2.08 Vorgehensweise
1. Der Forscher soll als ganzer Mensch beteiligt sein:
„Das auffassende Vermögen, welches in den Geisteswissenschaften wirkt, ist der
ganze Mensch; große Leistungen in ihnen gehen nicht von der bloßen Stärke der
Intelligenz aus, sondern von der Mächtigkeit des persönlichen Lebens.“ (Dilthey
1959, 38) Der Wissenschaftler sei eine Verbindung von Intelligenz- und
Erlebnispotential. Dabei darf er den eigenen Lebenszusammenhang nie aufgeben,
Analysis darf nur stattfinden auf der Grundlage eines im Zusammenhang Erlebten.
(Maren-Grisebach, 25) 2. Es soll nicht rein ideell und abstrakt vorgegangen
werden, sondern am historischen Material, in der Zeit, ‘geistesgeschichtlich’
meint also prinzipiell eine Verbindung des Ideellen mit dem Realen.
(Maren-Grisebach, 26) 3. Bei einer literaturwissenschaftlichen Arbeit, die
‘geistesgeschichtlich’ vorgehen will, sind nach Dilthey sowohl allgemeine,
zeitlose Gesetze des Geistes, als auch spezielle Ausformungen der historischen
Bedingtheit zu berücksichtigen. (Maren-Grisebach, 27) 4. Das geforderte Verfahren der intuitiven Synthese lässt
sich an der geistesgeschichtlichen Auffassung von Sprache verdeutlichen. Karl
Voßler sieht den Sprachakt als jeweils neue und eigenschöpferische Tat des
Individuums. Neue Sprachformen beruhen auf Intuition, auf dem Geist des
Dichters, sie sind Verlautbarungen des Geistigen, das immer das metaphysisch
Frühere sei. “Die Aufgabe der Sprachwissenschaft ist darum gar keine andere als
die: den Geist als die alleinig wirkende Ursache sämtlicher Sprachformen zu
erweisen.“ (Voßler 1904, 63) Der poeta creator habe im schöpferischen Forscher
seine Entsprechung. Intuitives Vorgehen verbietet die genaue Analyse des
Vereinzelten, die Atomistik der positivistischen Ära gilt als unangemessen. Den
Zusammenhang, das ‘geistige Band’ finde man erst im Geist (Voßler) oder im
Gefüge der Syntax und Stilistik (Burdach), niemals in den einzelnen Teilen, wie
Scherer meinte. Auch die geistesgeschichtliche Verslehre verdammt jedes Messen
und Zählen, es sei viel zu singularisierend. Jeder Vers sei, wie die Sprache
eines Dichters, ein Individuum, und für Individuen gibt es nichts, was durch
Zählen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen wäre. Metrum und Rhythmus eines
Verses sind wie Takt und Rhythmus der Sprache im Ganzen als Emanationen des je
einzigartigen Geistes zu sehen, und dieser ist zu untersuchen, was niemals
durch Messen möglich sei. (Maren-Grisebach, 31f.) 5. Wenn man intuitive Schau einer Ganzheit als der
literarischen Kunst allein angemessen propagiert, folgt daraus, dass man das
Deduzieren des einzelnen aus diesem erlebten Ganzen einem Induzieren auf
Einzelteilen hin zu einem Ganzen vorzieht. (Maren-Grisebach, 32) 6. Dem auffassenden Subjekt werden entscheidende Maßnahmen
zuerkannt. Daher wird auch der Mut zur je eigenen Sprechweise über Literatur
gefördert und unterstellt, dass keinerlei exaktes Abbilden eines Tatbestandes
in der Sprache möglich sei. Das positivistische Vertrauen gegenüber einer
Aussagbarkeit des objektiv Gegebenen weicht der Notwendigkeit, das Subjektive
in individueller Hinsicht zur Sprache werden zu lassen. (Maren-Grisebach, 32) 7. Man ist bestrebt, Beziehungen, also Strukturen zu
sehen. Struktur ist das Wirken der Totalität, die Erscheinungsform der
Ganzheit. Im Groben ist immer ein gegliederter Zusammenhang gemeint, dessen
Verbindungslinien es aufzudecken gilt. (Maren-Grisebach, 32) 8. Der sogenannte Diltheysche Zirkel, der sich auf das
Verständnis eines Werkes bezieht, bei dem das Ganze nicht ohne die Teile, die
Teile aber nicht ohne das Ganze verstanden werden können, dieser nach
traditionell logischen Gesetzen fehlerhafte Schluss setzt das formale Modell
für das Verfahren der Geistesgeschichte. Synthese und Analyse sind abwechselnd
zu vollziehen, ihre jeweiligen Ergebnisse funktional voneinander abhängig.
(Maren-Grisebach, 36) Dilthey modifiziert das Modell des hermeneutischen
Zirkels, indem er nicht allein von einem Vorverständnis des Interpretierenden
im Sinne eines erlernten Vorwissens ausgeht, sondern von einer allen Individuen
innewohnenden prinzipiellen Gleichartigkeit des Erlebens. Aufgrund dieser
strukturellen Analogie aller Erlebnisse können die von einem Individuum
geäußerten Erlebnisse durch andere Individuen nachvollzogen werden. (Baasner,
56) 9. Generell und individuell bezogene Aussagen sollen sich
wechselweise steigern. Typologische Konstruktionen sollten die Vielfalt gliedern
helfen. Dilthey entwarf Weltanschauungstypen, Wölfflin Sehtypen, Walzel die Unterscheidung
zwischen einem gothisch-deutschen und einem goethisch-deutschen Typ. Fritz
Strich traf eine typische Einteilung in Klassiker und Romantiker, Herbert
Cysarz stellte synthetisch den Typ des ‘barocken’ Menschen her und Ferdinand
Josef Schneider den des ‘expressiven Menschen’“. Ähnlich werden Epochenstile
zusammengetragen, seien diese nun formal-ästhetisch oder ideengeschichtlich
fundiert. (Maren-Grisebach, 36f.) 10. Die angemessene Darstellung der ‘geistigen’ oder
‘inneren’ Zusammenhänge sei eine Kunst und deshalb keinerlei methodischen
Vorgaben zu unterwerfen. Geistesgeschichtliche Arbeiten verstehen sich selbst
als kunstvolle Texte und bedürfen ihrerseits der Auslegung. (Baasner, 53f., 56) 11. Die Detailuntersuchung richtet sich auf die ‘Gestalt’
von Texten, da sie die äußere Objektivation des ideellen ‘Gehaltes’ darstellt.
Die begriffliche Opposition von Gehalt
und Gestalt wird zum Schlagwort für
das Literaturverständnis. Oskar Walzel zählt zum ‘Gehalt’ alles, was an
Erkennen, Wollen, Fühlen in literarischen Texten enthalten ist oder von ihnen
hervorgerufen wird; ‘Gestalt’ hingegen sei in der Dichtung alles, was auf den
äußeren oder inneren Sinn wirkt, also Auge und Ohr sowie Gefühle anregt. Der
Stoff des Werkes ist weder Bestandteil des Gehaltes noch der Gestalt. Erst in
der Prägung des Stoffes schafft der Dichter die letztere. (Baasner, 59) |