1.09 Vorbilder
1. Vorbilder für die deutschen Positivisten, vor allem für
Scherer, waren kulturhistorische Werke wie Thomas Buckles History of Civilization in England (1857-61) und Hyppolite Taines Histoire de la littérature anglaise
(1863-64). Buckle unternimmt es, für die Kulturgeschichte bestimmter
Länder naturgesetzlich zwangsläufige Entwicklungen nachzuweisen, wobei er dem
Einfluss der Klimata auf die kulturellen Erscheinungen eine besondere Rolle
zuerkennt. Taines Auffassung von race,
milieu und moment historique als
den Bedingungsgrößen aller kultureller Leistungen war Ausgangspunkt für
Scherers Adaptation in der Formel ‘Ererbtes, Erlebtes und Erlerntes’. Damit ist
der Positivismus in Deutschland die erste literaturwissenschaftliche Richtung,
die sich ausdrücklich auf neuere europäische Konzepte stützt und nicht in der
Tradition der deutschen Philosophie fortwirkt. Sittliche Verhaltensweisen oder geistig-künstlerische Schöpfungen
werden von Taine ebenso wie z.B. biologisch-chemische Prozesse auf ihre
Ursachen hin untersucht. Dabei ist die Überzeugung wirksam, dass die Vielzahl
der Erscheinungen auf wenige ‘Urtriebkräfte’ zurückgehe. Das bedeutet für den Schriftsteller und sein Werk: Das
Werk ist zu analysieren und zu beschreiben; dann ist nach den Ursachen der
einzelnen Komponenten ebenso zu fragen wie nach denen des ganzen Textes bzw.
Werkes. In den Mittelpunkt des Interesses rückt darum die Person des Autors.
Kennt man die den Autor formenden Bedingungen – ‘race’: Naturanlage, Abstammung
und erbliche Anlagen; ‘milieu’: gesellschaftliche, politische Umwelt; ‘moment
historique’: historischer Zeitpunkt und Standort –, so kann man das Werk als
Produkt dieser Bedingungen erklären.
Diese Vorstellung von der Einheit von Leben und Werk sowie von der
Erklärbarkeit des Werkes durch das Leben des Autors bezeichnet man in der
positivistischen Literaturwissenschaft mit dem Schlagwort Biographismus. Kunstwerke sollen zum Objekt kausalbezogener Analysen
werden, die nach dem Modell der Botanik konzipiert sind. Individuelle und
besondere Phänomene werden auf ihre allgemeineren Wirkungsursachen wie
Epochengeist, Nationalcharakter, Klima usw. zurückgeführt. Das Allgemeine geht
dabei dem Besonderen voraus und drückt sich in ihm aus, ähnlich wie im Werk
auch der dominante Charakter des Autors, der Epoche oder Nation die Einzelzüge
erklärt. Ein kontinuierlicher Ablauf kausal zusammenhängender Gegebenheiten
wird angenommen. 2. Zu den Leitbegriffen Taines: Der Begriff race geht von einem unveränderlichen
Volkscharakter oder Volksgeist aus und darf nicht mit dem späteren
Rasse-Begriff identifiziert werden. Es handelt sich vielmehr um seelische
Eigenschaften, die von Taine bei den Franzosen, Engländern und Deutschen als
eindeutig bestimmbar angesehen werden, und zugleich auch um literarische
Traditionen, die als ableitbar aus solchen seelischen Eigenschaften zu
betrachten sind. Analog zur Mechanik wird moment
mit Geschwindigkeit gleichgestellt. Der Begriff milieu hingegen ist ein Sammelbegriff für die äußeren Bedingungen
der Literatur und umfasst sowohl die geographische Umwelt und das Klima wie
auch die politischen und sozialen Bedingungen. Mit diesen drei Begriffen wurde Taine zum Vorläufer der
deterministischen Literaturbetrachtung. Die Ursache jedoch aller
deterministischen Bestimmungen erblickt er in der Seele des Menschen, sie sind
psychischer Natur. Alle Literatur ist durch psychische Einwirkungen entstanden.
Dabei gelangt jedoch immer ein dominanter Charakterzug zum Ausdruck, der sowohl
den einzelnen Schriftsteller als auch die Epoche und den Volkscharakter prägt. |