2.16 Kritik
1. Die Grenzen des geistesgeschichtlichen Ansatzes liegen
einerseits in der Verengung, die mit der Rückführung der Mannigfaltigkeit
dichterischer Werke auf wenige Grundzüge, die eine Typisierung oder Gruppierung
ermöglichen, einhergeht. Der von Dilthey betonte interpretatorische Ansatz bei
der Individualität des Einzelwerks oder des einzelnen Autors läuft –
insbesondere wenn man glaubt, auf umfassende Tatsachenkenntnis verzichten zu
können – Gefahr, hinter Einheit stiftenden Konstruktionen übersehen zu werden. Zum anderen wird auch der geschichtliche Aspekt eher
nebensächlich, wenn die Literatur auf bestimmte Grundprobleme oder zwei
wesentliche Grundbegriffe hin untersucht wird.. An die Stelle historischer
Perioden- oder Epochenbildung tritt ein rhythmischer Wandel unhistorischer
Stile.(Gutzen, 176f.) 2. Die Inanspruchnahme der Geistesgeschichte für eine
Ideologie des Nationalen hat zu einer Korrumpierung der Geistesgeschichte
geführt. Sie rührt nur teilweise daher, daß die Geistesgeschichte in den
zwanziger Jahren mit anderen idealistischen und zeitgenössischen Strömungen für
eine Erneuerung der geistigen Kräfte des Volkes in Anspruch genommen wurde. Es
ist nicht nur die in der geistesgeschichtlichen Fragestellung angelegte Tendenz
zur Synthese und Vereinheitlichung auf das Wesen und das Typische, das sie
verwendungsfähig macht für nationale und politische Ideologie; denn wenn die
Frage nach dem Wesen des deutschen Volksgeistes gestellt und beantwortet werden
kann, dann auch die nach dem Wesen des Deutschen oder die nach dem Völkischen
an sich. Hinzukommen muss aber eine positive Wertung, die gerade das Deutsche
als etwas Besonderes auffasst. So erscheinen z.B. Strichs Grundbegriffe
zunächst als wertneutrale Kategorien, sie verschieben sich aber zu
Wertbegriffen in dem Maß, in dem Strich das Unendliche oder das Romantische als
vorzugsweise dem deutschen Geist adäquate Seins- und Ausdrucksweise hervorhebt.
Von hier aus ist der Weg nicht weit zur Gleichsetzung von Dichtung und absolut
verstandenem Volkstum. Die Pervertierung der geistesgeschichtlichen Methode durch
den Nationalsozialismus aber ist eine wesentliche Ursache für den Rückzug der
deutschen Literaturwissenschaft auf das ‘sprachliche Kunstwerk’, das als
‘autonom’ und nahezu ‘autarkes’ künstlerisches Gebilde betrachtet wird.
(Gutzen, 177f.) 3. Die ideellen geistigen Bewegungen werden ohne Beziehung
zu den konkreten Bewegungen in der historischen Realität gesehen. Alles, was in
der außergeistigen Sphäre geschieht, wird nicht mehr in die ‘Struktur’, die es
zu erkennen gilt, einbezogen. (Maren-Grisebach, 32f.) 4. Der Kunstwerkcharakter der Literatur wird
vernachlässigt, intuitives Verstehen glaubt auf Analyse verzichten zu können.
Form wird zumeist als Ausdruck des Lebensgefühls und der Lebensauffassung des
Dichters verstanden. (Gutzen, 170) 5. Das literaturhistorische Detailwissen wird zunehmend
gering geschätzt. Nur selten wird der Verlust an Wissen gegenüber dem
Positivismus allerdings überhaupt wahrgenommen. Es besteht die Gefahr, in
faktenarme spekulative Konstruktion abzugleiten. (Baasner, 59) 6. Was man nach außen hin als Befreiung aus der
„materialistischen“ Begriffsbildung des Positivismus bezeichnet, erweist sich
in der Praxis meist als eine steigende Distanzierung von der geschichtlichen
Verankerung aller geistig-künstlerischen Phänomene. Wie bei jedem radikalen
Umbruch verfiel man aus einem Extrem in das andere und gab mit dem
vulgärmaterialistischen Konzept von Ursache und Wirkung zugleich die
historischen und sozialen Voraussetzungen aller künstlerischen Phänomene auf.
(Hermand, 30) 7. Durch die steigende Verachtung von Technik,
Naturwissenschaft und Fortschrittlichkeit war dieser „Neuidealismus“ von
vornherein zu einer ideologischen Abseitslage verurteilt. In dieser Ära setzt
eine auffällige Herabwürdigung des bloß Technischen ein, die schließlich in
einem offen zur Schau getragenen Künstler- und Philologenhochmut gegenüber
allem Naturwissenschaftlichem kulminiert. Anders als in früheren Zeiten geht
diese Reaktion jetzt nicht mehr von den traditionellen Mächten, wie Staat und
Kirche, sondern von der sogenannten künstlerischen und geistigen „Avantgarde“
aus. (Hermand, 30f.) 8. Das Synthesestreben führte zu einem ungeahnten
Methodenpluralismus, da jede „idealistische“ Einstellung sowohl der
einzelpersönlichen Genialität als auch der dilettantischen Scharlatanerie einen
breiten Spielraum eröffnet. Es kam zu einer verwirrenden Aufspaltung in eine
Unzahl subjektiv gesetzter Methoden. Demgegenüber wirkt der Positivismus des
19. Jahrhunderts wie ein relativ homogenes Wissenschaftsgebäude, das trotz
seiner Tendenz zum Spezialistentum eine durchaus homogene Struktur aufweist. Ein wichtiger Grund für diese Entwicklung ist, dass das
saturierte Bürgertum der Gründerzeit in diesen Jahren allmählich an die Grenzen
seiner Machtpositionen stieß und die mangelnden Ausdrucksmöglichkeiten auf
politischem Gebiet durch eine „geistige“ Überspanntheit zu kompensieren suchte.
Der wissenschaftliche Objektivismus der positivistischen Ära wurde als etwas
geistig Subalternes empfunden, das spätwilhelminische Bürgertum konnte ihn
jedoch nicht durch ein ebenso geschlossenes Lehrgebäude ersetzen, da es ihm an
dem nötigen Fortschrittsglauben gebrach. So wurde die Einseitigkeit der bloßen
Faktizität gegen die der bloßen Idealität ausgetauscht. Gemeinsam ist den
Gruppen und Grüppchen, dass das streng historische Denken überhaupt in Frage
gestellt wird. (Hermand, 33ff.) 9. Dilthey versuchte, die drei Weltanschauungstypen im
Sinne seiner psychologischen Grundorientierung auf die seelische
„Veranlagung“ der jeweiligen Dichter
zurückzuführen. Das Weltanschauliche und damit im weitesten Sinne objektiv
Determinierte werden auf diese Weise zu einer bloßen Temperamentsfrage
reduziert. Durch Diltheys Tendenz ins Typologische löst sich der
Gesamtprozess der Geschichte in einen ununterbrochenen Kampf gleichmäßig
wechselnder Weltanschauungen auf, der weder eine Entwicklung noch eine
bestimmte Gesetzmäßigkeit erkennen lässt. Dilthey fällt auf diese Weise in
einen Geschichtsrelativismus zurück. (Hermand, 42f.) 10. Meist hebt man bloß die ‘geistige’ Grundtendenz eines
bestimmten Zeitabschnittes, Werks oder Dichters hervor, die sich – ohne
besondere Mühe – auch an den philosophischen oder politischen Dokumenten der
betreffenden Ära ablesen ließe. Die Vor- und Nachteile dieser Methode liegen in
ihrer Neigung zum Kategorialen, ihrem geistigen und seelischen Universalismus,
der so weit über den konkreten Fakten schwebt, dass von den besprochenen Werken
oft nur dürre Abstraktionen übrigbleiben. Ständig neigt man dazu, sich über die
geschichtliche Fülle des Materials einfach hinwegzusetzen und lediglich einer
geistigen ‘Wesensschau’ zu huldigen. Je mehr Welt man mit abstrakten
Konstruktionen zu erfassen versucht, desto mehr entgleitet ‘Welt’ im Sinne
einer empirisch erfassbaren Realität. (Hermand, 43f.) 11. Es wird gern mit klischeehaften Gleichsetzungen wie
Barock = entfesselter Subjektivismus, Klassik = Vollendung, Romantik =
Unendlichkeit, Biedermeier = Resignation gearbeitet. (Hermand, 48) 12. Die Geistesgeschichte ist eine Methode, Literatur
lediglich als eine Form der Philosophie, als in Form gekleidete Ideen
anzusehen. (Riha, 75) 13. Die lebensphilosophisch ausgerichtete
geistesgeschichtliche Bewegung um die Jahrhundertwende ist eine Zwischenstufe
auf dem „Weg Deutschlands zu Hitler auf dem Gebiet der Philosophie“. (Lukács)
(Riha, 91) 14. Von den durch Vertreter der Geistesgeschichte
begangenen Fehlern war der fälschlich erhobene Anspruch, Epochen als kollektiv
erfahrene geistige Einheiten klären zu können, der unglücklichste und
folgenreichste. Während die Ergebnisse der Untersuchungen von Typen des Gehalts
oder der Gestalt meist nur einem engeren Kreis von Fachleuten bekannt wurden,
fanden die Vorstellungen von „Epochen“ wie dem Barock und der Aufklärung usw.
eine denkbar weite Verbreitung. Entsprechend schwer fällt es, die längst
überfällige Korrektur vorzunehmen und im Allgemeinbewusstsein durchzusetzen.
(Falk, 44f.) |