3.02 Einstieg
1. Während das Lesen von Texten eine Passion sein kann,
war das Deuten und Auslegen schon früh eine Profession. Wer einen Text auslegt,
geht davon aus, dass der Autor einen Sinn in den Text hineingelegt hat, der
nicht jedem zugänglich ist. (Japp, 581) 2. Die deutschen Fremdwörter „Hermeneutik“ und
„hermeneutisch“ werden je nach historischem und philosophischem Kontext mit so
verschiedenen Wortinhalten, Denkformen und Interpretationskonzepten in
Verbindung gebracht, dass es höchst gefährlich geworden ist, sie zu gebrauchen.
Dennoch werden alle, die literaturwissenschaftlich tätig sind, sich mit den
Beziehungen zwischen Theorie und Praxis der Textanalyse und Interpretation
beschäftigen müssen. Unterschiedliche hermeneutische Konzepte gehen implizit
oder explizit von völlig verschiedenen Modellvorstellungen der Sprache, der
Kunst und des Verstehensprozesses aus. (Rusterholz, 101f.) 3. Jeder Versuch einer Skizze der hermeneutischen
Positionen und Modelle könnte den falschen Eindruck erwecken, es gebe eine kontinuierliche
Entwicklung von der Ursprüngen der griechischen Philosophie bis zu den
‘Zielformen’ der zeitgenössischen Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer und Paul
Ricoeur. Es wäre aber falsch, aus diesem Grunde auf eine Skizze historischer
Positionen zu verzichten. Im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Methoden und
Verfahrensweisen veralten historische Modelle des Lesens und Verstehens von
Texten nicht, ja sie sind ganz unerlässlich für das Verständnis
mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte, deren Wirkungsgeschichte bis in
die Gegenwart reicht. (Rusterholz, 103f.) 4. Zum Umgang mit Literatur gehört, sie zu verstehen.
Fragwürdig wird das Verstehen meist erst dann, wenn bei der Lektüre etwas
Unverständliches begegnet, z.B. eine überraschende Wortstellung. Weil erst das
Unverständliche Aufmerksamkeit für das Verstehen erregt, artikuliert sich auch
das Bedürfnis, das Verstehen literarischer Texte zu artikulieren, in dem
Moment, im dem die erste abendländische Literatur – das Werk Homers – beim
Lesen fremd zu werden beginnt. In der
Folge entsteht eine Fülle differenzierter Theorien zum Problem des Verstehens
und Auslegens, die zum Verständnis einzelner Werke wie der Ilias des Homer oder der Bibel
anleiten oder einzelnen Disziplinen, etwa der Geschichtswissenschaft, ein sachgemäßes Erfassen ihres Gegenstandes
ermöglichen sollen. (Jacob, 324) |