1.06 Literaturtheoretische Grundannahmen
1. Das wichtigste Merkmal des Positivismus ist die
naturwissenschaftlich-empirische Ausrichtung der geisteswissenschaftlichen
Verfahren. Man orientiert sich in der Literaturwissenschaft am
(damaligen) naturwissenschaftlichen Methodenideal. Methoden der
Naturwissenschaften, insbesondere der naturwissenschaftlichen Erforschung von
Gesetzen, sollen auf die Geisteswissenschaften im allgemeinen und auf die
Literaturwissenschaft im besonderen übertragen werden. In den
Geisteswissenschaften soll den Naturwissenschaften Gleichwertiges geleistet
werden; man erwartet wissenschaftliche Ergebnisse, die an Genauigkeit,
Endgültigkeit und intersubjektiv überprüfbarer Objektivität den
Naturwissenschaften vergleichbar sind. Die naturwissenschaftliche Objektivität
wird als Vorbild angesehen. Die Naturwissenschaften boten den Entdeckungs- und
Erklärungserfolg im Feld der Wirklichkeit, der der (spekulativen) Philosophie
versagt geblieben war. 2. Man glaubt an die strenge Kausalität auch im geistigen
Leben, d.h. an die Unfreiheit des Willens, anders formuliert: an die strenge
Determiniertheit des Willens. „[...] wir glauben mit Buckle dass der
Determinismus, das demokratische Dogma vom unfreien Willen, diese Centrallehre
des Protestantismus, der Eckstein aller wahren Erfassung der Geschichte sei.
Wir glauben mit Buckle dass die Ziele der historischen Wissenschaft mit denen
der Naturwissenschaft insofern wesentlich verwandt seien, als wir die
Erkenntniss der Geistesmächte suchen um sie zu beherrschen, wie mit Hilfe der
Naturwissenschaften die physischen Kräfte in menschlichen Dienst gezwungen
werden.“ (Scherer 1995, VIII) Die ganze Geschichte und speziell die Literaturgeschichte
soll als „lückenlose Kette von Ursachen und Wirkungen“ (Scherer 1893, 67)
dargestellt werden; schöpferische Freiheit und Spontaneität sind damit
ausgeschlossen, Zufall und metaphysische Einwirkungen werden nicht als
geschichtsbildende Mächte anerkannt. Das Denkmuster ist daher linear, es zeigt Kausal-Ketten.
Auch die Dichtungsphänomene sind kausal bedingt. Literaturgeschichte „erkennt
das Sein aus dem Werden und untersucht wie die neuere Naturwissenschaft
Vererbung und Anpassung und wieder Vererbung und so fort in fester Kette.“
(Schmidt 1886, 480) 3. Literatur lässt sich mit den aus der Naturwissenschaft
bekannten Methoden erklären: durch Kausalität, durch äußerlich einwirkende
Kräfte. Kein Werk eines Dichters kann ohne Wissen um die Person,
die es hervorbrachte, kein Werk ohne Wissen um das Leben und Lebensmilieu, aus
dem diese Person hervorging, verstanden werden; die genaue Untersuchung des
Dichterlebens ist die Voraussetzung für das Verständnis des Werkes. Leben und
Werk bilden eine Einheit. Es gibt eine Kausalbeziehung zwischen Leben und Werk. Nicht der Geist allein ist demnach der Vater von
Geisteswerken, ihre Entstehung hängt ab von der Naturanlage des Künstlers, von
seiner Erziehung und seinem Leben. Die soziale Umwelt des Autors ist dabei ein
wichtiger Faktor. Ein literarischer Text ist stets auch ein geschichtliches
Produkt. Er ist zu einer bestimmten Zeit geschrieben worden und von ihr
abhängig. 4. Scherers Orientierung an den naturwissenschaftlichen
Methoden bedeutet nicht, wie von einigen fälschlich angenommen wird, die
Missachtung der Psychologie. So ist das Bestehen auf der Ursächlichkeit der
Umweltfaktoren undenkbar ohne den festen Glauben an die Gleichheit und
Vorausbestimmtheit psychischer Reaktionen auf bekannte Anreize. Die Psychologie
sollte den Graben zwischen außerliterarischen Fakten und den eigentlich
literarischen Erscheinungen überbrücken. Positivismus ist also mit Psychologie
durchaus vereinbar. 5. Nach Scherer heben auch die Heroen des Geisteslebens
den Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht auf; sie dürfen daher nicht als
dem Forschergeist unfassbare Phänomene dargestellt werden, sondern sind
ebenfalls auf die sie prägenden Einflüsse hin zu untersuchen. Goethe wird dafür
gerühmt, daß er die ihn prägenden Einflüsse in Dichtung und Wahrheit selbst analysiert und insofern eine
„Causalerklärung der Genialität“ (Scherer ..., XII) gegeben habe. |