2.11 Textauffassung
1. Jede Dichtung ist als Ganzheit zu verstehen, kein
Ausschnitt als Spiegel eines Ausschnitts der Wirklichkeit. Dichtung sei keine
Nachahmung, sondern freie Schöpfung und hat als solche in jedem Falle ihre
eigene Art in sich, bildet eine eigene totale Welt. Diltheys für die
Geistesgeschichte maßgebliche Anschauung: „Die Poesie ist nicht die Nachahmung
einer Wirklichkeit, welche ebenso schon vor ihr bestände [...], das ästhetische
Vermögen ist eine schöpferische Kraft zur Erzeugung eines die Wirklichkeit
überschreitenden und in keinem abstrakten Denken gegebenen Gehaltes.“ (Dilthey
1887, 322) Die Totalität eines Kunstwerkes ist jedoch eingebunden in die
umfassendere Totalität der geistigen Welt überhaupt, so dass eine
Isolierungsmethode unangemessen ist. (Maren-Grisebach, 25) 2. Das literarische Werk ist ein transrationales Gebilde,
das mit bloßem rationalem Erkennen nicht erschließbar ist. In extremer Form
wird das von Walzel artikuliert: „Das Kunstwerk kann nur als Ganzes erlebt,
niemals begrifflich erfasst werden.“ (Walzel 1959, 18) (Maren-Grisebach, 30) 3. Indem die Entstehung literarischer Werke als
Naturvorgang gedacht wird (was an die seit dem Sturm und Drang geläufigen
Vorstellungen vom natürlich schaffenden Genie erinnert), lässt sich das Werk
als Einheit beschreiben, die jenseits menschlicher Konstruktionsleistungen
ihren Ursprung hat. ‘Dichtung’ wird so zu etwas außerhalb des sprachlichen
Basteltriebs einzelner Autoren Entstehendem stilisiert. Vom Ursprung her ist
das Werk organisch. In der Vorstellung vom literarischen Organismus wird eine
Reihe von Annahmen zusammen gefasst: Das ganze Werk ist mehr als die Summe
seiner Teile, deren Proportion durch ein übergeordnetes Funktionsprinzip
bestimmt ist. Das Bild des Organischen ist dem einer logischen Konstruktion
entgegengesetzt. (Baasner, 61f.) |