1.14 Verdienste
1. Der Positivismus hat in der Literaturwissenschaft
erstens für gesicherte Textgrundlagen gesorgt, d.h. Ausgaben erarbeitet, die
die Texte in einer Fassung enthalten, die dem Willen des Autors entspricht oder
diesem möglichst nahe kommt. Zweitens hat er die Erklärung der Werke aufgrund
biographischer Forschungen vorangetrieben, und drittens hat er die Wirkung des
jeweiligen Textes sowohl auf das Publikum wie auf nachfolgende Autoren
untersucht. 2. Indem Scherer der Kenntnis von Fakten, die mit der
endgültigen Fassung eines literarischen Werkes zusammenhängen, eine so große
Bedeutung beimaß, förderte er die umständliche, aber unschätzbare Arbeit, die
für kritische Editionen und genaue Biographien erforderlich ist. Der Umfang des
Faktenmaterials wurde bedeutend erweitert, und die Kriterien für die Prüfung
seiner Zuverlässigkeit wurden unermesslich geschärft. Dazu gehörten das
Verifizieren von Daten, Perioden und Ursprüngen wie auch Studien über die
Übereinstimmungen zwischen literarischen Werken und historischen Ereignissen. 3. Die praktische Konzentration der positivistischen
Forschung auf Materialaufnahme und -zusammenstellung erbrachte eine
außerordentliche wissenschaftlich-kulturelle Leistung: Mit diversen
historisch-kritischen Gesamtausgaben sowie zahlreichen Erstveröffentlichungen
von Einzeltexten wurde ein wesentlicher Teil der neuzeitlichen deutschen Literatur
weitgehend erschlossen und dem Publikum zugänglich gemacht, wurde zugleich auch
eine gesicherte Materialgrundlage für die wissenschaftliche Arbeit mit dieser
Literatur geschaffen. Desgleichen verkörpert das immense biographische
Tatsachenmaterial, das die positivistische Forschung eruiert hat, einen
unschätzbaren Materialwert, der durch die Kritik am bloßen Faktensammeln nicht
berührt wird. Ebenso kann das Streben nach ‘Wissenschaftlichkeit’, die
postulierte Selbstbeschränkung der Literaturwissenschaft auf Sätze, die exakt
beweisbar. bzw. Aussagen, die faktisch ausreichend belegt sind, einfach abgetan
werden – etwa mit dem Hinweis auf
praktische Verstöße gegen dieses Postulat. Der Positivismus hat die Überzeugung, dass das
gesellschaftliche Leben in allen seinen Formen prinzipiell analytischer
Forschung zugänglich sei und somit auch die Erscheinungen des geistigen Lebens
wissenschaftlich erkannt und ursächlich erklärt werden können, aufrecht
erhalten, wenngleich er selbst der angestrebten Gesetzeserkenntnis nicht
habhaft werden konnte und kompliziertere Zusammenhänge zu erklären außerstande
war. Diese Überzeugung und die ihr korrespondierende Praxis haben eine Zeitlang
das Abgleiten in subjektivistische Willkür verhindert. Scherer kommt das Verdienst zu, den modernen
Wissenschaftsstil in der deutschen Literaturwissenschaft praktisch durchgesetzt
zu haben. Dass er sie damit nur auf ein Niveau brachte, das die französische
und die englische Literaturwissenschaft längst erreicht hatten, kennzeichnet
den Rückstand, in den diese Disziplin nach 1849 in Deutschland geraten war. 4.Der
Positivismus brachte vor allem eine Fülle monumentaler und wertvoller
Textsammlungen hervor, weil man bestrebt war, die Vergangenheit so genau und
vollständig wie möglich zu vergegenwärtigen und zu bewahren. Er führte zudem zu
ausführlichen Stoff- und Quellensammlungen und detaillierten Einflussstudien,
da man hoffte, auf diese Weise den Entstehungsprozess eines Werkes
rekonstruieren und somit auch das Werk selbst verstehen zu können. Es
entstanden umfassende Autorenbiographien, weil man in ihnen den besten Zugang
zum literarischen Werk sah. Beispielhaft aber bleiben vor allem die Geschichten der
einzelnen Nationalliteraturen, die zur Zeit des Positivismus geschrieben
wurden. Der Positivismus hat auch die
Beziehungen zu vorangegangenen Dichtern hergestellt, und diese zugleich durch
Fragen der Wirkung des jeweiligen Textes auf das Publikum wie auf nachfolgende
Autoren ergänzt. |