2.12 'Übergreifende' Hintergründe
1. Die Geistesgeschichte steht im Zusammenhang mit der
Verbreitung neu-idealistischen und neu-hegelianischen Denkens. Diltheys
Lebensphilosophie hat diese Bewegung geprägt. (Wellek, ) 2. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich die
gesamteuropäische Auflehnung gegen den Positivismus aus einer allgemeinen
Veränderung des philosophischen Klimas erklären. Die Vorherrschaft des
Naturalismus und der positivistischen Philosophien wurde durch eine Vielfalt
von idealistischen oder kühnen spekulativen Systemen gebrochen. (Wellek, ) 3. Um 1900 lässt sich in vielen Wissenschaftszweigen ein
ständig wachsendes Interesse an den „ideellen“ Grundpositionen der menschlichen
Erkenntnistätigkeit beobachten. Und dabei wurde neben dem philosophischen
Neuidealismus alles ins Spiel gebracht, was zu einer geistig-seelischen
„Vertiefung“ dieser Richtung beitragen konnte: der Vitalismus, die Neuromantik,
der Bergsonsche Intuitionismus, wie überhaupt alle neureligiösen,
theosophischen oder neumythologischen Konzepte der Jahrhundertwende, die auf
dem Prinzip des Selbstschöpferischen beruhen. (Hermand, 33) 4. Die Grundüberzeugung ist, dass sich der Geist im Ablauf
der Geschichte innerhalb verschiedener Medien manifestiert: Philosophie,
Religion, Recht, bildende Kunst, Musik und schließlich Literatur. Alle
Auswirkungsgebiete sind zu berücksichtigen. (Maren-Grisebach, 23) 5. Es wird die Einheit aller geistigen Objektivationen und
somit ein einheitsstiftender Geist angenommen. Dieser Synthese im Primären soll
diejenige im Sekundären, in den betrachtenden Wissenschaften folgen. Die
Wissenschaften des Geistes sollen miteinander verbunden werden. Eine synthetische
Schau des Geistes ist anvisiert. Arbeiten aus verschiedenen Gebieten sollen
sich aufeinander beziehen. (Maren-Grisebach, 23f.) 6. Die Trennung von den Naturwissenschaften wird
vollzogen, so dass die Geisteswissenschaften zum ersten Maß eine eigene
autonome Bedeutung von Wissenschaft beanspruchen. Grundlegend ist die
Überzeugung von der prinzipiellen Andersartigkeit der Geisteswissenschaften
gegenüber den Naturwissenschaften, Geist ist anders zu rezipieren als Natur,
Ideelles als Materielles. „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen
wir. [...] Der erlebte Zusammenhang ist hier das erste, das Distinguieren der
einzelnen Glieder desselben ist das Nachkommende.“ (Dilthey 1961, 136) (Maren-Grisebach, 29f.)
7. Die geistesgeschichtliche Perspektive hält die
Rekonstruktion von Ideen für aussagekräftiger als etwa die gesellschaftlichen
Zustände, die die Rahmenbedingungen für die Artikulationen des Geistes liefern.
Die zentrale idealistische These ist, daß der Geist den materialen
Gegebenheiten übergeordnet sei.
(Baasner, 58f.) 8. Der Begriff ‘Geist’ wird häufig sehr weit gefasst:
Geist ist alles, was dem Anspruch des Innen genügt im Unterschied zum Außen des
sinnlich Wahrnehmbaren; jeder Vorgang im Menschen ist ‘Geist’, unabhängig
davon, in welchen Schichten oder Instanzen er sich vollzieht. Nur unter dem
Einfluss des Neukantianismus wird ‘Geist’ enger gefasst, so dass Heinrich
Rickert (1863-1936) gegen das Seelische im Geistverständnis Diltheys
opponierte. (Maren-Grisebach, 23) 9. Psychologie erlaubt, den inneren Zusammenhang und die
innere Motivation aller Lebensäußerungen zu verstehen, nicht sie zu erklären.
Vereinfachend gesagt: Dilthey erweitert die psychologische Auslegung
Schleiermachers auf alle Lebensäußerungen, die nicht Naturzusammenhänge sind
und sich deshalb der kausalen Erklärung durch die zeitgenössische
Naturwissenschaft entziehen. (Baasner, 55) 10. Der Grund für das Verstehen eines Dichters und seiner
Werke wird in ‘dem lebendigen Zusammenhang der Menschenseele’ (Dilthey)
gesehen. Dilthey ist der Meinung, dass alle Systeme der Kultur aus diesem
Zusammenhang hervorgehen und also ohne psychische Analyse nicht entschlüsselt
werden können. Deutung der Dichtung ist gleichzeitig Seelendeutung, und da die
Anlagen der Seele überall die gleichen sind, kann das Verständnis der
dichterischen Psyche als Hilfe zum Verständnis des psychischen Lebens überhaupt
verwendet werden. (Maren-Grisebach, 35) 11. Die Abkehr vom Wissenschaftsansatz des Positivismus
und die Hinwendung zur Literaturwissenschaft als Geistesgeschichte fallen
zeitlich mit der Entstehungs- und ersten Kulminationsphase des deutschen
Imperialismus, der Entfaltung des deutschpreußischen Wilhelminismus zwischen
der Entlassung Bismarcks und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zusammen. Ihnen
entspricht in der zeitgenössischen Literatur die Kampfansage gegen den
Naturalismus, der mit dem Positivismus in der Literaturwissenschaft die
Hinwendung zu den Naturwissenschaften gemein hat, und das Hervortreten
unterschiedlichster anti-naturalistischer Bewegungen, das sich
literaturgeschichtlich vor allem mit den Namen Hugo von Hofmannsthal und Stefan
George verknüpft. Die bloße Exponierung des ideengeschichtlichen Aspekts von
Literatur allein wäre durchaus im Rahmen der positivistischen Wissenschaftsfundamentierung
durchführbar gewesen; der Umschwung verweist deshalb über die engere
Wissenschaftskontroverse hinaus auf eine tiefere Symptomatik. (Riha, 78f.) 12. Unter übergreifendem Gesichtspunkt ist der
Irrationalismus, wie er sich um die Jahrhundertwende in der Kunst und parallel
in der Literaturwissenschaft ausprägt, Teil einer neuidealistischen Bewegung,
die vor allem in der Philosophie um sich gegriffen hat: Zentral geht es um die
Revision Hegels und die philosophische Vernichtung des dialektischen und
historischen Materialismus. (Riha, 84) 13. Die Geistesgeschichte tendiert zu einer
elitär-aristokratischen Weltanschauung und Geschichtsauffassung. Das Pendeln
zwischen ‘Verfallszeiten’ und ‘Blütezeiten’ ist der Weg, den Geschichte ewig
geht; echte Geschichte findet stets nur dort statt, wo ein Aufstieg aus den
jeweils gesetzten Niederungen des Zerfalls sich andeutet. Wichtigster, wenn
nicht ausschließlicher Hebel solcher Veränderung sind große schöpferische
Führerpersönlichkeiten. Mit diesem Geschichtsbild hängt eine bestimmte Form der
Zeiterfahrung zusammen, das Gefühl, in einem Zerfallsprozess determiniert zu
sein, im Widerstreit mit dem Willen, über diese Zeit sich aufzuschwingen und zu
erheben. (Riha, 85f.) 14. Dass der Sozialismus ein Unding, dass revolutionäre
Veränderungen schier unmöglich sind, ist – ausgesprochen oder unausgesprochen –
festes Ferment der geistesgeschichtlichen Methodologie. Die Sucht, die Fragen
der Zeit in einer ‘tieferen’ Weise zu beantworten, führt die Literaturwissenschaft
als Geistesgeschichte konsequent an die Seite der Reaktion und schon in der
Weimarer Republik in die Arme des Nationalsozialismus. (Riha, 92) |