3.03 Die wichtigsten Ansätze
1.Platons Ion ist einer der frühesten Texte zum
hermeneutischen Problem. Dieses Problem wird hier in Form einer Verdopplung
vorgestellt, da Platon den Dichter als „Hermeneuten“ der Götter bezeichnet,
mithin der Interpret als ein Hermeneut in zweiter Potenz erscheint. Die
professionellen Interpreten der Antike waren die Rhapsoden, deren Beruf in der
Deutung und Darstellung der Dichter bestand. In Sokrates’ Begrüßung des Rhapsoden Ion heißt es, es sei
beneidenswert, sich „mit dem Homeros, dem trefflichsten und göttlichsten der
Dichter“ zu beschäftigen, „und seinen Sinn zu verstehen, nicht seine Worte
nur“. „Denn es kann doch keiner ein Rhapsode sein, wenn er nicht versteht, was
der Dichter meint; da ja der Rhapsode den Zuhörern den Sinn des Dichters
überbringen soll, und dies gehörig zu verrichten, ohne einzusehen, was der
Dichter meint, ist unmöglich.“ (Ion 530b/c) Diese Beschreibung des hermeneutischen Problems bleibt für
alle späteren ‘Hermeneutiker’ verbindlich. (>Textauffassung) Dieser Bestimmung zufolge kommt es darauf an, nicht
nur die Worte, sondern den Sinn eines Textes zu verstehen. Im Grunde gibt es
kein anderes Problem der Hermeneutik. Es gibt nur zahlreiche Umschreibungen des
Problems und ‘Lösungen’. (Japp, 582f.) Für den Hermeneutik-Begriff im Feld der Dichtung ist die
erste Hälfte des platonischen Dialogs Ion
von besonderer Bedeutung. [Zitat siehe oben.] Der Rhapsode ist Interpret der
Dichter, vor allem Interpret Homers. Die Dichter aber sind, wie Platon den
Sokrates im selben Dialog sagen läßt, „nichts als Sprecher der Götter, besessen
jeder von dem, der ihn eben besitzt“. (Ion 534c) (Rusterholz, 102) 2. Schon sehr früh (nämlich im Umkreis der klassischen
Homerinterpretation) setzte sich die Auffassung durch, dass es nicht darauf
ankomme, das Wort zu überwinden, um ‘hinter’ ihm den eigentlichen Sinn zu
entdecken. Vielmehr pluralisiert sich der Sinn. Man unterscheidet also zwischen
einem wörtlichen und einem allegorischen Sinn: zwischen dem sensus litteralis und dem sensus allegoricus. Die Kunst besteht
nun darin, den Text auf zwei Ebenen zu verstehen. Entsprechend pluralisieren
sich die Auslegungsarten. So entsteht zunächst die grammatisch-rhetorische
Auslegung. (Japp, 584f.) 3. Im Mittelalter wird dieses System zur sogenannten Lehre
vom vierfachen Schriftsinn ausgebaut. Man unterscheidet jetzt zwischen einem
wörtlichen, einem allegorischen, einem moralischen und einem anagogischen Sinn.
(>Textauffassung) Dante hat etwa
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass seine Göttliche
Komödie in einem solchen vierfachen Sinn geschrieben und zu verstehen sei. Diese dogmatische Auffächerung des Sinns, die als solche
nur für das Mittelalter und auch hier nur für die theologische Hermeneutik
typisch ist, wurde aber bald in Frage gestellt. Die Gefahr eines willkürlichen
Hineinlesens war nicht zu übersehen, weshalb häufig dafür plädiert wurde, die
Auslegung auf den sensus litteralis
zu beschränken. (Japp, 585) 4. Die Hermeneutiken des 18. und 19. Jahrhunderts
(Chladenius, Meyer, Ast, Schleiermacher, Boeckh u.a.) setzen in der Regel eine
Einheit des Sinns voraus. Die Frage nach der Pluralität des Sinns wird zur
Frage nach der Pluralität der Auslegungsarten. Die hermeneutischen Systeme
präsentieren sich als exegetische Regelsysteme. Die Zahl der Auslegungsarten schwankte zwischen zwei und
sechs, meistens waren es aber vier. Friedrich Ast unterschied zwischen
historischem, grammatischem und geistigen Verstehen, wobei das historische
Verstehen für den Inhalt der Werke zuständig sein sollte, das grammatische für
die Form, das geistige schließlich für den Geist des Autors. Schleiermacher hat
zwischen einer grammatischen und einer psychologischen (bzw. technischen) Auslegung
unterschieden. Boeckh differenziert zwischen grammatischer, historischer,
individueller und generischer Interpretation. Nach Boeckh gehen die vier Auslegungsarten nicht nur
ineinander über, sie setzen sich auch wechselweise voraus. Diese wechselseitige
Durchdringung und Abhängigkeit soll auf einer anderen Ebene auch den Vorgang
der Auslegung schlechthin strukturieren. Und erst hier ist von dem sog. hermeneutischen Zirkel die Rede,
demzufolge der Interpret vom Einzelnen zum Ganzen und vom Ganzen zum Einzelnen
vorzugehen habe. (Japp, 585ff.) 5. Man hat sich daran gewöhnt, die Wende der Hermeneutik
ins Allgemeine und Philosophische mit Schleiermacher beginnen zu lassen.
Schleiermachers Reflexion auf den hermeneutischen Zirkel richtete sich zunächst
gegen die eingeschränkte Bedeutung der sog. Stellenhermeneutik,
die eigentlich nichts anderes als ein Kommentar war. Erst dort, wo das
Verstehen aus der alles Reden begleitenden Unausdrücklichkeit hervortritt, wird
es zur Praxis der Auslegung. Schleiermacher wollte die Hermeneutik in den Rang
einer allgemeinen Kunstlehre der Auslegung, d.h. alles Verstehens fremder Rede,
erheben. Schleiermacher betrachtet die Auslegung als Kunst und
grenzt sich damit gegen die Spezialhermeneutiken seiner Vorgänger ab. Er
unterscheidet ferner zwischen einer laxeren und einer strengeren Praxis. Die
laxere Praxis geht davon aus, dass sich das Verstehen von selbst ergibt. Ihr
kommt es nur darauf an, in gewissen schwierigen Fällen ein mögliches
Missverstehen zu vermeiden. Dies sei das Verfahren der speziellen
Hermeneutiken. Dagegen gehe die strengere Praxis davon aus, „daß sich das
Mißverstehen von selbst ergibt und daß Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt
und gesucht werden“ (Schleiermacher 1959, 86) 6. Der Schleiermacher-Schüler Boeckh erklärt die
Nachträglichkeit des Interpreten zum allgemeinen Wesen der philologischen
Wissenschaft: „Hiernach scheint die eigentliche Aufgabe der Philologie das
Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d.h. des Erkannten zu sein. Es
wird überall von der Philologie ein gegebenes Wissen voraus gesetzt, welches
sie wiederzuerkennen hat.“ (Boeckh 1966, 10)
(Japp, 581) 7. Hermes, der Götterbote, ist der „hermeneús“ der Götter,
der den Sterblichen den Willen der Unsterblichen durch das Medium der Sprache
auslegt. (Rusterholz, 102) 8. Das berühmte, auch als „Hermeneutik“ bezeichnete Werk
des Aristoteles Peri hermeneias ist
keine Hermeneutik im modernen Sinne einer Theorie der Interpretation, sondern
eine Art logischer Grammatik..(Rusterholz, 102f.) 9. Das Problem der Hermeneutik wird immer in Zeiten der
Traditionskrise, in Zeiten des Wandels religiöser, kultureller, moralischer und
ästhetischer Normen aktuell. Die Geschichte der Hermeneutik kennt zwei
grundsätzlich verschiedene Verfahren der Auslegung von Texten, die sonst nicht
mehr verständlich oder nicht mehr sinnvoll erscheinen. (>Literaturtheoretische Grundannahmen) Die
grammatisch-rhetorische Auslegung überträgt mittels sprachlogischer Analyse und
mit Hilfe der Wort- und Bedeutungsforschung einen nicht mehr verständlichen
Text in moderne Sprache. Dabei soll der ursprüngliche Sinn bewahrt werden. Die
allegorische Interpretation hingegen gibt einem buchstäblichen Sinn („sensus
litteralis“) eine übertragene Bedeutung, einen allegorischen, symbolischen Sinn
(„sensus allegoricus“). (Rusterholz, 104) 10. Diese Unterscheidung wurde in der Antike maßgeblich in
der Interpretation Homers entfaltet.
Dessen Schriften hatten in der Antike eine Verbindlichkeit und Autorität, wie
sie die Bibel für das Mittelalter gewann. Die Wandlungen des Denkens vom
anschaulichen Vorstellen des Mythos zur abstrakten philosophischen Reflexion
führten zur Uminterpretation der homerischen Mythen. Diese allegorische
Tradition wurde von den Stoikern erweitert, die etwa die homerischen Götter als
Veranschaulichungen kosmischer Kräfte und moralischer Tugenden deuteten. Die grammatisch-historische Auslegung versucht also den
Sinn eines alten Textes durch Neuformulierung zu erhalten. Die allegorische
Auslegung hingegen bewahrt alte, kanonisch gewordene Texte in ihrem
ursprünglichen Wortlaut. Sie gibt ihnen aber im Kontext eines anderen neuen
Denkens oder eines anderen neuen Dogmas einen neuen Sinn. Die alexandrinische
Gelehrtenschule lehnte die Allegorese freilich ab. (Rusterholz, 104) 11. Dieser Gegensatz der Interpretationstypen prägt sich
auch in der Geschichte der Auslegung der
Heiligen Schrift aus. In den Auslegungspraktiken der griechischen
Kirchenväter des 2. und 3. Jahrhunderts stehen sich die Schule von Antiochia,
die am wörtlichen historischen Sinn der Schrift festhält, und die allegorische
Auslegungslehre von Alexandria gegenüber. Origines verbindet
historisch-philologisches Textstudium mit der Auslegung eines „dreifachen
Sinnes“ der Schrift, nämlich eines „somatischen“ (also buchstäblichen,
historisch-grammatischen), eines „psychischen“ (d.h. hier moralischen) und
eines „pneumatischen“ (d.h. allegorisch-mystischen). (Rusterholz, 104f.) 12. Unter den lateinischen Kirchenvätern betont Ambrosius
die allegorische, Hieronymus die buchstäblich-historische Auslegung, während
Augustinus beide Arten zu verbinden sucht. Die durch Augustinus in De doctrina christiana fixierte
exegetische Tradition eines mehrfachen Schriftsinnes ist durch das ganze
Mittelalter hindurch bedeutsam gewesen. Der wörtlich-buchstäbliche
Sinn erhellt die geschichtlich gesehene Tatsache; was heilsgeschichtlich zu
glauben, in der Geschichte des alten Bundes vorgebildet und im neuen Bund
ausgeführt ist, vermittelt der allegorische
Schriftsinn. Der moralische Sinn
verweist auf ethisch richtiges Handeln, der „sensus anagogicus“ schließlich
zielt auf die letzte, die eschatologische Wirklichkeit am Ende der Tage. Ein
beliebtes Beispiel ist die vierfache Auslegung des Worts „Jerusalem“ – nämlich
als der historischen Stadt im wörtlichen Sinne, die allegorisch auf die Kirche
verweist, moralisch-tropologisch die Seele des Christen und
anagogisch-eschatologisch die Gottesstadt, das ‘Himmlische Jerusalem’,
bedeutet. (Rusterholz, 105) 13. Die Allegorese, d.h. die Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn, hängt eng zusammen mit der Typologie. ‘Typologie’ ist eine seit dem
Neuen Testament praktizierte Methode der Exegese, die Personen und Geschehnisse
des Alten Testaments als Vor-Zeichen, als Prä-figurationen
des Neuen Testaments deutet, etwa nach dem Vorbild des Paulus, der Adam als
Präfiguration, als Typos Christi
bezeichnet. Der Antitypos Christus
verweist also auf den Typos Adam
zurück wie dieser auf ihn voraus. Eva und Maria, Joseph oder Simson und
Christus usw. stehen in demselben Verhältnis von Verheißung und Erfüllung. Die
typologische Deutung entziffert also heilsgeschichtliche Realprophetie und
erweist so die Übereinstimmung und Zusammengehörigkeit des Alten und des Neuen
Testaments. (Rusterholz, 105f.) 14. Die christliche
Hermeneutik des Mittelalters ist zwar aus dem „Buch der Schrift“
abgeleitet, aus der Bibel, bezieht sich aber ebenso auf das „Buch der Natur“,
die Schöpfung. Für den Kirchenvater Augustinus ist zwar die menschliche
Zeichensprache durch Konvention vermittelt, die Heilige Schrift aber vermittelt
gemäß dem Willen des Schöpfers auch die Bedeutung von Sachverhalten. Die Fülle
der Zeichen und des Sinns ist das Wesen christlichen Schöpfungsverständnisses. Allegorisches und typologisches Denken leiten nicht nur
die mittelalterliche Bibelexegese, sondern haben als sprach- und stilbildende
Kräfte auch die mittelalterliche Dichtung geprägt. Hier ist allerdings zu
unterscheiden zwischen Allegorese und
Allegorie: Handelt es sich bei der Allegorie darum, durch Wortfiguren einen
gegebenen abstrakten Sinn konkret zu veranschaulichen, so gilt es bei der Allegorese, aus einem gegebenen Wort
oder Ding die verschiedenen, durch das Buch der Schrift oder durch das Buch der
Natur offenbarten spirituellen Sinne zu erschließen.. Allegorese und Typologie sind für das gesamte geistige und
weltliche Schrifttum wichtig, insofern die antike Tradition im Mittelalter als
Präfiguration der christlichen verstanden worden ist. In diesem Sinne sind etwa
Vergil und Ovid ausgelegt worden. (Rusterholz, 106f.) 15. Eine außerordentliche Bedeutung für die Geschichte der
Auslegungskunst hat Martin Luther. Seine Schriftauslegung ist ohne die
philologischen Grundlagen des Humanismus
nicht denkbar. Grundsätzlich neu aber ist sein Verhältnis zur Tradition und zur
Allegorese. Erasmus’ von Rotterdam hermeneutische Schrift Methodus hatte noch die Allegorese des Origines als vorbildlich
gepriesen. Luther formulierte dagegen 1519 erstmals sein Auslegungsprinzip, das
mit der Formel „scriptura sui ipsius interpres“ – die Schrift legt sich selbst
aus – berühmt geworden ist. Das Verstehen folgt aus dem eindeutigen „sensus
litteralis“. Einzelne Stellen werden an der Gesamtaussage der Schrift
überprüft, zu der der Ausleger im ‘hermeneutischen Zirkel’, vom Einzelnen zum
Ganzen verfahrend, durch Detailanalyse vom Buchstaben zum Geist der Schrift
vorstößt. Ausgangspunkt der Bibelübersetzung war der Bezug zu den griechischen
und hebräischen Urtexten, die nicht „wort uß wort“, sondern „sin uß sin“
übertragen werden sollen, um so die Sache der Bibel in die Sprache der Zeit
seiner Mitmenschen zu übertragen. Matthias Flacius hat dann mit seiner Clavis scripturae sacrae von 1567 ein Standardwerk geschaffen, das
zur Grundlage für alle Hermeneutiken der lutherischen Orthodoxie wurde. Die
Hermeneutiken lutherischer Orthodoxie beschränken zwar die dogmatische Relevanz
auf den einfachen Schriftsinn. Die
Allegoresen leben aber als metaphorische Spielarten, als „applicationes“, als
Anwendungen auf das konkrete Leben der Gläubigen, und in der didaktischen Lehre
vom vierfachen Nutzen der Schrift fort. Das wirkt sich auch auf Texte der
bedeutendsten Dichter des Jahrhunderts wie etwa Gryphius und Grimmelshausen
aus. (Rusterholz, 108f.) 16. Johann Conrad Dannhauer, der Straßburger Theologe,
hatte ab 1629 in seiner Rhetorikvorlesung erstmals den Terminus „Hermeneutica“
gebraucht und setzte sich in seiner Idea
Boni Interpretis zum Ziel, eine wissenschaftliche Verfahrensweise für die
höheren drei Fakultäten zu entwickeln, die es erlauben sollte, schriftliche
Aussagen sinn- und sachgerecht auszulegen. Der rechte Interpret analysiert die nicht einsichtigen
Sätze durch Reduktion auf ihre logischen Voraussetzungen und unterscheidet so
den wahren Sinn vom falschen. Freilich kann die hermeneutische Analyse und
Synthese nur die immanente Schlüssigkeit belegen, nicht die sachliche
Richtigkeit, nur den richtigen Sinn einer Aussage, nicht den Sinn richtiger
Aussage, auch wenn sich Dannhauers Interpretationslehre letztlich doch auf den
Wahrheitsgehalt der Sache bezieht. In Dannhauers Hermeneutica
sacra von 1654, die zum ersten Mal das Wort „Hermeneutik“ im Titel führt,
bekommt die Rhetorik ein stärkeres Gewicht. Es handelt sich um eine spezielle
Hermeneutik, die sich mit den besonderen Strukturen einer bestimmten Textsorte
beschäftigt. Noch entschiedener gilt die Bedeutung der Rhetorik für die
Auslegung der Poesie, die einer ganz anderen Logik und Wahrheit verpflichtet
ist als die dogmatischen Wissenschaften. (Rusterholz, 110f.) 17. Die pietistische Gegenbewegung erhebt das eigene
persönliche und lebenspraktische Anwenden der Schrift zum Kriterium der
Wahrheit, so z.B. August Hermann Francke: Hermeneutische
Vorlesungen, Halle 1717. Die philologisch-historische Arbeit war in der Orthodoxie und im Pietismus nur Hilfsmittel einer wesentlich dogmatisch begründeten
Disziplin. Die philologisch-historische Interpretation als selbständige,
erkenntnisleitende Methode gedieh vorerst außerhalb der Kirche, etwa bei
Spinoza und Hugo Grotius. Hugo Grotius versteht die historischen Texte der
Bibel anhand derselben Prinzipien wie die profane, die weltliche Geschichte.
Die Differenz zwischen „hermeneutica sacra“ und „hermeneutica profana“
entfällt. Die hermeneutischen Regeln gelten gleichermaßen für alle schriftlich
fixierten Äußerungen. (Rusterholz, 111f.) 18. Die für den Hauptstrom der Aufklärung repräsentative Hermeneutik des Philosophen Christian
Wolff begründet Hermeneutik auf der Basis eines naiven Realismus. Ihr Ziel ist
die Erforschung des Geistes des Autors, um die hermeneutische Wahrheit, das
heißt hier die Rekonstruktion der Meinung des Autors zu bestimmen. (>Kritik) Weder die Eigenart verschiedener
Textsorten und die Medialität der Sprache, die durch die Art des Sprechens
aussagt, was explizit nicht gesagt wird, noch die historische Differenz
zwischen Text und Interpret werden berücksichtigt. So ergeben sich Widersprüche
zwischen ungeschichtlich vernünftig begründeter und historisch sich
entwickelnder Wahrheit der Texte. (Rusterholz, 112) 19. Der Leipziger Theologe und Altphilologe Johann August
Ernesti unterschied 1761 in seiner Institutio
interpretis Novi Testamenti zwischen der „subtilitas intelligendi“ und der
„subtilitas explicandi“, zwischen dem Verstehen aus dem historischen und dem
Verstehen aus dem sprachlichen Kontext, zwischen einem eindeutigen allgemeinen
Wortsinn und der Vielfalt der sich historisch je verschieden ausprägenden
Bedeutungen. Die pietistische Hermeneutik etwa Johann Jakob Rambachs hatte
bereits einen dritten Modus des Verstehens dazugefügt: die „subtilitas
applicandi“, die Anwendung auf die konkrete Lebenspraxis des Hörenden.
(Rusterholz, 112) 20. Mit Schleiermachers Hermeneutik beginne in jeder
Hinsicht etwas grundsätzlich Neues, das Verstehen als solches werde zum Problem
gemacht, und so stelle die psychologische Interpretation „sein Eigenstes“ dar:
lange ist diese Meinung die vorherrschende gewesen. Dabei verdankt gerade die
grammatische Interpretation Schleiermachers der vorangehenden Tradition der
Bibelhermeneutik trotz gravierender Differenzen jedenfalls die Anregung zu
kritischer Transformation. Im Zentrum von Schleiermachers Hermeneutik steht weder der
Bezug auf eine Wahrheit der Sache noch der auf eine fixierte Bedeutung, sondern
das Verstehen eines Aktes, einer Handlung sprachlicher Kommunikation. Sein
Interesse gilt gleichermaßen mündlicher und schriftlicher Kommunikation, handle
es sich nun um einen alltäglichen Dialog oder um einen literarischen Text. Schleiermacher versteht eine sprachliche
Äußerung als ein Lebensmoment, als Handlung, als Prozess, den er in seiner
Genese und Funktion zu verstehen versucht. Das heißt, er versucht sprachliche
Äußerungen oder ihre Dokumente aus dem Textkontext und dem historischen
Lebenskontext so zu rekonstruieren, dass nicht nur intuitives, sondern
intersubjektiv begründbares Wissen sein Verständnis belegt. Er unterscheidet im Akt des Sprachverstehens zwei Momente,
die nur in gegenseitiger Relation zureichend erkannt werden können: Mit der
Analyse der Rede in bezug „auf das Ganze der Sprache“ befasst sich die grammatische Interpretation; die
Untersuchung der Rede im Kontext des Denkens des Autors oder der Sprechenden
leistet dann die psychologische oder technische Interpretation. Seine Hermeneutik ist in Beziehung zu setzen zu seiner
Dialektik, die die sprachliche Verständigung bestimmt. Sie ist charakterisiert
durch die relative Identität von Sprechen und Denken. Sprache wirkt als
Begrenzung der Subjektivität des Denkens. Umgekehrt wirkt die Subjektivität des
Denkens als kreative Energie der Individualisierung der Sprache. Die beiden Hauptteile der Auslegung sind die allgemeine,
sprachbezogene (die „grammatische“) und die personenbezogene (die
„psychologische“ oder „technische“) Auslegung. Die letztere untersucht dabei
die individuelle Seite des Textprozesses als umgekehrte Komposition; die
erstere, dem Allgemeinen der Sprache geltende Auslegung, untersucht den
Textprozess als umgekehrte Grammatik. Der gegenseitige Bezug aber macht
deutlich, dass es hier nicht um Reproduktion einer einmal gesetzten Bedeutung
geht, sondern um die Analyse einer Sprachhandlung, um die Analyse eines
kreativen Prozesses. Schleiermachers Sprachverständnis ist nicht
instrumentell-rhetorisch, auch hält er nicht an der Vermittlung fixer
Vorstellungen oder Sachaussagen fest. Wortbedeutungen werden vielmehr durch das
sprechende Subjekt konstituiert und schaffen damit immer ein durch das
Verstehen des Interpreten analysierbares Verhältnis von Tradition und
Innovation. Diese Hermeneutik unterscheidet sich grundsätzlich von all
jenen interpretationstheoretischen Modellen, die Kommunikation lediglich als
Bedeutungstransport und Interpretation als Bedeutungszuweisung betrachten (zum
Beispiel durch die Rekonstruktion der Autorintention) oder die etwa die Logik
der Aussagen und ihr Entsprechungsverhältnis zur Wirklichkeit als Kriterium
eindeutig richtiger Interpretation postulieren. (>Verdienste) Die kreative Funktion der Sprache wird bei
Schleiermacher in zuvor nicht vorhandener Klarheit analysiert. Der Begriff der psychologischen oder technischen Auslegung
umfasst sowohl die psychologische Auslegung im engeren Sinn, die sich auf die
Individualität des je besonderen Sprachprozesses bezieht, als auch die je
besondere Vermittlungsqualität von Gedanken und Bildern auf das Lebensganze der
Schreibenden oder Sprechenden. Die psychologische Auslegung im weiteren,
„technischen“ Sinn betont die „techné“, die spezifische Fügungsart des Stils,
als charakteristische Modifikation der Sprache und der Weise der Komposition.
(Rusterholz, 113ff.) 21. Dass der frühe Dilthey (> Geistesgeschichte) im Gegensatz zum späten die psychologischen
Momente stärker betonte, entsprach seiner Lebensphilosophie und seiner
Frontstellung gegen den Positivismus, der die Eigenart
geisteswissenschaftlicher Erkenntnisgegenstände nicht berücksichtigte und auch
diese Bereiche dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal unterzogen hatte. Das abstrakte Naturverhältnis der Naturwissenschaften und
die durch sie ermöglichte Technik führen zu einem Chaos im Innenleben des Menschen.
Die Geisteswissenschaften sollten den zerrissenen Zusammenhang zwischen der
individuellen Welt der Subjekte und der Objektwelt wieder herstellen. Nach
Dilthey sind die Bedingungen des Bewusstseins nicht in einem abstrakten
Erkenntnissubjekt gegeben, sondern Leben ist begründet in der ihm eigenen
Einheit von Erkenntnis, Bewusstsein und Handeln. Die letzte Bedingung alles
Erkennens ist also im Lebenszusammenhang
gegeben; Leben wird im Erlebniszusammenhang
verstanden. Das eigene Erlebnis wird dabei durch das Erlebnis des anderen
aufgehellt. Der Erlebnis-Begriff hatte in der Literaturwissenschaft
eine ungeheure Konjunktur. (>Kritik)
Und zwar aus seinem gefährlich vereinfachenden Buch Das Erlebnis und die Dichtung von 1905. Es glorifiziert Goethes
Leben und Werk zur wunderbaren Einheit und Harmonie; Rätsel, Dissonanzen und
Widersprüche werden unterschlagen. Der Terminus „Hermeneutik“ wird von Dilthey nicht
einheitlich verwendet, bezeichnet aber vor allem die Theorie des Verstehens im
weitesten Sinne, die Theorie der Sach- und Umweltbezüge so, daß Hermeneutik zur
Erkenntnistheorie wird. Eine Bestimmung mittlerer Reichweite definiert die
Theorie der Auslegung als methodische Auseinandersetzung mit Gegenständen der
Kultur. Diese bestimmt er als „kunstmäßiges Verstehen von dauernd fixierten
Lebensäußerungen“. Schließlich bezeichnet er ebenfalls in Die Entstehung der Hermeneutik (1900) die hermeneutische
Wissenschaft als die „Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen“. Das Dilthey-Bild der Germanistik wurde weitgehend von den
Simplifikationen und Mythisierungen aus Das
Erlebnis und die Dichtung bestimmt. Im Gegensatz zu diesem vulgären
Dilthey-Verständnis des reinen Einfühlens, der reinen Projektion eigenen
Erlebens auf fremde Lebensäußerungen fordert „höheres Verstehen“ , wie es
Dilthey in seinen späten Entwürfen bestimmt hat, nicht nur Projektion, sondern
anschließend vergleichende Reflexion
von Eigenem und Fremden. Verstehen ist damit schon für Dilthey ein
reproduktiv-produktiver Prozess. Weder reduziert er den Textprozess auf bloße
Projektionen des Lesers, noch reduziert er den Text auf Intentionen oder ein
Bewusstsein des Dichters. Dilthey bestimmt den Prozess ‘höheren’ Verstehens als
Folge von Versuchen wechselnder Hypothesenbildung über das Verhältnis von
inhaltlichen und formalen Teilen und dem Ganzen inhaltlicher und formaler
Strukturen. (Rusterholz, 117ff.) 22. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts unternimmt
Friedrich D.E. Schleiermacher den Versuch, die Lehre vom Verstehen, die Hermeneutik, zu einer universalen Reflexion auf die
Bedingungen des Verstehens überhaupt auszubauen. (Jacob, 324) 23. Nach dieser erheblichen Ausweitung der Fragestellung
und Vertiefung des Problembewusstseins schien darum in der Folge für das
literaturtheoretische Interesse zunächst wieder eine zweifach einschränkende
Übersetzungsarbeit notwendig zu sein. Es galt, die Einsichten der philosophischen Hermeneutik
Schleiermachers in eine literarische Hermeneutik
zu übersetzen, d.h. eine Lehre des Verstehens zu entwerfen, die der Eigenart
literarischer Texte entspricht. Daran musste sich als zweite
Übersetzungsleistung anschließen, die hermeneutische Reflexion in eine Praxis
der Interpretation zu überführen. (Jacob, 324) 24. Schleiermacher legt seinen Überlegungen die These
zugrunde, dass das Verstehen insofern eine Kunst
sei, als es nach einer methodisch gesicherten Anwendung von Regeln verlangt,
obgleich diese selbst nicht wieder auf Regeln gebracht werden kann. Damit
verbietet sich nicht nur die Formulierung eines geschlossenen Regelsystems, aus
welchem die richtige Auslegung schwieriger Texte abgeleitet werden könnte,
sondern auch die Behauptung endgültiger und notwendiger Resultate bei der
Auslegung von Texten. Die wesentliche Neuerung, die Schleiermacher mit seinem
Begriff der Konstruktion einführt,
liegt darin, daß die Reflexion der Auslegungspraxis sich nicht mehr nur auf
einzelne, sogenannte dunkle Stellen in Texten beschränkt, die sich einem
unmittelbaren Verständnis entziehen. Vielmehr ist nun jede auf Verständnis gerichtete Operation zu kontrollieren, d.h.
eigens zu konstruieren. Anders gesagt, nicht mehr das Verstehen soll als
Regelfall im Umgang mit Texten angenommen werden, sondern das Missverstehen.
Die Möglichkeit des Missverstehens aber ist für Schleiermacher nicht primär
durch fremden oder veralteten Sprachgebrauch in einem vorliegenden Text
gegeben, sondern durch den Umstand, dass sprechende Menschen, die Texte
produzieren, Individuen sind, die je
auf ihre Weise über ihren Sprachschatz verfügen. „Die strengere Praxis“ hat
somit davon auszugehen, „daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das
Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden.“ Kunstvolles
Verstehen bedeutet nun bewusste Rekonstruktion der sprachlichen Kombinationsweise dessen, der geredet
hat. Die Konstruktionsarbeit kann nur beginnen, wenn sich der eigene
Sprachgebrauch „auf jedem Punkt“ zu irritieren bereit ist, um für fremden
Sprachgebrauch aufmerksam zu werden. (Jacob, 325f.) 25. Schleiermacher bestimmt als Gegenstandsbereich des
Auslegens das kunstmäßige Verstehen fremder
Rede. Schriftliche Dokumente sind in dieser Hinsicht zunächst nichts
anderes als die Fixierung einer mündlichen Äußerung zur Unterstützung des
Gedächtnisses. Nun geht Schleiermacher davon aus, daß Reden und Verstehen
einander korrespondieren können. Die
(fremde) Rede eines anderen kann in dem Maße verstanden werden, in welchem
dessen individuelle Gedankenkonstellationen nachkonstruiert und damit
angeeignet werden kann. Folgenreich ist, dass sich für Schleiermacher diese Möglichkeit
der Vermittlung nicht nur als Gespräch zwischen Personen realisiert, sondern
auch im Denkenden selbst gleichsam als Selbstgespräch
statt hat. Das individuelle Denken gewinnt erst durch innere Rede seine fertige
Gestalt, bis es geäußert werden kann. Dieser prozessuale Charakter des Denkens
und des ihm entsprechenden Verstehens prägt nach Schleiermacher den gesamten
menschlichen Wissenserwerb. (Jacob, 326f.) 26. Der hermeneutische Prozess wird oft metaphorisch
umschrieben: es lässt sich mit einem Text ‘ins Gespräch’ kommen, ein Text kann
‘antworten’ oder ein Geheimnis verbergen, und vor allem kann er wieder und
wieder befragt werden, bis man glaubt, ihn angemessen verstanden zu haben – nur
eines kann ein Text für Schleiermacher nicht, sich verstellen. „Denn keiner
redet oder schreibt etwas gegen seinen eigenen Geist außer in einem gestörten
Gemütszustand“ (Schleiermacher 1977, 344) – wäre dies nämlich der Regelfall,
bräche die Korrespondenz-Theorie von Reden und Verstehen zusammen. Die praktische Unabschließbarkeit
des Auslegens resultiert für Schleiermacher aus der Rückbindung der
hermeneutischen Operation an den individuellen Sprachgebrauch der Schreibenden,
welcher nie vollständig nachkonstruierbar ist. Auffällig ist, wie häufig Schleiermacher den Umgang mit
Texten an Beispielen aus dem Umgang mit Menschen erläutert. Seine Überzeugung,
dass sich durch das Reden die Gemeinschaftlichkeit des Denkens erst herstellt,
erhält so eine ethische Dimension, die über die philologische Arbeit
hinausweist – die der Einübung in den achtungsvollen, einfühlsamen Umgang
gebildeter Menschen untereinander. Im Hintergrund dieses ethischen Programms steht
Schleiermachers Auffassung der Sprachäußerung als eines individuellen Allgemeinen (Frank 1977). Die Versöhnung dieser sich
scheinbar ausschließenden Momente realisiert sich in der Form jedes Sprechakts. Individuell, insofern die Kombinatorik der
Gedanken eine spontane Leistung des redenden Subjekts ist, dessen feinste
Seelenregungen sich in seinem „Stil“ abbilden. Allgemein, insofern jede
sprachliche Äußerung an ein grammatisches Regelsystem gebunden ist, durch das
überhaupt ein Zusammenhang der Gedanken hergestellt werden kann. (Jacob, 327f.) 27. Das hermeneutische Gespräch mit einem Text ist
zunächst jedoch keine Kommunikation zwischen Gleichberechtigten. Das
literarische Werk ist seinem Interpreten in der Weise vorgeordnet, daß es ihm
etwas zu verstehen gibt. Soll der Text als Ausdruck der Gedankenkombination des
Autors verstanden werden, haben die Interpreten einerseits sich divinatorisch in den Autor
hineinzuversetzen, andererseits komparativ
seinen eigentümlichen Stil nachzukonstruieren. Nun darf dieses Ausdrucksmoment
aber nicht mit einer unmittelbar abgebildeten Autorintention verwechselt
werden, die etwa direkt durch eine Selbstinterpretation des Dichters
erschlossen werden könnte. Für Schleiermacher gilt, dass der Autor als Schöpfer
strikt vom Autor als Leser seines Werkes unterschieden werden muss. Es gibt
keinen überzeugenden Grund anzunehmen, dass der Autor seinem Werk gegenüber
aufmerksamer sein sollte als seine Interpreten. Die Fremdheit, auf welche die Hermeneutik reflektiert,
liegt in der Erwartung, dass der Sprachgebrauch des zu verstehenden Textes
durchgängig anders sein könnte als der gewohnte. Dabei hängt die
Aufmerksamkeit für das Ungewöhnliche
von der Gewohnheit des individuellen Sprachgebrauchs des Auslegenden ab. Der
Auslegung selbst eignet also eine Zirkelstruktur
insofern, als der Interpret immer schon seinen
Sprachgebrauch und seine Begriffe an das fremde Werk heranträgt. Darum
unterscheidet Schleiermacher, im Widerspruch zur traditionellen Hermeneutik,
nicht mehr zwischen Verstehen und Auslegen von Texten, da jedes Verstehen immer
schon eine Auslegung ist und jede Auslegung immer Ausdruck eines Verstehens.
Und darum wird sich schließlich das Nichtverstehen nie ganz auflösen. (Jacob,
328f.) 28. Hermeneutisches Verstehen orientiert sich am Werk. Die Einheit des Werkes ergibt sich
zunächst aus nichts anderem als aus der Beobachtung, dass ein Text einen Anfang und ein Ende hat. Schwierig wird die
Entscheidung über Anfang und Ende aber dann, wenn die Überlieferung eines
Textes nur fragmentarisch vorliegt, die Reihenfolge seiner Elemente unklar ist
oder aber es zum Kompositionsprinzip eines Textes gehört, Anfang und Ende zu
verwischen. In allen diesen Fällen ist eine Einheit als Bezugsrahmen für die
Auslegung mit Gründen zu konstruieren. Schleiermacher nennt diese Konstruktion Kritik. Dass diese sich selbst wieder zu
einem guten Teil einer ersten Auslegung dessen verdankt, dessen Grenzen
eigentlich erst noch zu bestimmen sind, lässt bereits auf der basalen Ebene der
Textkonstitution ein zirkuläres Verfahren erkennen, von dem die
Interpretation dann wiederum berührt
wird. Warum ist Einheit
des Werkes vorausgesetzt und angestrebt? Pragmatisch ist es notwendig, für
andere nachvollziehbar den Gegenstand zu bestimmen, auf den sich die Auslegung
beziehen will. Darüber hinaus bestimmt Schleiermacher die hermeneutische
Aufgabe als Rekonstruktion von Zusammenhang.
Die unendliche Reichhaltigkeit der Bedeutungen, die die Worte in der
subjektiven Kombinationsweise eines Textes annehmen, kann durch ihre
Vermittlung im Ganzen des Werkes allmählich – und nie vollständig –
eingeschränkt werden. So lässt sich sagen, dass die Konstruktion der Einheit
des Werkes, ohne je vollkommen erwiesen werden zu können, gleichwohl vom Beginn
der Auslegung an unterstellt werden muss, um dem Verstehen einen Stützpunkt zu
geben, von dem aus es seine Konstruktion vornehmen kann. Dieser Stützpunkt gibt
eine Perspektivierung vor, die sich je nach Auslegungsinteresse anders bestimmt
und für die Interpretation zu begründen ist.
(Jacob, 329f.) 29. Die Erschließung der Bedeutung eines Ausdrucks könnte, mit Schleiermacher, als
vorhermeneutische Klärung auf der Ebene der Sachinformation aufgefasst werden.
Der Sinn dagegen ließe sich vorerst
als immanentes Textgeschehen begreifen, das nicht zuletzt durch die
individuelle Sprachprägung durch den Stil des Schreibenden geprägt ist. Worte führen eine Vielzahl von Vorstellungen,
Verwendungstraditionen, Assoziationen mit sich, die niemals von dem poetischen
Gestaltungswillen eines Autors regiert werden könnten. Damit ist deutlich, daß
der Sinn nicht abgeschlossen in dem auszulegenden Text verborgen sein und als
solcher gehoben werden kann, sondern einen Zusammenhang
zwischen Text und Interpret fordert, der sich als Schnittstelle zweier
individueller Sprachgebräuche darstellt. Der Einsicht in die Begrenztheit der
Aneignungsmöglichkeit fremden Sinnes korrespondiert die Erfahrung der Fülle,
aus der die Auslegenden schöpfen können. Der Begriff der Konstruktion hält das
Bewusstsein der Unendlichkeit der hermeneutischen Aufgabe wach. (Jacob, 331f.) 30. Die Konstruktion des Verstehens lässt den Konstrukteur
nicht unberührt. Befruchtend ist der Umgang mit Literatur insofern, als die
Auseinandersetzung mit nicht reduzierbar individuellem Sprachgebrauch das
eigene Sprachvermögen und damit das artikulierbare Verhältnis zur Welt
bereichert. Das Verstehen ist immer auch ein schöpferischer Akt.
Schöpferisch im Sinne eines mannigfaltig sich entwickelnden Prozesses der
Sprachbildung, der die durch Konvention vorgeprägte Kombination der Gedanken
immer wieder überschreitet. Das Verhältnis zwischen Verstehendem und Werk kann
daher als Zusammenspiel von Subversion
und Identifikation beschrieben
werden. Identifikation, insofern in der Auslegung der eigene Sprachgebrauch,
eigene Gedanken und Erfahrungen im Prozess der Interpretation ins Spiel
gebracht werden. Subversion, insofern die Auseinandersetzung mit dem fremden
Stil des Textes die eigene eingespielte Sprachkonvention und Sinnerwartung
durchkreuzt. Die Offenheit der hermeneutischen Operation ist damit auch eine
Erfahrung der Entzweiung in der
Lektüre. Gleichwohl gibt die Hermeneutik die Suche nach dem einen Sinn, nach
der Versöhnung im Gespräch nicht auf. Für Schleiermacher war es die Einheit des
Werkes, das zum individuellen Lebensmoment der Einheit einer Person werden
konnte, welche die Rede immer schon als Versöhnung von Individuellem und
Allgemeinem denken ließ. (Jacob, 332f.) 31. Das Grundproblem der Hermeneutik ist ein
Übersetzungsproblem, nämlich ob und wie es gelingt, „einen Sinnzusammenhang aus
einer anderen ‘Welt’ in die eigene zu übertragen“ (Gadamer). Wenn man unter
Hermeneutik die Kunst des Verkündens, Dolmetschens, Erklärens und Auslegens
versteht, dann rückt zum bevorzugten Gegenstand sehr schnell „der Text“ auf.
Der Text ist der Gegenstand, seine Interpretation, das „kunstmäßige Verstehen“
(Dilthey), die Aufgabe der Hermeneutik. Der Hermeneutik geht es seit ihren
antiken Anfängen darum, den ‘rechten’ Sinn zu fassen und dessen ‘Wahrheit’ der
eigenen, fremden Zeit zu vermitteln. (Jung, 159) 32. Mit dem 18. Jahrhundert, der Aufklärung, insbesondere
aber mit Schleiermacher im frühen 19. Jahrhundert setzt eine deutliche
Gebietserweiterung der Hermeneutik ein, da nun das Selbstverstehen des Menschen
in seiner Geschichtlichkeit zum Reflexionsgegenstand wird. Es ist das Verdienst von Manfred Frank, Schleiermachers
hermeneutische Innovation detailliert nachgewiesen zu haben. Schleiermacher hat
der Reflexion von Sprache und Sprachstrukturen als dem gleichsam materialen
Substrat aller Verstehensakte eine erhebliche Bedeutung zugemessen. Das Subjekt
der Sprache ist ein Sprechender einer bestimmten Sprachgemeinschaft, der in die
Schnittstelle von überkommenen und einsozialisierten Sprachstrukturen, von
Tradition und Innovation, die er selbst in seinen Sprechakten vorführt,
gestellt ist. Es sei nun Schleiermachers bahnbrechende Erkenntnis gewesen, dass
er, obwohl er die Sprechakte in einen Horizont vorgefundener Strukturen
einbindet, zugleich die die Sprache überbietenden Leistungen sprachkompetenter
Subjekte gesehen hat. (Jung, 159ff.) 33. Dass gerade Schleiermacher als erster Neuerer
angesprochen werden muss, kommt nicht von ungefähr, hat sich doch seine Theorie
im Umkreis wahlverwandter frühromantischer Überlegungen herausgebildet. Deren
ästhetische und poetologische Reflexionen kreisen darum, den Interpreten des
Werks zu ermächtigen, weil nur er das Werk vollendet, ergänzt und
systematisiert. Ganz ähnlich spricht auch Schleiermacher von der Interpretation
als einer Kunst, die zwar einerseits methodisch und regelgeleitet verfährt, am
Ende aber das interpretierte Werk auf methodisch indemonstrable Weise nach- und
neu bildet. (>B 6: Kritik) Das Grundproblem, an dem
die Hermeneutik bis heute laboriert, hängt mit der Definition des Kunstbegriffs
zusammen. Erteilt man diesem selbst eine poetische Lizenz, dann ist fraglich,
was angesichts der Überlegenheit schöpferischer Phantasie („Divination“) vom
regelgeleiteten Verfahren (dem grammatischen Verstehen) übrig bleibt, ja was
dieses noch soll. Umgekehrt droht der Kunst dort, wo der Vorrang des
Regelgeleiteten angenommen wird, ihr Verschwinden zwischen den Maschen
(grammatischer) Strukturen.Hermeneutik oszilliert zwischen methodischen
Verfahrensweisen und genialer Interpretation. (Jung, 161f.) 34. Wilhelm Dilthey hat seine Philosophie in Frontstellung
gegenüber zwei mächtigen Gegnern entwickelt, dem Idealismus und dem
Positivismus. Gleichzeitig bleibt er diesen Gegnern in seinem Entwurf einer
Theorie der Geisteswissenschaften doch auch verpflichtet: Hegels Philosophie
entleiht er den Begriff des „objektiven Geistes“ als des Gebiets, das den
Geisteswissenschaften zugrunde liegt, und vom Positivismus erbt er die
Überzeugung, wonach die Geisteswissenschaften ebenso streng wie die
Naturwissenschaften ihren Aufbau und ihre Methodik zu demonstrieren haben.
Während die Naturwissenschaften am Paradigma des „Erklärens“ orientiert sind,
steht bei den Geisteswissenschaften das „Verstehen“ im Vordergrund. Die
Naturwissenschaften erklären ihren Gegenstand, die Natur, „als eine Ordnung
nach Gesetzen“, wohingegen die Geisteswissenschaften den Weg von außen nach
innen, dem Menschen, zurückverfolgen und „Bedeutung, Wert und Zweck“
analysieren, die die Menschen den Dingen und Sachverhalten zusprechen. (Dilthey 1981, 93) (Jung, 162f.) 35. Hier nun kommt die Hermeneutik ins Spiel, denn sie ist für Dilthey diejenige Hilfswissenschaft, die den Kernbegriff seines Projekts, das Verstehen, vorstellt. Diltheys Ausgangspunkt sind faktische, alltägliche Lebensvollzüge. Um handeln zu können, muss vorab schon verstanden worden sein (das Handeln des anderen, die Situation), worauf sich eigenes Handeln dann jeweils bezieht. Hierzu setzt Dilthey die Begriffe des Nachfühlens und Nachbildens ein; man müsse die eigenen Erlebnisse in den anderen hineinprojizieren. Er definiert das Verstehen als „den Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen“. (Dilthey 1964, 13) Dabei denkt Dilthey den „Vorgang des Verstehens“ als Prozess, „durch den das Leben über sich selbst in seinen Tiefen aufgeklärt wird“. Ihm geht es darum, Lebensprozesse zu verstehen, ebenso in ihrem Gewordensein, ihrer Genese, wie auch in ihrem Werden. Das Gegebene, an dem sich das Verstehen dann abarbeitet, bildet Ausdrucksformen, die Dilthey in verschiedene Klassen einteilt. Er unterscheidet Begriff, Handlung und Erlebnisausdruck voneinander, denen zwei Verstehensklassen, das ‘elementare’ Verstehen (Begriff, Handlung) und das ‘höhere’ Verstehen (Erlebnisausdruck) entsprechen. In jedem Fall aber geht die Bewegung so vor sich, dass das Verstehen nur unter Zugrundelegung des eigenen Erlebens ablaufen kann. Verstehen kann nur, wer erlebt und erlebnisfähig ist, und erleben kann nur, wer zugleich versteht. (>Kritik) Zwar ist es Diltheys erklärte Absicht, über das Verstehen eines (einzelnen) Erlebnisausdrucks, z.B. eines Kunstwerks, die Gesamtstrukturen einer Epoche auszuleuchten, doch es ist fraglich, ob und wie ein Verstehen noch möglich ist, wenn etwa dasjenige, wovon das Kunstwerk Erlebnisausdruck ist, in unserem eigenen Erlebnisschatz noch gar nicht aufgetaucht ist, wenn Handlungsstrukturen und Gefühlsdispositionen uns fremd sind. Anders ausgedrückt: verstanden werden kann nur das, was in den eigenen Erlebniszusammenhang eingeordnet werden kann; das Fremde wird im Eigenen wiederentdeckt als das andere, das ich selbst bin. Diese Identitätslogik findet ihre Schranke in der Inkommensurabilität eines Fremden, das sich durch die grundsätzliche Differenz zu mir als Erlebendem bestimmt. Wie sieht es z.B. mit dem Verstehen früherer Kulturen aus? (Jung, 163f.) 36. Dilthey selbst ist dies nicht zum Problem geworden, da er von einer identischen, kulturinvarianten Menschennatur ausgeht. Diese konzentriert sich schließlich in einem identischen Geist, der sich – hegelisch – entäußert in das weite Gebiet des ‘objektiven Geistes’. Jeder einzelne Mensch partizipiert qua ‘subjektiver Geist’ an diesem allgemeinen Geist. Der subjektive Geist versteht sich als Schöpfer des ‘objektiven Geistes’, als gleichzeitig Bestimmender wie Bestimmter. Unabhängig von den methodischen Verfahrensweisen hat Dilthey doch eine Ahnung von dem letzten Endes nicht methodisierbaren Verstehens- bzw. Interpretationsakt. Und in zahlreichen beiläufigen Äußerungen redet er der Genialität des Interpreten das Wort. (>Kritik) Denn wer von der Annahme eines psychologischen Sich-Hineinversetzens in einen zu deutenden (Erlebnis-) Ausdruck ausgeht, kann am Ende, wenn es um Fragen der Dignität und des Werts der Deutung geht, dazu nur die Erlebnistiefe und -fülle des jeweiligen Interpreten bestellen. Am Ende – und dies könnte man gleichsam als Diltheys letztes Wort lesen – haftet allem Verstehen etwas Irrationales an. (Jung, 165) 37. (>Kritik) Simmels Werk durchzieht untergründig eine fortlaufende Auseinandersetzung mit Diltheys Theorie. Im Essay Vom Wesen des historischen Verstehens (1918) erklärt er, die von Dilthey unterstellte Wesensgleichheit unter den Menschen, ihre identische Menschennatur, sei Fiktion, denn welcher Europäer zum Beispiel vermöge schon die Psyche eines Orientalen zu verstehen. Man müsse vielmehr von der sozialen Tatsache zweier gleichursprünglich gegebener Elemente, des Ich und des Du, ausgehen, wobei das Du über keine „Projektionstheorie“ (Simmel 1984, 67) dem Ich einfach einverleibt werden könne. Es bleibt das andere, und die Differenz ist unaufhebbar. Im historischen Verstehen, wo dem Verstehenden nicht einmal das Du in seiner leiblichen Präsenz gegeben ist, verschärft sich die Verstehensproblematik. Denn der Interpret ist ganz auf das historisch Überlieferte, auf Dokumente und Textzeugnisse angewiesen. Ebenso wie der psychologistische Schluss vom eigenen auf das fremde Erlebnis fehlgeht, ist es nach Simmel auch fatal, von den vorhandenen äußeren (Text-)Zeugnissen auf dahinterstehende innere Dispositionen und substantielle Erlebnisse zu schließen. Gewiss bestreitet Simmel nicht, dass es – etwa bei Künstlern – so etwas wie ein „Urerlebnis“ oder einen Keimentschluss gegeben hat, die dann das jeweilige Werk motivieren. Doch verkennt der Psychologismus die Tatsache, dass, sobald das Werk einmal geschaffen ist, es eine Eigendynamik entfaltet, die die Intention und Erlebnisse seines Schöpfers transzendiert. Aus diesem Grund ist „auch das geistige Verständnis einer solchen Schöpfung prinzipiell kein Problem mit nur einer möglichen Lösung“. (Ebd., 74) „Hat ein Schöpfungsvorgang erst einmal die Form des objektivierten Geistes gefunden, so sind alle und sehr mannigfache Verständnisse in dem Maße gleichberechtigt, in dem eine jede in sich bündig, exakt, sachlich befriedigend ist. Auf die individuell seelische Lebenswirklichkeit jenes Schöpfungsvorgangs als Kriterium dieses Bewußtseins brauchen sie nicht zurückzugehen.“ (Ebd., 73) Damit hat sich aber das (historische) Verstehen völlig vom (historischen) Produzenten gelöst, analog zur Ablösung des Objektivierten vom produzierenden Subjekt. Das Objektivierte, z.B. ein Kunstwerk, kann nur verstanden werden, insofern es Erlebnisschemata vorführt, die jede Zeit immer neu ausfüllen kann. Verschiedene Deutungen sind möglich, können gleichberechtigt nebeneinander existieren. Es ist nur gefordert, dass eine jede Interpretation – und das heißt eben auch: jegliche Methode – „in sich bündig, exakt, sachlich und befriedigend“ zu sein hat. Andere Normen gibt es nicht, erst recht keine Vorschriften darüber, wie eine Methode – besser: die Methode – auszusehen hat, die dann die gültige Interpretation hervorbringt. Bei diesem Relativismus und Methodenpluralismus ist Simmel stehen geblieben. (Jung, 166ff.) 38. Bereits einige Jahre vor Simmels Essay hat Georg Lukács in Zur Theorie der Literaturgeschichte (ungar. 1910) die Verstehensproblematik beantwortet. Lukács’ Ziel lässt sich nach zwei Seiten hin fixieren: er demonstriert ebenso die Notwendigkeit methodischer Verfahren, durch die das Kunstwerk aller erst auf einen vorläufigen Begriff gebracht werden kann (seine historische Situierung, Wert und Bedeutung für die Epoche, Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung etc.), wie er zugleich die Grenzen des Methodisierbaren aufweist. Der Interpret bleibt am Ende auf sich selbst angewiesen. Das Werk ist nicht Fall einer Regel, damit subsumierbar und über methodische Verfahrensweisen einhol- und auflösbar, sondern mehr und anders. Damit ermächtigt Lukács die Subjektivität des Interpreten, der, ohne auf den Wissensfundus dessen zu verzichten, was ihm die (Sozial-)Wissenschaften bereitstellen, dennoch mit der Souveränität genialer Intuition urteilt und mit diesem Urteil das Werk versteht. Lukács’ Schlussfolgerung, deren Radikalität er gewiss ebenso wenig gesehen wie für sich selbst übernommen hat, läuft darauf hinaus, dass er das, was Dilthey mit schlechtem Gewissen „geniale Anschauung“ genannt hat, radikal positiviert und unter dem Simmelschen Begriff der „Intuition“ zur Methode kürt. Die Intuition des Kritikers ist der letzte und nicht methodisierbare Grund des Kunstverstehens. (Jung, 168ff.) 39. Welches Verhältnis besteht zwischen Lesenden und Text? Wie kann ein lesendes (oder hörendes) Individuum den Sinn der sprachlichen Äußerung eines anderen (zeitlich und räumlich beliebig fernen) Individuums verstehen? Analog zu der Alltagserfahrung, dass sprachliche Kommunikation meist gelingt, fasste die Hermeneutik das Verstehen zunächst in einem zuversichtlich gestalteten Modell. Zur Beschreibung der Ausgangslage dienen dabei zwei Voraussetzungen: Sprache ist über ihre individuelle Anwendung hinaus universell und konstant gültig, außerdem steht allen an der Kommunikation Beteiligten ein umfassendes sozio-kulturelles Wissen gleichermaßen zur Verfügung. Diese Kombination sorgt unter anderem dafür, dass die übliche sprachliche Bezeichnung bestimmter Gegenstände, Vorgänge und anderer Erfahrungsdinge eingehalten wird. Das Sprachsystem sichert in Verbindung mit diesem Wissen eine geregelte Bildung von Texten, welche nach denselben Regeln auch verstanden werden können. Schreibende benutzen nach diesem Modell nur die feststehenden Komponenten der Sprache, um ihre Texte zu formen; die Eigentümlichkeiten der Form aber rühren überwiegend aus Äußerlichkeiten her wie Herkunft oder Ausbildung der Autoren. In einem solchen als individuenübergreifend gedachten Kontinuum können Missverständnisse als Ausnahmen des Sprachgebrauchs weitgehend unberücksichtigt bleiben. Allenfalls ist bei größerer historischer Distanz davon auszugehen, dass das sozio-kulturelle Wissen bei den Lesenden nicht dasselbe geblieben ist wie bei den Schreibenden und dass diese Wissensdifferenz zu Verständnisschwierigkeiten bei überlieferten Texten führt. Diese wären durch historische Sachinformationen zu beheben. Wenn das Sprachsystem überzeitlich gültig bliebe, könnte die Kommunikation über größere Zeiträume hinweg mit bescheidener Hilfe problemlos verlaufen. (Baasner, 38f.) 40. Doch erstens verändert sich Sprache, und zweitens sprengt die eigengesetzliche Literarizität von Werken den Rahmen der Alltagskommunikation. Da das Literarische nicht vollständig im Allgemeinen aufgeht, bestehen zumindest Restbereiche, für deren Verstehen die Universalität der Sprache und das gängige Wissen nicht immer ausreichen. Wenn diese Bereiche in ihrer Abweichung vom Allgemeingültigen als besondere Leistung der Individuen aufgefasst werden sollen, darf dieses Verstehen offenbar nicht nach dem üblichen Muster verlaufen. (Baasner, 39) 41. Schleiermacher gebührt das Verdienst, herausgearbeitet zu haben, dass gerade jenseits allgemeingültiger Sprach- und Wissensbestände Texte Besonders zu verstehen geben und dass gerade dieser Bereich für eine produktive Auseinandersetzung mit Texten geeignet ist. Er unterscheidet zwei Arten des Zugangs zum Text im Verstehensprozess: eine grammatische und eine psychologische. Erst bei besonderen Texten bedarf es einer eigenen grammatischen Auslegung. „Alles, was noch einer näheren Bestimmung bedarf in einer gegebenen Rede, darf nur aus dem Verfasser und seinem ursprünglichen Publikum gemeinsamen Sprachgebiet bestimmt werden.“ (Schleiermacher 1977, 101) Verfasser und Leser mit ihrem gemeinsamen Wissen und Sprachgebrauch sind zu berücksichtigen. Das Verfahren, das in der ‘grammatischen’ Auslegung eines Textes angewendet wird, bezeichnet Schleiermacher als ‘Spezialhermeneutik’, weil die jeweiligen Grundlagen nur für einen Text, seinen Verfasser und seine ursprünglichen Leser bestimmt sind. Diese Bestimmung ist nicht ohne weiteres auf andere Texte übertragbar. (Baasner, 39f.) 42. Die Wende in der Hermeneutikgeschichte vollzieht Schleiermacher mit der zweiten Variante, der psychologischen Auslegung. Diese „strengere Praxis geht davon aus´, dass sich das Missverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muss gewollt und gesucht werden“. (Ebd., 92) Statt der Konstruktionsregeln der Sprache, die in der ‘grammatischen’ Auffassung die Texteinheit zusammenhalten, wird hier die Einheit aufgefasst als „das, wovon der Verf.[asser] zur Mitteilung in Bewegung gesetzt wird“. (Ebd.) Die Einheit entsteht aus dem eigenen Willen und ist deshalb nur psychologisch zugänglich. Der Verfasser erscheint aus dieser Perspektive nicht als Vollzugsinstanz, die den Regeln der Sprache gehorchen muss, sondern als Individuum, das eigenmächtig „in der Sprache mitarbeitet“. (Ebd.) Dieses sprachliche Tun, das im Textverlauf als schöpferische Rede hervortritt, heißt bei Schleiermacher Stil. Stil zu verstehen ist die Aufgabe der ‘psychologischen Auslegung’. Diesem Verstehen bleiben immer Grenzen gesetzt, es ist „nur durch Annäherung zu erreichen“. (Ebd., 168) Voraussetzung dafür ist die Beherrschung und Durchführung der grammatischen Auslegung. In ihrer psychologischen Seite ist die Auslegung jedoch nicht fest regelbar und bleibt deshalb selber eine ‘Kunst’. (Baasner, 40f.) 43. Schleiermacher erfindet das Modell des hermeneutischen Zirkels nicht, reflektiert es aber als erster. Er stellt dar, wie das Verstehen eines ganzen Werkes vom vorausgehenden Verstehen einzelner seiner Teile abhängt – und so zum methodischen Problem wird, weil die einzelnen Teile selbst nur aus der Perspektive des Ganzen adäquat verstanden werden können. Dieser Vorgang bildet einen Zirkel und unterliegt damit keiner logischen Kontrolle. Wenn das Verstehen den annähernden Nachvollzug des Individuellen leistet, dann verändert sich im Laufe dieses Nachvollzugs der Blick auf das Allgemeine. Insofern dynamisiert das hermeneutische Verfahren jeden Verstehensakt durch die Individualisierung der Perspektive. Diese Einsicht begründet einerseits die Hoffnung, das Einzigartige großer Werke jenseits aller Regelvorgaben erfassen zu können, andererseits fordert sie die Kritik heraus, das vermeintliche Verstehen beruhe auf einer willkürlichen Einbildung der Lesersubjektivität. (Baasner, 41) 44. Eine weitere Aufwertung erfuhr die Hermeneutik durch Wilhelm Diltheys kulturgeschichtliche Arbeiten. Er versteht seine Ausführungen in Die Entstehung der Hermeneutik (1900) als einen Beitrag zur Vervollständigung der Schleiermacherschen Überlegungen. Dilthey zielt vor allem auf die methodische Absicherung von hermeneutischer Interpretation. Die Hermeneutik wird zur Grundlage einer ganzen Traditionslinie von Geschichts- und Literaturwissenschaft. Ihr Anspruch auf Verallgemeinerung des Individuellen im Verstehensprozess hebt sie auf die Ebene einer intersubjektiven Wissenschaft, ohne die Besonderheit des Individuellen zu leugnen. In gewissem Sinne bildet dies die von Schleiermacher geforderte Universalhermeneutik. Den Anspruch auf allgemeingültige Interpretation sieht
Dilthey folgendermaßen legitimiert: 45. Eine der traditionsreichsten Methoden ist die Hermeneutik, die vor allem richtigere von weniger richtigen Textinterpretationen zu unterscheiden und den Begriff des Verstehens zu erklären versucht. Geschichtlich erklärt sich das Erkenntnisinteresse dieser Methode aus ihrer Herkunft aus der Theologie und der Jurisprudenz. Bei der Bibel und den Gesetzestexten kam es den Hermeneutikern ursprünglich auf eine möglichst klare und unverfälschte Textauslegung an, und als der Literatur im Zuge der Säkularisierung am Ende des 18. Jahrhunderts teilweise der Charakter einer Ersatzreligion zugesprochen wurde (Kunstreligion), kam es immer häufiger zu einer Übertragung entsprechender Interpretationskategorien auf literarische Werke. (Schneider, 213) 46. Schleiermacher ging nicht davon aus, dass es eine einzige wahre Textauslegung gibt, sondern er definierte das Verstehen als den Prozess einer ‘unendlichen Approximation’ (Annäherung), bei der man niemals zu einer einzigen endgültigen Deutung gelangt. In einem sogenannten hermeneutischen Zirkel pendelt man stattdessen beständig zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen hin und her. Ich lese etwa ein Gedicht und habe danach ein erstes grobes Vorverständnis. Bei zweiter Lektüre entdecke ich jedoch eine Einzelheit wie z.B. ein mehrdeutiges Wort, eine Abweichung vom Reimschema o.ä., und daraufhin gelange ich zu einer zweiten, verbesserten Gesamtdeutung usw. Prinzipiell ist hier kein Ende absehbar, denn letzten Endes kann jedes winzige Textdetail zum Ausgangspunkt unendlicher stilistischer, intertextueller, etymologischer und sonstiger Zusatzerklärungen werden, bis schließlich jedes einzelne Wort im Text einen ganzen Rattenschwanz von erklärenden Kommentaren hinter sich herzieht. Der Hermeneutiker hält eine Deutung für umso richtiger, umso mehr (gelehrte und plausible) Kommentare sie berücksichtigt und beinhaltet. (Schneider, 213f.) 47. Der Hermeneutiker geht sogar davon aus, dass er einen Autor besser verstehen kann, als dieser sich selbst verstand. Drei Argumente werden hierfür ins Feld geführt, und zwar ein historisches, ein psychologisches und ein linguistisches. Das historische Argument besagt, dass der Autor im Moment der Abfassung seines Textes noch nicht zutreffend beurteilen konnte, in welchen Kontexten seine Worte standen, da ihm der hierzu erforderliche Abstand und Überblick zwangsläufig fehlte. Das psychologische Argument besagt, dass der Autor seine eigenen Seelenregungen und Charaktereigenschaften nicht vorurteilsfrei betrachten kann, so dass ihm vielleicht seine subjektive Weltsicht wie eine objektive Wirklichkeit vorkommt. Das linguistische Argument besagt schließlich, dass der Autor die Bedeutung seiner Worte nicht perfekt kontrollieren oder still stellen kann. Das Gesagte deckt sich also niemals mit dem Gemeinten, es lässt sich also immer mehr als nur dieses eine Gemeinte aus ihm herauslesen. Es gibt einen Streit darüber, ob schon Schleiermacher selbst das linguistische Element vorformulierte oder ob nicht erst Manfred Frank diesbezügliche Andeutungen Schleiermachers zu einem vollgültigen Argument ausbaute. (Schneider, 214f.) 48. Die moderne Hermeneutik arbeitet grundsätzlich mit einem sehr weiten Literaturbegriff, doch in der Praxis stößt sie dort an gewisse Grenzen, wo es – wie z.B. bei der Computer-, Zufalls- oder Nonsenselyrik – nichts zu ‘verstehen’ gibt, weil hinter dem Gesagten nichts Gemeintes gesucht werden kann. (Schneider, 215) 49. Bei allem Methodenstreit in den Literaturwissenschaften blieb bis in die siebziger Jahre hinein weitgehend unbestritten, dass eine wie auch immer geartete Hermeneutik die systematische Grundlage jeglichen Textverstehens bilde. Denn literarische Texte, zumal solche von Rang, geben – so der Konsens – ihre Bedeutung nur demjenigen preis, der sie nach den Regeln der Kunst auszulegen versteht. Sie sind eine historisch-ästhetische ‘Quelle’, aus der es ‘Sinn’ zu ‘schöpfen’ gelte. Das ist eine altehrwürdige Vorstellung, die bis zum Talmud, zur Exegese der „Heiligen Bücher“ und der Auslegungstradition römischen Rechts zurückreicht. Seit der Renaissance und dem Humanismus gilt sie auch für das Studium der ‘alten Schriftsteller’, deren Werke im Wandel der Zeiten ihre ursprüngliche Bedeutung verloren zu haben schienen. Solange literarische Texte als Quelle von Erfahrung, Wissen und Wahrheit eine gewisse Autorität beanspruchen durften, konnte die Hermeneutik als ‘Königsweg’ zu ihrem Verstehen dienen. (Bogdal, 137) 50. Diese Vorstellung setzt sich mit Friedrich Schleiermacher um 1800 durch. Von da ab kann man von moderner Textwissenschaft sprechen. Erst die poststrukturalistische, durch die analytische Philosophie und die moderne Linguistik sekundierte Skepsis hat den Grundkonsens aufgekündigt. (>Kritik) Aus dieser Sicht sind Texte selbstregulierende Zeichensysteme mit Mehrfachcodierung und ohne einen ihnen von einer vorgängigen Instanz wie einem Gott, dem Gesetz oder dem Dichter verliehene Tiefendimension. Wenn sie nicht länger ‘Quellen’ sind, sondern nun ‘Texturen’, dann scheint die ‘Zeit der Auslegung’ vorbei. Hermeneutisches Verstehen erscheint nun als „Sinnzentrierungspolitik mit [...] Heteronomiebeseitigungsverfahren“. (Müller 1994, 25) (Bogdal, 137f.) 51. (>Kritik) Eine Schwierigkeit der Diskussion um die Grundlagen des Textverstehens liegt darin begründet, dass die neuzeitliche Hermeneutik nach Schleiermacher ihre historische Konstituierungsbedingungen weitgehend ausgeklammert hat. Dazu gehört in erster Linie die historische Tatsache, dass sie sich selbst in einem unmittelbaren Entstehungszusammenhang mit jenen Rede- und Texttypen befindet, die sie auslegt. Die hermeneutische Wende zu Beginn des 19. Jahrhunderts lässt sich vom Wandel des Wissens und der Ausdifferenzierung der Schriftlichkeit um 1800 nicht trennen. (Bogdal, 140) 52. Prämoderne Hermeneutiken vor 1800 gingen restriktiv mit dem Interpreten um, insofern er aus Achtung vor dem Werk und seinem Schöpfer gehalten war, nichts eigenes in die Texte ‘hineinzulegen’. Die Auslegung setzte ein durch Fleiß und Sorgfalt anzueignendes Wissen voraus, mit dessen Hilfe auch solche Texte verstanden werden konnten, die durch historischen Abstand, fehlenden Kontext, stilistisch-rhetorische Ausdrucksweise oder als ‘Offenbarung’ einer übermenschlichen Instanz unverständlich, klar oder mehrdeutig schienen. Auf diese Weise erhoffte man zum Beispiel die Echtheit biblischer oder antiker Texte feststellen zu können. Die Divination und Intuition des Interpreten, die Schleiermacher anstrebte, konnte nur deshalb hierüber hinausgehen, weil den Texten inzwischen ein ‘Mehr’ an Bedeutung zugeschrieben wurde. Verstehen hieß nun An-Eignung, Teilhabe durch ‘Mitschöpfung’ eines Sinns, der mit erlernbarem, gelehrtem Wissen nicht mehr zu ergreifen ist. Solange literarische Texte als mit Hilfe der Poetik und Rhetorik entschlüsselbar galten, gab es keinen Ansatzpunkt für eine divinatorische Interpretation, die aus der alten Perspektive den ‘Sinn’ verfehlt hätte. Mit dem tiefgreifenden Wandel des Autorbilds und des Werkbegriffs im 18. Jahrhundert schwand die Plausibilität und Autorität poetologisch und rhetorisch fundierter Auslegung rasch. Ein Autor, der Genialität und Originalität in Anspruch nimmt, lässt sich nicht mehr von der poetologischen Tradition her begreifen; ein autonomes, auf Vieldeutigkeit und Einzigartigkeit hin konzipiertes Werk wie Faust II entzieht sich in wesentlichen Aspekten der ‘gelehrten’ Deskription. Die philosophische Ästhetik als theoretische Grundlegung der Kunst tradiert nun das poetische Regelwissen nicht mehr. (Bogdal, 140f.) 53. Ausschlaggebend waren die Auswirkungen des neuen Wissens über das Subjekt. Es erlaubte, mit dem Dichter, seinem Werk und seinem Leser emphatische Vorstellungen von Genialität, Originalität, Freiheit und Autonomie zu verbinden, die den Zeitgenossen plausibel schienen. Das Individuum erhielt durch dieses Wissen eine intellektuelle und emotionale Tiefenbedeutung, ohne deren ‘Deutung’ seine sprachlichen Äußerungen, Produkte und Handlungen nicht mehr verständlich erschienen. Mit dem um 1800 sich herausbildenden Dichtertypus gewann die bürgerliche Gesellschaft eine neue Subjektposition. Die zugehörige Literatur erforderte zu ihrem Verstehen ein Wissen, über das selbst der gebildete Normalleser in der Regel nicht verfügt. Der Graben wird durch den Literaturkritiker überbrückt. Der Leser sozial anerkannter Literatur tritt hinter die Institutionen zurück, die jeweils einen verbindlichen Interpretationsanspruch vertreten: Literaturkritik, Schule und Universität. Schleiermachers Hermeneutik konstruiert einen systematischen Zusammenhang zwischen den Texten und den neuen Subjektzuschreibungen und gibt Tiefendimensionen an, auf die hin Texte gelesen werden müssten, um adäquat verstanden zu werden. Letztlich liest der Hermeneut nun auf das ‘Individuelle’ hin, das im Innenraum des Textes zu einer besonderen Gestalt findet. (Bogdal, 141f.) 54. Diltheys zur geisteswissenschaftlichen Methode ausgearbeitete Hermeneutik tradiert als unbefragte Prämisse die emphatische Subjekt- und Texttheorie der klassisch-romantischen Epoche. Unter dem Druck des positivistisch-naturwissenschaftlichen Wahrheitsbegriffs strebt sie ein Verstehen an, dem ein höherer Allgemeinheitsgrad zukommt. Dies gelingt in einer Zusammenhangkonstruktion, die die Endlichkeit und Einzigartigkeit des Individuellen in der Totalität der geschichtlichen Bewegung aufgehen lässt. (>Kritik) Damit wird jene methodische Unbestimmtheit installiert, nach dem „jeder Teil dieses historischen Ganzen seine Bedeutsamkeit durch sein Verhältnis zu dem Ganzen der Epoche oder des Zeitalters“ (Dilthey) hat. Literatur wird aus einem Ereignis zu einem Schrift-Dokument, dessen Sinn ihm von der Geschichte vor-geschrieben ist. Ziel der Interpretation ist nicht ‘die’ Bedeutung eines Textes, sondern sein Sinn in der Geschichte, der allein Bedeutung zukommt. Die Hermeneutik vollzieht den Weg der Dichter zum Ganzen durch „kunstgemäßes methodisches Erfassen“ nur nach. (Bogdal, 142f.) |