1.10 Ausdifferenzierung der Gesamtrichtung
1. Von denjenigen Positivisten, die hauptsächlich an der
Erkenntnis gesetzmäßiger Beziehungen zwischen Fakten interessiert sind, sind
andere zu unterscheiden, bei denen sich die Detail- und Stoffsammlung, der
Tatsachen-Empirismus verselbständigt. Bei vielen Nachfolgern Scherer wurde das Faktensammeln zum
Selbstzweck. Literaturwissenschaftliches Arbeiten begnügte sich mit dem
Anhäufen von Lebenszeugnissen, Stoffen und Motiven, ohne diese als Material und
Ausgangspunkt zur Erforschung allgemeiner Gesetze hinter den besonderen Fakten
zu nutzen. Für diese Ausformung des Positivismus gilt: Überall
begegnet man dem Postulat der vollständigen Beschreibung, der
quellengeschichtlichen Erschließung und der biographischen Einbettung der
aufgefundenen Stoffmassen, um nur ja keinen charakteristischen Einzelzug
auszulassen. Es findet eine Verengung auf das bloß Empirische statt. Um 1880
wurde in weiten Kreisen der akademischen Welt das bloße Zusammentragen der
Fakten bereits als eine wissenschaftliche Leistung angesehen, während man das
Befragen der aufgehäuften Stoffmassen meist auf später verschob. Das Gelehrtenideal
dieser Ära ist der Enzyklopädist, der seine immense Kenntnis nur einem
sorgfältig ausgeklammerten Teilgebiet zugute kommen lässt und sich mit
entsagungsvoller Gebärde darauf beschränkt, die berühmten ‘Lücken’ im Turmbau
der Wissenschaften zu stopfen. Damit brach eine Zeit der Kleinarbeit an.[2] 2. Schreibt man dem ‘reinen’ Positivismus eine
Faktenorientierung unter Verzicht auf jede Interpretation zu, so ist Scherer
kein ‘reiner’ Positivist, da er den vom Gegenstand bedingten subjektiven
Spielraum des Verständnisses auf Seiten des jeweiligen Interpreten durchaus
konzediert. 3. Auch der Rückgriff auf die Kausalität als Grundkategorie ist differenziert zu betrachten Denn
die Kategorie ‘Kausalität’, die eine über den jeweiligen Einzelfall
hinausgehende Abfolge von Ursachen und Wirkungen impliziert, lässt sich nicht
mit demselben Anspruch auf allgemeine Gültigkeit vereinzelter
Ursache/Wirkungs-Beziehungen – etwa der Liebe Goethes zu Friederike Brion und
ihres Niederschlags in den Sesenheimer Liedern – auf die Literaturwissenschaft
übertragen. Scherer verwendet anstelle des Begriffs ‘Kausalität’ auch den der
Psychologie entlehnten Begriff der ‘Motivierung’. In dem wechselnden Gebrauch
dieser beiden Begriffe zeigt sich Scherers Schwanken zwischen einer „strengen Causalität“
und einem allgemeiner zielenden Bemühen, auch die Erscheinungen der
Geisteswissenschaften auf die sie bewirkenden Ursachen zurückzuführen. Folgt man dieser Linie, so geht es bei der Annäherung an
die Naturwissenschaften eher um eine grundsätzlich wissenschaftliche
Einstellung im Umgang mit den Erkenntnisgegenständen als um eine Identifikation
mit jedem einzelnen Erkenntnisverfahren. 4. Dem ständigen Verweis auf die durch Analysen
herauszufindenden „causalen Zusammenhänge“ steht bei Scherer die Ablehnung
einer strengen Beweisbarkeit gegenüber; einerseits soll untersucht werden, wie
weit die Umwelteinflüsse den Künstler und sein Werk determinieren, andererseits
heißt es: „Für jenes Verstehen geistiger Erscheinungen giebt es keine exacte
Methode; es giebt keine Möglichkeit, unwidersprechliche Beweise zu führen; es
hilft keine Statistik, es hilft keine Deduktion a priori, es hilft kein
Experiment. Der Philolog hat kein Mikroskop und kein Scalpell, er kann nicht
anatomieren, er kann nur analysieren. Und er kann nur analysieren, indem er
sich assimiliert.“ (Scherer xxx, 5) Wenn Analyse aber Assimilation voraussetzt,
so wird auf diese Weise die Interpretation eines literarischen Werks an die
Verstehensmöglichkeiten des einzelnen Subjekts gebunden. Trotzdem bleibt es
Scherers Ziel, über den Weg der Analyse einzelner Elemente zu typischen,
‘gesetzlichen’ Erscheinungen, zu Generalisationen vorzudringen. 5. Während einige von der totalen Erklärbarkeit der
Dichtung überzeugt sind, nehmen andere einen ‘dunklen Rest’ an, der
unerforschbar bleibt. Im letzteren Fall ist das Sich-Bescheiden mit dem positiv
Erfassbaren eine eher resignative Haltung. Das rationale Erklären darf demnach
nur so weit gehen wie die Kausalität der sichtbaren unmittelbar erfahrbaren Tatsachen. [2]
Die Literaturwissenschaft in der Scherer-Nachfolge beschränkte sich
zunehmend auf die - möglichst lückenlose - Erforschung des Lebensweges einzelner
Schriftsteller und der Entstehungsgeschichte ihrer Werke. Die induktive empirische
Arbeit wurde zum Selbstzweck. Jeder Verallgemeinerungsversuch wurde als voreilig
abgelehnt. Die Literaturwissenschaft versank in der Unendlichkeit des empirisch
erfaßbaren Materials.
Dazu folgende Einschätzung: Das kleinliche Wühlen in der Vergangenheit, das
'Erforschen' der minutiösesten Einzelheiten des Lebens und der Affären der Dichter,
die Suche nach entferntesten Parallelen und Quellen ist an sich eine harmlose und
sogar nützliche menschliche Tätigkeit. Es wird immer Leute geben, die sich in
pedantischer Weise mit der Vergangenheit beschäftigen, und deren Dienste werden wir,
in richtiger Auslese, stets benötigen. Von diesem Faktualismus ist das Bestreben
zu unterscheiden, literarische Phänomene aus determinierenden wirtschaftlichen,
sozialen und politischen Umweltbedingungen zu erklären.
|