2.13 Genauere Ausführungen
1. Ich beginne mit dem Text von Gutzen. a. Grundlegend für den methodischen Ansatz der Geistesgeschichte
ist Diltheys Abgrenzung der Geistes- von den Naturwissenschaften. Entscheidend
für die Sonderstellung der Geisteswissenschaften, die sich mit der „Menschheit
oder menschlich-gesellschaftlich-geschichtlicher Wirklichkeit“ (Dilthey 1958,
81) beschäftigen, ist die Annahme, dass es in der „geschichtlichen Welt keine naturwissenschaftliche
Kausalität [gibt]; denn Ursache im Sinne dieser Kausalität schließt in sich,
daß sie nach Gesetzen mit Notwendigkeit Wirkungen herbeiführt; die Geschichte
weiß nur von den Verhältnissen des Wirkens und Leidens, der Aktion und
Reaktion.“ (Dilthey 1958, 197) Das geschichtliche Leben und die einzelnen
Ausprägungen dieses Lebens sind, aufbauend auf den Individuen, zu komplex, als
dass sie in gesetzmäßigen Abläufen voll erfasst werden könnten. Die Geisteswissenschaften haben nach Dilthey zu ihrem
Gegenstand Tatsachen, die „als ein lebendiger Zusammenhang originaliter
auftreten“, in ihnen liegt „der Zusammenhang des Seelenlebens als ein
ursprünglich gegebener überall zugrunde [...]. Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen
wir. [...] Der erlebte Zusammenhang ist hier das erste, das Distinguieren der
einzelnen Glieder desselben ist das Nachkommende. Das bedingt eine sehr große
Verschiedenheit der Methoden, vermittels derer wir Seelenleben, Historie und
Gesellschaft studieren, von denen, durch welche die Naturerkenntnis
herbeigeführt worden ist.“ (Dilthey 1924, 143f.) Die verschiedenen
erkenntnistheoretischen Kategorien in den Natur- und Geisteswissenschaften werden
also mit dem unterschiedlichen Verhältnis des Menschen zur Natur einerseits und
zur Geschichte andererseits begründet. Denn steht die Natur dem Menschen als
eine fremde Macht gegenüber und liegt in der Naturerkenntnis die denkerische
Bewältigung des Naturgeschehens mit der Möglichkeit, es mit gesetzlichen
Abläufen unter dem Kausalitätsprinzip zu erklären, so handelt es sich bei dem
Verstehen der Geschichte und der geschichtlichen Entwicklung immer um ein
Selbst-Verstehen, da der Mensch als geschichtliches Wesen an dieser Geschichte
beteiligt ist und sie mitgestaltet. Nur diese Tatsache macht es möglich, dass
er Geschichte verstehen kann. (Gutzen, 164ff.) b. Zur Grundlage der geistesgeschichtlichen Methode gehört
ferner ein bestimmtes Dichtungsverständnis, das Dilthey entfaltet hat. Er
bemüht sich, das Grundverhältnis zwischen Leben und Dichtung zu erfassen, von
dem jede historische Gestalt der Poesie abhängt. „Poesie ist Darstellung und
Ausdruck des Lebens. Sie drückt das Erlebnis aus, und sie stellt die äußere
Wirklichkeit des Lebens dar. [...] Im Leben ist mir mein Selbst in meinem
Milieu gegeben, Gefühl meines Daseins, ein Verhalten und eine Stellungnahme zu
Menschen und Dingen um mich her [...]. So empfangen jedes Ding und jede Person
aus meinen Lebensbezügen eine eigene Kraft und Färbung. [...] Dieser Gehalt am
Leben in meinem eigenen Selbst, meinen Zuständen, den Menschen und Dingen um
mich her bildet den Lebenswert derselben [...]. Und dies und nichts anderes ist
es, was die Dichtung zunächst sehen lässt. Ihr Gegenstand ist nicht die
Wirklichkeit, wie sie für einen erkennenden Geist da ist, sondern die in den
Lebensbezügen auftretende Beschaffenheit meiner selbst und der Dinge. [...] Und
wenn nun die Erinnerung, die Lebenserfahrung und deren Gedankengehalt diesen
Zusammenhang von Leben, Wert und Bedeutsamkeit in das Typische erheben [...],
dann kommt auch in diesem allgemeinen Gehalt der Dichtung [...] die lebendigste
Erfahrung vom Zusammenhang unserer Daseinsbezüge in dem Sinn des Lebens zum
Ausdruck. Außer ihr gibt es keine Idee eines poetischen Wertes. (Dilthey 1970,
126f.) (Gutzen, 166f.) c. Der Weg des Menschen zum Verstehen seiner selbst und
der ihn umgebenden Welt führt immer über das Leben. „Kurz, es ist der Vorgang
des Verstehens, durch den das Leben über sich selbst in seinen Tiefen
aufgeklärt wird, und andrerseits verstehen wir uns selber und andere nur, indem
wir unser erlebtes Leben hineintragen in jede Art von Ausdruck eigenen und
fremden Lebens.“ (Dilthey 1958, 87) Am Beispiel der Autobiographie macht
Dilthey deutlich, wie dieser Vorgang des Verstehens zu denken ist: der
rückschauende Autor sieht sein Leben nicht als eine Folge von durch Ursache und
Wirkung bedingten Ereignissen, sondern er überblickt es als ein
zusammenhängendes Ganzes, in dem einzelne Momente und Erfahrungen aufeinander
bezogen und in ihrer Gesamtheit dem Verständnis zugänglich sind. Leitbegriffe sind hier Erlebnis
und Bedeutsamkeit. Unter ‘Erlebnis’
ist ein psychologischer Akt zu verstehen, in dem unter Beteiligung aller
Seelenkräfte innere und äußere Erfahrung zu einer Einheit verschmolzen werden.
‘Bedeutsamkeit’ meint demgegenüber die in dem Erlebnis aus dem Lebensstrom
hervorgehobenen einzelnen Momente in einer auf den Zeitpunkt der Rückschau
hervorgehobenen Sinngebung. Da jedoch das Leben noch nicht abgeschlossen ist,
kann das Urteil über einzelne Lebensphasen ebenso wenig endgültig sein wie das
über den gesamten Lebensverlauf. Die Geschichtlichkeit des Lebens bedingt die
Geschichtlichkeit des Verstehens. Das erkenntnistheoretische Modell des hermeneutischen
Zirkels verweist demnach auch auf Lebens-Zusammenhänge. Denn so wie das
einzelne Lebensmoment seine Bedeutsamkeit vom ganzen Lebensgefüge her erhält,
und dieses Lebensgefüge aber auch umgekehrt durch die einzelnen Lebensmomente
geprägt wird, so läuft auch der Verstehensprozess am Text vom Textganzen zu den
einzelnen Elementen und zurück zu einem erweiterten Verständnis des Textganzen. Das Verstehen anderer Menschen und der Geschichte ist
möglich, weil der Mensch als geschichtliches Wesen in allem Geschichtlichen den
Lebensäußerungen von in ihrer seelischen Struktur ihm gleichartigen Menschen
begegnet. Im Besonderen aber ist es nur möglich von der Lebenserfahrung des
Einzelnen her. Das eigene Leben wird zum Bezugspunkt für das Verstehen der
Umwelt. (Gutzen, 167f.) d. Das führt zurück zum Verständnis der Dichtung und des
Dichters. Grundsätzlich ist der Dichter in derselben Weise bestimmt wie jeder
andere Mensch, doch heben eine gesteigerte Empfänglichkeit und Erlebensweise
ihn aus der Masse der Menschen heraus; sein gesamter Lebensbezug wird mehr oder
weniger stark geprägt von der ‘Phantasie’, deren Eindrücke er in die Bilderwelt
der Dichtung umsetzt: Die dichterische Phantasie ist der „Inbegriff der
Seelenprozesse, in denen die dichterische Welt sich bildet. Die Grundlage
dieser Lebensprozesse sind immer Erlebnisse“. (Dilthey 1970, 131f.) Der Dichter
gestaltet die eine oder andere bedeutsam gewordene Lebenserfahrung. Als
bedeutsam aber gilt andererseits ein Geschehen, „sofern es uns etwas von der
Natur des Lebens offenbart“, damit wird Dichtung zur Lebensdeutung. „Die
Dichtung ist Organ des Lebensverständnisses, der Poet ein Seher, der den Sinn
des Lebens erschaut.“ (Dilthey 1924, 391) Dem wahren Dichter wird ein „Seherblick“
zugeschrieben, der sich „ins Unendliche steigert“. (Dilthey 1970, 165) Max
Kommerells Auffassung von dem Dichter als Führer und Vorbild hat in einem
solchen Dichter-Verständnis ebenso ihre Ursache wie die Gemeindebildung um
Rilke, Hofmannsthal, George und andere. (Gutzen, 169) Die Geistesgeschichte ist auf die außerordentliche
dichterische Persönlichkeit, aufs abgehobene literarische Genie fixiert. (Riha, 81) e. Dichtung als geschaute Lebensdeutung verlangt auch
Leser mit besonderem seelischem Vermögen; denn der die persönlichen Erfahrungen
gestaltenden Kraft der Phantasie muß beim Leser ebenfalls eine gesteigerte
seelische Fähigkeit entsprechen, die ihn zu einer Art sympathetischen Erfassen
der vom Dichter gewährten Einblicke in das Leben befähigt. Nur dann kann ihm
der Dichter zum Führer in eine „höhere und stärkere Welt“ werden. Dichtung ist Lebendeutung, „Organ des
Lebensverständnisses“ und daher mit anderen Formen der Lebensdeutung verwandt.
Ihr Unterschied zur philosophischen Bewältigung des Daseins beispielsweise
besteht nur in dem Verfahren: statt in begrifflich denkerischer Weise die
Deutung des Lebens zu geben, macht sie sie im Bild anschaulich. (Gutzen, 170) f. Die Geistesgeschichte sucht aber auch einen Weg, der es
erlaubt, zu Organisationen fortzuschreiten, die einzelnes Individuelles in sich
aufheben und im ständig Wechselnden etwas Dauerndes anzeigen. Die Poesie kann
von der Darstellung einzelner Motive zu allgemeinerer Darstellung bedeutsamer
Erlebnisse vorwärts schreiten; sie kann in allgemeiner Weise Aufschluss über
das Leben geben. Wichtig scheint die Tendenz, aufzusteigen von der
individuellen Lebenssicht zu einer einheitlicheren Weltsicht. So wird auch
jedes einzelne Werk eines großen Dichters dadurch, dass es eine umfassendere
Auffassung des Lebens darstellt, zum Teil einer dichterischen Weltsicht, die
als Ganzes erst dem Gesamtwerk des Autors zu entnehmen ist. Schließlich bietet
diese Tendenz auch die Möglichkeit, die Weltsicht eines Dichters im
Zusammenhang mit der von Theologen und Philosophen seiner Zeit zu sehen und mit
deren Deutung des Lebens zu vergleichen. „In dem Herausholen eines
Allgemein-Menschlichen aus den unbewussten Tiefen unseres Daseins war Goethe
verbunden mit der Transzendentalphilosophie von Kant, Fichte und Hegel und mit
der Instrumentalmusik Beethovens, und in dem Ideal der Gestaltung des Menschen
aus dem inneren Gesetz seines Wesens war er eins mit denselben Philosophen und
mit Schiller, Humboldt und Schleiermacher.“ (Dilthey 1970, 141). Zur Darstellung überindividueller Zusammenhänge gelangt
Dilthey auch durch Bildung von Weltanschauungstypen, zunächst für die
Philosophie. Er sieht insgesamt drei Weltanschauungstypen. Für den
naturalistischen ist die uns bekannte empirische und kausale Erklärung der Welt
die einzig gültige; ihre Ausformung reicht von Demokrit und Lukrez zu dem
Empirismus Hobbes’ und dem Positivismus Comtes. Diesem Typus gegenüber steht
der des „Idealismus der Freiheit“, der die Unabhängigkeit des Geistes der Natur
gegenüber betont und im geistigen und sittlichen Verhalten die
Bestimmungsmöglichkeiten der Wirklichkeit sieht; Platon, Kant, Fichte sind die
wichtigsten Vertreter dieses Typs. Als dritten Weltanschauungstypus begreift
Dilthey den des „objektiven Idealismus“, für den sich die gesamte physische
Welt „als Ausdruck eines Inneren“ darstellt und „gefaßt wird als die Entfaltung
eines unbewußt oder bewußt wirkenden seelischen Zusammenhangs“ (Dilthey 1924,
403); als seine Repräsentanten sind Heraklit, Leibniz, Shaftesbury, Schelling,
Schleiermacher und Hegel anzusehen. Diese philosophischen Weltanschauungstypen überträgt
Dilthey auch auf die Dichtung und die Dichter. Seine offenkundigen Sympathien
gehören dem „objektiven Idealismus“. (Gutzen, 171ff.) 2. Ergänzende Auskünfte zu Dilthey entnehme ich der Arbeit
von Falk. a. Dilthey anerkannte, dass die unerhörten Erfolge der
Naturwissenschaft einer präzisen, primär am Kausalprinzip orientierten Methodik
zu verdanken waren. Im Unterschied zu vielen Zeitgenossen, zumal den
Positivisten hielt er jedoch dafür, dass diese Verfahrensweise auf die
Erforschung der Natur beschränkt bleiben müsse und nicht auch auf die
spezifisch menschlichen Verhältnisse angewandt werden dürfe. Um diese mit
ähnlicher Präzision untersuchen zu können, mußte man seiner Ansicht nach eine
andersartige Methodik entwickeln. Als Dilthey seine Einleitung
in die Geisteswissenschaft (erschienen 1883) verfasste, ging er davon aus,
dass es letztlich nicht möglich sei, den Menschen als eines von vielen
Naturprodukten aufzufassen und dementsprechend ihn und seine Produkte auf
naturwissenschaftliche Weise und also unter einer Orientierung an der Mechanik
des Kausalprinzips zu untersuchen, weil dem das menschliche Selbstbewusstsein
entgegenstehe. In diesem Selbstbewusstsein findet der Mensch „eine Souveränität
des Willens, eine Verantwortlichkeit der Handlungen“ (Dilthey 1959, 6). Seine
Grundintention suchte der Gefahr entgegenzuwirken, dass durch eine
Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen Methodik das Wesen des Menschen
verfälscht und dadurch ein unmenschliches Handeln begünstigt würde. Da Dilthey als Urtatsache des spezifisch Menschlichen die
Freiheit des Wollens ansah, meinte er als kleinste Einheit der
Geisteswissenschaften den Träger des freien Willens, das Individuum, ansetzen
zu müssen. Der Bereich, in dem sich der freie Wille einer
Individualität manifestiert, ist derjenige der Psyche. Insofern muss die
Geisteswissenschaft primär Psychologie sein. Aber eine menschliche Psyche tritt
nie als isoliertes Phänomen hervor. Immer steht sie in einem Zusammenhang mit
einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die außerhalb von ihr existiert. Eine Psychologie, die beiden Momenten Rechnung trägt, wird
sich, wie Dilthey meinte, vor allem der Erforschung von Lebensläufen widmen.
Als Folge davon wird sie ihre Ergebnisse primär in der Form der Biographie
darstellen. Dann aber verwandelt sich die Psychologie in eine elementare Form
der Geschichtsschreibung. Infolge seiner Freiheit muß der Wille des Individuums
immer wieder Entscheidungen treffen. In ihnen bezieht es sich auf Zwecke.
Manche Zwecke bestehen nur für das Individuum in seiner Einzigartigkeit, andere
aber teilt es mit anderen Individuen. Wenn die Zwecke mehrerer Individuen sich
vereinigen, so bilden sie einen „Zweckzusammenhang“. Durch die Erforschung
solcher Zusammenhänge kann die Geisteswissenschaft den Bereich des
Individuellen auf Allgemeineres hin überschreiten, ohne ihre essentielle
Bindung an die Individualität preiszugeben. Demgegenüber befasst sich die
Naturwissenschaft nicht mit Zweck-, sondern mit Wirkzusammenhängen. Das Individuum kann eigene Zwecke an Verbände wie die
Familie oder den Staat delegieren, aber kein Verband absorbiert die Zwecke des
Individuums völlig. Die Geisteswissenschaft muss berücksichtigen, dass ein
Individuum seine Zwecke an höchst verschiedenartige Verbände delegiert. Nur
manche Verbände können dabei in ihrer Eigenart durch den Willen des Individuums
mitgeprägt werden, während andere ihm weit überlegen sind. Und es gibt auch
Zweckzusammenhänge, die die partiell oder überhaupt nicht mit Verbänden
identisch sind – wie Wissenschaft und Kunst. Auch jenseits der Verbände gibt es
also Zweckzusammenhänge, in denen das Individuum an Überindividuellem
partizipiert. Dilthey geht davon aus, dass ein Individuum, unbeschadet
seiner Teilnahme an zahlreichen partikularen Zweckzusammenhängen, doch eine in
sich einheitliche Person ist; als solche muß sie letztlich auf einen
einheitlichen, das Ganze ihrer Wirklichkeit ausmachenden Zweckzusammenhang
bezogen sein. Dilthey verdeutlicht das anhand der Dichtung. Einzelteile eines
dichterischen Werkes können auch außerhalb von ihm existieren. Ihre Eigenart
kann man in ihren allgemeinen Zügen in den Manifestationen jenseits des
individuellen Werkes studieren. Aber Einzelteile eines Werkes wie eine Fabel
oder ein Motiv oder ein Charakter treten als Glieder eines werkimmanenten
Zusammenhangs auf. Dieser ist ein Produkt der dichterischen Phantasie. Es
stellt sich somit die Aufgabe, gerade auch im Bereich des individuellen Werkes
und im Bereich seines Produzenten, der dichterischen Phantasie, nach
Gesetzmäßigkeiten zu suchen. Wie man ein individuelles Dichterwerk nur von immanenten
Gesetzlichkeiten her begreifen kann, die ihm durch die Phantasiegesetze ihres
Schöpfers verliehen wurden, so auch das Ganze der Wirklichkeit eines
Individuums nur von Gesetzen her, die im Individuum wirksam wurden, als es
seine Wirklichkeit hervorbrachte. Die in der Individualität wirkenden
Gesetzmäßigkeiten sind jedoch noch unerforscht. So konnte die Verbindung des Singulären
der Individualität mit dem Allgemeinen der Geschichte zwar intuitiv
wahrgenommen, aber nie befriedigend expliziert werden. Die Geisteswissenschaft muss nach Dilthey von einem Denken
nicht-metaphysischer Art getragen werden, d.h. hier: von einem Denken, das sich
nicht an der ich-fremden Außenwelt orientiert, sondern an der Innenwelt der
Individualität. (Falk, 7ff.) b. Im Zuge seiner weiteren Studien erwies sich Dilthey,
dass die positive Begründung der Geisteswissenschaften noch schwieriger war als
er sich vorgestellt hatte. In Die
Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (1887) versuchte er, durch eine Erforschung
von Gesetzmäßigkeiten des Dichtens in der positiven Grundlegung der
Geisteswissenschaften voranzukommen. Er hoffte, daß im Bereich der Dichtung
auch die Gesetzmäßigkeiten entdeckt werden könnten, die, im Individuum wirksam
werdend, dessen Bezüge zur Geschichte und damit die Geschichtlichkeit
konstituieren. In der Einleitung
in die Geisteswissenschaft hatte
Dilthey ‘Kausalität’ als Grundbegriff der Naturwissenschaft gedeutet und
betont, dass immer dann, wenn die Freiheit des menschlichen Individuums wirksam
wird, die Mechanik des kausalen Nexus durchbrochen werde. In der neuen
Abhandlung dagegen sprach er immer wieder von Kausalität gerade auch im Bereich
der Geisteswissenschaft. Dementsprechend gab er hier die Ansicht preis, dass
die Geisteswissenschaften nicht Wirkungs-, sondern Zweckzusammenhänge zu
erforschen hätten. Inzwischen muss er sich gesagt haben, dass die in der menschlichen
Individualität hervortretende Freiheit mit einer Kraft verbunden sei, dass
diese als Wirkursache zur Geltung komme und dadurch Wirkungszusammenhänge
entstehen lasse. Letztere mussten freilich anders beschaffen sein als die
mechanischen, die in der Natur zu beobachten waren. Auch im Dichten wird eine von der Freiheit der
Individualität getragene Schaffenskraft wirksam. Das ästhetische Vermögen ist
für Dilthey eine spezifische Art und Weise, die Welt zu betrachten, ein Organ
des Weltverständnisses, das neben Wissenschaft und Religion tritt. Dilthey betonte die fundamentale Bedeutung des Umstands,
dass jedes menschliche Individuum, und also auch das dichterische, mit einer
äußeren Wirklichkeit verbunden ist und dass darum die Voraussetzung aller menschlichen
Aktivitäten im „Erlebnis“ – einer im Lebenszusammenhang sich vollziehenden
Begegnung des Individuums mit einer äußeren Wirklichkeit – besteht. Dilthey unterscheidet zwei Gruppen von zu erarbeitenden
Gesetzmäßigkeiten. Die erste umfasst „allgemeingültige Regeln“, die für die
dichterische Produktion zu allen Zeiten galten, die zweite umfasst historisch
bedingte Regeln, die sich z.B. in der Technik der altenglischen Bühne
manifestieren. Nach Dilthey kann es Dichtung nicht geben ohne ein
vorangegangenes „Erlebnis“, ohne „lebendige Erfahrung“. Es hat den Charakter
einer „Energie“, die sich dem Dichter mitteilte. Diese Energie des Erlebnisses
weckte im Dichter „schöpferische Phantasie“ auf, und diese bewirkte, dass im
Schaffensprozess der Alltag, in dem es zu dem Erlebnis kam, überschritten
wurde. Diese schöpferische Phantasie ist jedoch keineswegs nur
bei Dichtern wirksam. Ihre Grundlage werde durch eine Eigenart der menschlichen
Psyche gebildet, die bei der Verarbeitung der in der Außenwelt gemachten Wahrnehmungen
zur Geltung komme. Innerhalb der Psyche werde das Wahrgenommene durch
Assoziationen in neue Zusammenhänge eingeführt. Zu einer Überschreitung des
Bestehenden ins Neuartige hinein kann es hingegen nur kommen, wenn der Wille
tätig wird. Dilthey wollte zeigen, dass die schöpferische Phantasie
aufs engste mit einer allgemeinen menschlichen Grundfähigkeit verbunden sei.
Nach seiner Auffassung war es in gewisser Hinsicht auch durchaus berechtigt,
festzustellen, dass „das Schaffen des Dichters sich mit den Wahnideen, den
Träumen und den Phantasiebildern in abnormen Zuständen berührt“. (Dilthey 1924,
139) Um den wesentlichen Unterschied zwischen dem Wahnhaften und dem
Dichterischen zu sehen, musste man zunächst die gemeinsame Freiheit von der
äußeren Wirklichkeit betont haben. Dilthey deutete den Zeitgeist einer Epoche als das Werk
eines genialen Individuums. Dadurch legte er die Annahme nahe, dass die
kreative Freiheit, die er doch als Hauptmerkmal eines jeden Menschen angesetzt
hatte, in Wahrheit nur für einzelne große Einzelne bestehe. Er zeigte jedoch
nicht einmal ansatzweise auf, wie man sich die Schaffung eines Zeitgeistes
durch ein Genie konkret vorstellen sollte. Dilthey wusste nicht, wie er die Werkganzheit in ihrer
Individualität aus dem dichterischen Schaffensprozess ableiten sollte. Darum
unterstellte er, dass der Held des Werkes (ein Einzelelement innerhalb des
Werkganzen) aufgrund seiner typischen Züge das Werk zum Individuum mache. (Falk, 19ff.) c. 1910, also kurz vor seinem Tod, gab Dilthey die Schrift
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften heraus.
Jetzt kam es ihm vor allem darauf an, das Wesen der Epoche genauer als bisher
deskriptiv zu bestimmen. Zum Wesen der Epochen gehörte es nach Diltheys
Auffassung, dass sie den einzelnen Individuen eine Grenze setzen, die diese von
sich aus nicht zu übersteigen vermögen. Der epochalen Begrenztheit sind auch
jene Menschen unterworfen, die denkwürdige Werke hervorzubringen vermögen. Bei
ihnen erweist sich, dass die Eingeschränktheit auf einen epochalen Zusammenhang
für die Kultur der Menschheit eine höchst positive Bedeutung hat. Nicht
Schöpfer einer Epoche sind also die „Genies“, sondern Repräsentanten einer
Epoche, die auch ohne die individuelle geniale Leistung bestehen würde, durch
sie jedoch in besonderer Klarheit hervortritt. Und wie eine Epoche nie von
einem einzelnen Menschen geschaffen wird, so auch nicht durch die Tätigkeiten
in einem einzigen der zahlreichen Lebensbereiche. Wenn man die einer ganzen Kultur eigenen Epochen in den
Blick fasst, so muss man zunächst konstatieren, dass die verschiedenen
Lebensbereiche trotz ihrer Eigengesetzlichkeit aufeinander einwirken. Dilthey
vertrat in seinem Spätwerk die These, dass die bereichsübergreifenden
Kulturepochen aus einer allen Lebensgebieten und den in ihnen tätigen Menschen
„gemeinsamen Tiefe“ hervorgingen. Von dieser „Tiefe“ sagte er, dass sie nie
direkt, sondern immer nur auf vermittelte Weise erkennbar werde. Und sie wird
als eine epochenspezifische „Energie“ charakterisiert. Die Frage nach der
Ursache dieser Energie klammerte Dilthey aus. Der in einer neuen Epoche gründende Zeitgeist setzt sich
nicht bei allen Menschen auf dieselbe Weise durch. Sein Hervortreten kann auf
verschiedenen Wegen verarbeitet werden, und er aktiviert auch Kräfte der
Beharrung. Eine Methodologie der Epochenforschung legte Dilthey nicht
vor. Er war offenbar zu der Einsicht gelangt, dass die Methodik bei der
Individualität des Einzelwerkes ansetzen müsse. Zuvor war es Dilthey nicht gelungen, plausibel zu machen,
wie es zugeht, dass im dichterischen Produktionsakt ein alle Einzelteile eines
Werkes umfassender Gesamtzusammenhang entsteht. Im Spätwerk ließ er diese Frage
auf sich beruhen und suchte statt dessen zu klären, wie der Leser einer Dichtung
deren Sinnganzes zu verstehen vermag. Der Leser müsse die Einzelheiten, die er
nach und nach kennen lernen, ständig im Hinblick auf ihre Bedeutung für den
Gesamtzusammenhang prüfen und diese in seinem Gedächtnis festhalten. Das
Sinnganze zeige sich also nie, solange die Aufmerksamkeit auf Einzelteile des
Werkes gerichtet ist, sondern einzig im Nachdenken über das Gelesene. Auf eine unkontrollierte Weise vollzieht jeder Leser den
beschriebenen Abstraktionsprozess. Dilthey fragte sich nun, wie dieser Prozess
derart systematisiert werden könne, dass er den Anforderungen der Wissenschaft
entspreche. Er gelangte zu der Auffassung, dass dies nur möglich sei, wenn man
die Vorstellung vom „Sinn des Ganzen“, die sich beim Kennen lernen der
Einzelteile bildet, als eine Hypothese auffasst und diese prüft durch den
„Versuch, von diesem Sinn aus die Teile fester zu bestimmen“. Dieser Versuch
führt u.U. zu einer Falsifizierung der Hypothese. Als Dilthey sein Lebenswerk abbrechen musste, war die
Methode der Werkinterpretation theoretisch bei weitem noch nicht hinreichend
geklärt. (Falk, 32ff.) d. Diltheys Hauptanliegen, die Wissenschaft vom Menschen
von der im 19. Jahrhundert so überaus mächtig gewordenen Naturwissenschaft klar
zu unterscheiden, wurde in der Zeit um 1900 nicht allein von ihm vertreten.
Dilthey nimmt jedoch insofern eine Sonderstellung ein, als er die Historizität
des Menschen zum Hauptthema erhob und dadurch den Wesensunterschied zwischen
Mensch und Natur vom letztlich entscheidenden Bereich aus zu bestimmen suchte. Man knüpfte zunächst an Die Einbildungskraft des
Dichters an und stützte sich auf die These, dass das dichterische Vermögen
die Alltagsbezüge übersteige durch die Schaffung von Typischem. Die
geistesgeschichtliche Methode wurde primär zu einem Verfahren, das die
Entdeckung der verschiedensten Typen in der literarischen Überlieferung sowie
die Beschreibung ihrer historischen Abwandlungen erlaubt. Als ein solches hat
es bis heute Gültigkeit behalten. Dilthey hat dargetan, dass auch der Lebensbereich der
Dichtung durch spezifische Regelmäßigkeiten geprägt wird. Diese werden nicht
immer berücksichtigt, z.B. wenn aus einer Erzählung in einer Weise zitiert
wurde, als handle es sich um einen theoretischen Traktat, oder wenn die Worte
einer dramatischen Figur unvermittelt als Meinung des Autors ausgegeben wurden.
Oder wenn man glaubte, man könne das Politische einer Dichtung ohne
Berücksichtigung ihres spezifisch dichterischen Charakters erkennen. Im Bewusstsein des Forschers vollzieht sich ferner die
Wahl eines Bereichsaspekts. Dazu gehören: Literaturgeschichte als
Problemgeschichte, als Ideengeschichte, als Volksgeschichte, als
Gattungsgeschichte usw. Das, was solche Untersuchungen thematisieren, sind
Aspekte der Geistesgeschichte. Es ist unmöglich, alle legitimerweise wählbaren
Aspekte gleichzeitig zu untersuchen. 3. Eine andere Akzentuierung findet sich bei Hermand. a. Für Dilthey hat jeder Mensch, und damit jeder Dichter,
eine völlig einmalige Art, dem Leben zu begegnen und sich mit ihm auseinander
zu setzen. Das generalisierende Prinzip von Ursache und Wirkung wird daher bei
ihm in Fragen des Geistes und des Gefühls von vornherein ausgeschaltet. Die
sogenannte „Geisteswissenschaft“ verwandelt sich schon in ihren Anfängen in
eine lebensphilosophisch durchtränkte „Seelenwissenschaft“, deren methodische
Basis nicht das kausalgenetische Verknüpfen, sondern ein sich anmutenlassendes
„Verstehen“ ist. Leben und Dichtung werden damit jeder begrifflichen Erfassung
weitgehend entzogen. Alles, was man auf diesem Gebiet zu leisten vermag, ist
der Versuch, sie zu erfühlen, sie intuitiv zu erschauen oder kongenial
nachzuempfinden. Was den Dichter zum Dichter macht, ist nach Dilthey
lediglich die Intensität oder das Elementare seiner Gefühle. Aus der Literatur
wird so ein „Organ des Lebensverständnisses“, das auf einer rein
subjektivistischen Basis beruht. Das spezifisch Dichterische ist für Dilthey von vornherein
etwas Inkommensurables, das aus den untersten Seelenschichten hervorquillt. Bei
jedem wahren Dichter wird nach seiner Meinung alles aus der eigenen Existenz
geschöpft, während der Auseinandersetzung mit der Realität nur die Funktion
eines auslösenden Katalysators zukomme. Die dichterische Rangfrage wird bei ihm
ganz eng mit der „Lebensfülle“ eines bestimmten Werkes verbunden. Denn nach
Dilthey ergreift uns nur das, wo wir das Gefühl des wirklich „Erlebten“ haben
und damit zugleich einen Einblick in unsere eigene Seele gewinnen. Durch diese
Anmutungs- und Verstehenstheorie wird nicht also nicht bloß der schöpferische
Prozess, sondern auch die Rezeption eines literarischen Kunstwerkes eindeutig
ins Psychologische verschoben. Das wissenschaftliche Bemühen der Deutung
beschränkt sich somit auf den rein erlebnismäßigen Vorgang, das Ich im Du zu
entdecken. Dilthey behauptete auch, dass der Dichter, wie der Prophet
oder Heilige, den bloßen Philosophen an Weltverständnis weit übertreffe, da er
sich nicht auf die rein rationale Erkenntnis beschränke. Bei Dilthey verschwindet jede vom Bewusstsein unabhängige
Wirklichkeit. Damit werden der subjektivistischen Willkür Tür und Tor geöffnet.
So spricht Dilthey vom Interpretieren als etwas höchst „Persönlichem“, was auf
einem kongenialen Nachempfinden beruht und damit zwangsläufig nur einer
geistigen Elite zugänglich ist. Überhaupt wird so die Intuition zum
entscheidenden Erkenntnisorgan erhoben. (Hermand, 37ff.) b. Der Bereich des Ästhetischen wurde
menschheitspsychologischen Typologien unterschiedlichster Art unterworfen.
Einige versuchten, aus der jeweiligen Typologie ein universales Grundprinzip
der gesamten menschheitlichen Kunstentwicklung abzuleiten. Damit hängen wiederum Bestrebungen zusammen,
universalgeschichtlich das Wachsen und Altern ganzer Kulturen zu erfassen.
Oswald Spenglers Untergang des
Abendlandes (1918-22) kann als Summe dieser Tendenzen betrachtet werden. 4. Hauff legt den Akzent auf die Hermeneutik-Debatte. a Grundlegend für das adäquate Selbstverständnis der
Geisteswissenschaften ist nach Dilthey die Einsicht, dass ihr
wissenschaftlicher Erkenntnisprozess immer schon eingebettet ist in ein vorwissenschaftliches Lebens- und
Weltverständnis. Die konkrete Lebenserfahrung und das Weltverständnis des
einzelnen Menschen sind für Dilthey gleichsam der Boden, in dem er das
Wissenschaftsprinzip der Geisteswissenschaften verankert. Im Zusammenhang des
eigenen Lebens, in der eigenen Lebensgeschichte macht jedermann die Erfahrung,
wie Verstehen möglich ist und wie sich der Verstehensprozess vollzieht. Aus Diltheys hermeneutischer Selbstreflexion der
Lebensgeschichte, die gleichsam exemplarisch das Modell liefert für die
spezifischen Reflexions- und Erkenntnisformen der Geisteswissenschaften, lassen
sich folgende wichtige methodologische Konsequenzen ziehen: – Der Mensch lebt immer schon in einer irgendwie
verstandenen Welt. – Die Sinnstruktur eines bestimmten Lebensverständnisses
wandelt sich mit den Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht. – Die Geschichtlichkeit des Individuums bedingt die
Geschichtlichkeit, d.h. Veränderbarkeit und grundsätzliche Unabgeschlossenheit
seines Selbstverständnisses, seiner Weltauffassung. – Die Geschichtlichkeit individuellen Lebens und die
Geschichtlichkeit individuellen Weltverständnisses bedingen die geschichtliche,
d.h. individuelle Struktur der Geisteswissenschaften. – Thesen und Theorien der Geisteswissenschaften sind nur
im Rahmen eines bestimmten historischen Kontextes verständlich. Sie besitzen
eine geschichtliche, d.h. relative Gültigkeit. Mit dem geschichtlichen Wandel
verändern sich Bedeutung und Relevanz. (Hauff, 10ff.) b. Wie begründet Dilthey die Fähigkeit des Menschen,
fremdes Leben und fremde Lebensäußerungen, d.h. Reden und Texte anderer
Menschen zu verstehen? Zum einen argumentiert er im Sinne der romantischen
Einfühlungstheorie, in Anlehnung an Schleiermacher. Diese Theorie ist primär
anthropologisch fundiert und behauptet eine gewisse Gleichartigkeit der
Menschen, die sich auch in geschichtlichen und gesellschaftlichen Veränderungen
durchhält, so dass zwischen Individuen, auch wenn sie durch einen Zeitenabstand
getrennt sind, ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit angenommen wird. Zum anderen argumentiert Dilthey in Anlehnung an Hegels
Theorie der Selbstobjektivation des Geistes. Demnach ist die Möglichkeit des
Verstehens dadurch gewährleistet, dass das Subjekt und der Gegenstand des
Verstehensprozesses beide im Weltgeist gründen. In dieser Hegelschen
Perspektive begreift Dilthey schließlich den spezifischen Charakter der
Geisteswissenschaften. „Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er. Die
Natur, der Gegenstand der Naturwissenschaft, umfasst die unabhängig vom Wirken
des Geistes hervorgebrachte Wirklichkeit. Alles, dem der Mensch wirkend sein
Gepräge aufgedrückt hat, bildet den Gegenstand der Geisteswissenschaften. [...]
Jetzt können wir sagen, dass alles, worin sich der Geist objektiviert hat, in
den Umkreis der Geisteswissenschaften fällt.“ (Dilthey ..., 148) (Hauff,
14f.) c. Die Geisteswissenschaften sind in der individuellen
Lebenserfahrung fundiert und haben das Ziel, den vorgegebenen
Auslegungshorizont des Menschen durch methodisch abgesicherte Forschung in
seiner objektiven Sinnstruktur zu erkennen, um damit die zufällige
Standortgebundenheit und die subjektiven Vorurteile des Einzelnen zu
überwinden. In der Wissenschaft und ihrer objektiven Erkenntnis verwirklicht
sich die Perspektive der Totalität, die die relativ gültigen Perspektiven
geschichtlicher Individuen und ihre subjektiven Auffassungen in sich aufhebt
und damit den menschlichen Erkenntnisprozess vollendet und gegenüber Zufall,
Willkür und Subjektivität absichert. Hauffs Kritik: Dilthey hebt also die Relevanz seines
lebensphilosophischen Ansatzes zum Teil wieder auf. Was als Charakteristikum
geisteswissenschaftlicher Erkenntnisprozesse postuliert wurde, der Ausgang und
die Fundierung des Verstehens im individuellen Lebenshorizont, wird im Hinblick
auf die ‘Objektivität der wissenschaftlichen Erkenntnis’ wieder eingeschränkt.
Nach Gadamer hat sich Dilthey nicht vom Bann des erkenntnistheoretischen
Cartesianismus und des naturwissenschaftlichen Objektivitätsideals zu befreien
vermocht. Und Habermas vertritt diese These, dass sich bei Dilthey ein
„heimlicher Positivismus“ durchsetzt. Er habe die „Selbstreflexion der
Geisteswissenschaften“, die zur Erkenntnis geführt hatte, dass diese in der Geschichtlichkeit
konkreter Lebenswelten verankert sind, abgebrochen und sei in Objektivismus
zurückgefallen. In Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften bleiben
somit folgende Punkte problematisch: – Der apodiktisch behauptete Übergang vom immer schon
wirkenden Lebensverständnis (Vorverständnis) zum methodisch begründeten
wissenschaftlichen Verstehensvorgang wird unzureichend expliziert. – Die Überwindung der individuellen Lebens- und
Erkenntnisperspektive durch den souveränen Gesamtüberblick des historischen
Bewusstseins kehrt sich gegen die hermeneutische und lebensgeschichtliche
Ausgangsposition. – Die psychologische Einfühlungstheorie und die
spekulative Lebens- und Geistphilosophie bedeuten einerseits einen Rückfall in
einen ungeschichtlichen Positivismus und bereiten andererseits den Boden vor
für den Aufbau von ahistorisch, spekulativ und erkenntnistheoretisch unkritisch
verfahrenden Geisteswissenschaften. (Hauff, 15ff.) d. Hermeneutische Theoriebildungen wurden von der
Literaturwissenschaft mehrfach rezipiert. In den ersten Jahrzehnten dieses
Jahrhunderts, in der Zeit der kritischen Auseinandersetzung mit dem
Positivismus und Historismus des 19. Jahrhunderts, beeinflusste Dilthey
Selbstverständnis, Erkenntnisinteressen und methodologische Reflexion in den
Geisteswissenschaften. Zwei geschichtliche Erfahrungen sind es vor allem, die die
Germanistik empfänglich gemacht haben für eine geistesgeschichtliche
Betrachtungsweise der Literatur. Die Perspektivlosigkeit des herrschenden
Historismus wurde nicht mit Hilfe Marxscher Kategorien aufgeklärt, sondern
durch die Anlehnung an die Lebensphilosophie und andere idealistische
Systembildungen ersetzt. Zum anderen bewirkte der Erste Weltkrieg eine radikale
Erschütterung des bürgerlichen Selbstverständnisses. Die Mehrheit der
Literaturwissenschaftler entledigte sich der negativen historischen Erfahrung
gleichsam durch eine Flucht in das Reich der Geistesgeschichte. Bei Rudolf Unger z.B. fungiert Diltheys Lehre von
‘Erleben, Ausdruck und Verstehen’ als Rechtfertigung für eine irrationale
Verstehenstheorie, die sich auf Gefühl und Intuition stützt und begrifflicher
Analyse und philosophischem Denken misstraut. Allein der Dichter vermag das
Ganze des Lebens, die Tiefe seiner Probleme zu gestalten, während die Rationalität
wissenschaftlicher Argumentation und philosophischer Reflexion nur Teilaspekte
in den Griff bekommt. (Hauff, 34ff.) |