf, die an solche Götter glaubt.

Die ‘starken’ Identitätsprobleme etwa von Sosias verweisen nicht auf die realen Identitätskonflikte der zu Objekten der Herrschaftspraxis gewordenen Untergebenen, sondern auf die realen Identitätskonflikte der Untergebenen, die im Bannkreis dieser Religion leben.

Alkmene wird zum Angelpunkt des Stücks, indem sie durch ihre echte und unerschütterliche Gattenliebe eine Position erreicht, welche die Grenzen der vorgegebenen Religion sprengt. Das mythische Modell wird von Kleist entsprechend uminstrumentiert.

Der ‘wahre’ Gott hat die ‘Gewaltenteilung’ akzeptiert und mischt sich nicht mehr in irdische Liebesbelange ein. Er hat sich vom ‘umgekehrten’ Anthropomorphismus gelöst. Die betrügerische wie auch die ‘normale’ Verführung durch einen Gott werden daher überflüssig. Menschen werden in dem sich andeutenden Zustand nicht mehr willkürlich durch Götter in Identitätskrisen gestürzt. Insbesondere der bösartige Handlangergott hat seine Funktion verloren. Eine Moralisierung der Religion hat stattgefunden.

 

Nun zu den Detailproblemen. Dabei spare ich die Übernahmen, auf die ich bereits eingegangen bin, aus.

Bei Kleist fehlt – im Vergleich mit Molière – das gesamte Vorspiel (Nr. 1 und 2) Weshalb?

Ich vermute, dass dies spezifisch künstlerische Gründe hat. Kleist macht in seinem „Lustspiel nach Molière“ letztlich etwas völlig anderes aus seiner Vorlage. Gleichzeitig übernimmt er jedoch ganze Szenen und Szenenblöcke. Es war wohl sein Ziel, seine Neukonzeption erst allmählich zu offenbaren. Ein Vorspiel hätte ihn jedoch genötigt, die neue Gestaltungsidee schon zu Beginn zumindest anzudeuten. Deshalb, so meine Hypothese, hat er auf ein Vorspiel verzichtet. Der ‘direkte’ Anfang begünstigt das – auf den Kenner der Vorlage zielende – Verwirrspiel.[20]

Nr. 12: Kleist verändert die Aussöhnungsszene. Weshalb die Unsicherheit Alkmenes über ihre Unschuld? Weshalb offenbart Jupiter indirekt seine wahre Identität?

Nach meiner Interpretation liegt in diesem Stadium eine von beiden Seiten her verzerrte Beziehung zwischen Gott und menschlicher Frau vor. Alkmenes Gottesverhältnis wird durch die Liebe zu Amphitryon gestört – sie ist nicht ohne Schuld. Jupiter hingegen wahrt nicht die Distanz zu den Menschen. Diese Elemente der Gestaltungsidee sind mit Molières Aufbau der Aussöhnungsszene nicht vereinbar. Sie müssen deshalb durch passende ersetzt werden. Ein Jupiter, der die Tendenz zeigt, sich als Nicht-Amphitryon zu erkennen zu geben, ist eben ein Gott, der sich zu stark den Menschen annähert.

Nr. 23. Weshalb führt Kleist das Element ein, dass Alkmene sagen soll, wer der echte Amphitryon ist? Und wieso die Entscheidung für Jupiter/Amphitryon?

Nach meiner Interpretation zeigt der prinzipiell zur Anerkennung der ‘Gewaltenteilung’ gelangte Gott erstens noch einmal seine Verwirrungsmacht, und zweitens demontiert er so Alkmenes Position der profanen Selbstgewissheit des Gefühls. Nr. 23 ist genau auf diese Zielsetzung zugeschnitten.

Weshalb die Ohnmacht Alkmenes (Nr. 25)?

Die Ohnmacht ist Ausdruck dessen, dass Alkmene nun die volle Tragweite des mythischen Ereignisses erkannt hat. Es ist zu erwarten, dass diese Erkenntnis, die ein angemessenes Verhältnis zwischen Gott und Mensch ermöglicht, künftig ihr Leben bestimmen wird. Amphitryon hingegen sieht nur die Erhöhung des Prestiges, das durch ein Prestigekind noch weiter verstärkt wird. Er hat das neue religiöse Niveau (noch) nicht erreicht.

 


[17] H.v. Kleist: Amphitryon, ein Lustspiel nach Molière. In: Sämtliche Werke. Berliner Ausgabe. Hrsg. von R. Reuß und P. Staengle, Bd. I/4, Basel/Frankfurt a.M. 1991.

[18] Ergänzung von Corinna Thiel: Das erste Zitat bezieht sich auf die Prügel, die Sosias erhält; diese können ihm zwar den Tod bringen, aber seine Identität nicht ändern. Das zweite Zitat bezieht sich darauf, daß Merkur genau über Sosias’ Verhalten während der Schlacht Bescheid weiß; Sosias gibt hier klein bei, um den Schlägen zu entgehen, nicht weil ihm echte Zweifel an seiner Identität kommen.

[19] Ergänzung von Corinna Thiel: Die Krise Alkmenes bezieht sich primär darauf, dass sie sich ihrer Gefühle nicht mehr sicher sein kann, während sie ihre eigene Identität nicht ernsthaft anzweifelt. Der Zweifel an sich selbst betont die ‘Unmöglichkeit’, dass sich ihr ein anderer als ihr Gatte genähert haben soll, denn trotz der Indizien will Alkmene es nicht wahr haben, dass sie sich getäuscht haben könnte. Aber ihre Zweifel bleiben. Eine Gefühlskrise besteht insofern, als Alkmene sich immer sicher war, nur Amphitryon zu lieben.

[20] Ergänzung von Corinna Thiel: Der Prolog diente auch dazu, das Publikum mit einzubeziehen; durch den Wegfall der sozial-politischen Ebene ist es nicht mehr nötig, die Zuschauer als Kenner und Kritiker des Geschehens direkt anzusprechen.


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