1.15 Kritik
1. Als wesentlichste Schwäche der positivistischen
Literaturwissenschaft wurde bemängelt, daß ihr die spezifischen ästhetischen
Werte unerreichbar bleiben, dass sie bei der Beschreibung der einzelnen Teile
das Gesamtbild aus den Augen verliert und bei den genetischen Untersuchungen
die Aufmerksamkeit von der endgültigen Redaktion des Werkes ablenkt, indem sie
sich in den ersten Ansätzen zu einem solchen Werk oder in seinen Varianten
verliert. Bei den biographischen Forschungen wiederum bleiben die Werke selbst
im Hintergrund und dienen vorwiegend als biographische Dokumente, statt die
Biographie der Erkenntnis der Werke unterzuordnen. Eine solche
literaturwissenschaftliche Untersuchung lässt die relative Selbständigkeit des
literarisch-künstlerischen Bereichs außer acht und behandelt diesen als ein Resultat
der außerliterarischen Einflüsse. Und durch ihre Unfähigkeit, ästhetische
Urteile zu fällen, verfällt sie einen ästhetischen und zugleich historischen
Relativismus, oder sie übernimmt einfach unreflektierte subjektive Werturteile. 2. Die unvergleichbare Einzigartigkeit bestimmter Werke
und unwiederholbarer Einzelheiten bleiben im positivistischen Programm
nebensächlich. 3. Ist das Ererbte, Erlernte und Erlebte aufgespürt, so
ist damit nur das Außerwerkhafte erfasst, keineswegs aber das Verständnis der
Werke gewährleistet. Das Sinnganze eines sprachlichen Gebildes, innerhalb
dessen die einzelnen gehaltlichen und formalen Strukturen eine Funktion
erfüllen, geht ebenso verloren wie der historische Sinnzusammenhang insgesamt;
ein Ganzes kann sich dem Positivismus nur induktiv, in Gestalt gemeinsamer
allgemeiner Faktenmerkmale ergeben. 4. Da das Auffinden von Verbindungsgliedern zwischen
außer-literarischen Fakten und den dem literarischen Werk eigenen Daten als
höchste Aufgabe des Literaturwissenschaftlers gilt, erhält die Anhäufung der
aus anderen Disziplinen stammenden Fakten oftmals größere Bedeutung als das zu
untersuchende literarische Werk. Die Fragen nach dem literarischen Genre, Stil
und den Konventionen werden als zweitrangig behandelt. Nur die zugrunde
liegenden ‘naturwissenschaftlichen’
Gesetze werden für wahrhaft bedeutungsvoll gehalten. 5. Man kann zugeben, dass literarische Kunstwerke
unwiderruflich an historische und biographische Faktoren wie auch an solche der
Umwelt gebunden sind. Diese Faktoren jedoch als ‘Ursachen’ zu betrachten und
ihnen die gleiche oder größere Bedeutung als dem Werk selbst zuzumessen, heißt
das Feld der Literaturwissenschaft aufgeben. Auch die direkte Kausalverbindung,
die, wie Scherer zuversichtlich annimmt, zwischen Lebenserfahrung und
literarischem Ausdruck besteht, ist gewiss trügerisch. Außerdem verwechselt
Scherer das besondere Vorurteil seines Zeitalters mit Objektivität. 6. Die umfassende Geltung des Prinzips der Kausalität wird
bestritten. Statt einer Ursache-Wirkungs-Kette wird höchstens eine
Bedingtheitsrelation – und diese auch nur in begrenzten Gebieten – akzeptiert. 7. Das Übertragen vom Gegenwärtigen auf Vergangenes ohne
die jeweiligen spezifischen Umstände zu berücksichtigen erscheint als höchst
ungeschichtlich. 8. Bei der positivistischen Induktion bleibt die Gefahr,
dass sie in Deduktion umschlägt; etwa derart, dass die gesammelten Eigenheiten,
die bei einem Autor für die Gattung Lyrik zutreffen, nun als Gesetz gültig
gemacht werden für Gedichte eines anderen Autors, oder auch nur bei demselben
für später aus dem Nachlass gefundene Lyrik; dass also mit einem induzierten
Hauptmerkmal deduktiv gearbeitet wird. Eine normative Poetik kann so entstehen,
sie behauptet, ihre Gesetze aus der Erfahrung induziert zu haben. 9. Positivisten
nehmen literarische Wertungen vor –
Scherer unterscheidet z.B. ‘Blütezeiten’ der Literatur von anderen Perioden –,
obwohl die positivistische Philosophie eine wertende Haltung eigentlich
ausschließt und nur das akzeptiert, was rational nachprüfbar und unmetaphysisch
ist. Außerdem handelt es sich um Werturteile, die keine zeitlose Gültigkeit
beanspruchen dürfen. 10. Positivisten denken gar nicht oder selten über die
subjektiven Voraussetzungen des Erkennenden nach. So kommt es, dass z.B.
zeitgenössische ethische, ästhetische, politische Annahmen unreflektiert in
ihre Arbeiten einfließen. 11. Um den gewünschten Eindruck einer Gesetzmäßigkeit in der Literaturgeschichte erzeugen zu können,
verzichtet Scherer auf Genauigkeit in der Detaildarstellung. Die Hoffnung, in der literaturwissenschaftlichen Forschung
Gesetze aufzudecken, deren Geltung ebenso fest bestünde wie in den Natur- oder
positivistischen Gesellschaftswissenschaften, wurde nicht erfüllt. 12. Ideologisch ist der Positivismus ein getreues
Spiegelbild des saturierten Bürgertums der zweiten Jahrhunderthälfte, das den
weltanschaulichen Idealismus der Achtundvierziger an den Nagel hängt und sich
mit einem gemächlichen Ausbau der errungenen Machtpositionen begnügt. Nicht der
kühne Gedankenschwung, die politische Perspektive oder der soziale Reformwille
stehen jetzt im Vordergrund, sondern ein fleißiges Zusammentragen kleiner und
kleinster Bausteine zu einem imponierenden Turmbau der bloßen Faktizität, der
mit allem ausgestattet ist, nur nicht mit einer ideellen Struktur. Das Ergebnis dieser Entwicklung war eine allgemeine
Perspektivlosigkeit, die jeder philosophischen Durchdringung der aufgehäuften
Stoffmassen sorgfältig aus dem Wege geht, um sich nicht in ihrer
‘Wissenschaftlichkeit’ zu kompromittieren. 13. Scherer schildert das geschichtliche Handeln der
Deutschen als letztlich immer von einem moralischen Idealismus bestimmt und
liefert so den herrschenden Klassen im neuen Deutschen Reich eine quasi
historisch-wissenschaftlich beglaubigte Rechtfertigungsideologie. Scherer
schreibt diesen moralischen Idealismus bereits den alten Germanen zu. „Der alte
Germane ist das, was wir heute einen Idealisten nennen würden.“ (Scherer 1874,
20) Die Propaganda eines angeblich im Germanentum wurzelnden moralischen
Idealismus verbindet Scherer – obwohl Österreicher – mit einer begeisterten
Option für Preußen und den Protestantismus. Preußen erscheint gewissermaßen als
die staatliche Verkörperung der besten Eigenschaften des deutschen Nationalcharakters. Scherer folgt der nationalliberalen Konzeption der
Vermittlung der liberalen Traditionen des deutschen Bürgertums mit der
preußischen Junkerherrschaft. Er versucht, Preußengeist und
Deutschtums-Ideologie einer von der Weimarer Klassik hergeleiteten Tradition
des bürgerlichen Liberalismus zu integrieren. 14. Die geschichtsphilosophische Theorie des Positivismus
steht im Widerspruch zum Anspruch der positiven Wissenschaft. Der Positivismus
Comtes versprach, ohne dies einlösen zu können, Antwort zu geben auf die Frage
nach dem Sinn der Geschichte und dem Ziel der Gesellschaft. |