4 Formalismus

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4.04 Die wichtigsten Ansätze

1. In vielen Formulierungen kommt die positivistische Grundhaltung aller formalistischen Theorie zum Ausdruck. Eichenbaum spricht vom neuen „Pathos des wissenschaftlichen Positivismus, das die Formalisten auszeichnet. [...] Es ging darum, den Fakten zu ihrem Recht zu verhelfen; also, unter Verzicht auf nur allgemeine Systeme und Fragen, dort anzusetzen, wo die Tatsachen evident werden.“ (Eichenbaum 1965, 13) Die Faktizität der Literatur aber liegt in ihrer „spezifischen Besonderheit“ als sprachliche Form, die durch eine Reihe von beschreibbaren Kunstmitteln  hergestellt ist. Die Grundeinstellung ist die des erkennenden Beschreibens gegebener Tatsachen. (Philippi, 110.)

2. Die „entscheidende Behauptung der Formalisten“ besagt, „daß die Aufgabe der Literaturwissenschaft die Erforschung der spezifischen Besonderheiten des literarischen Materials sei, welche es von jedem andersgearteten Material unterscheiden“. Jakobson formuliert: „Den Gegenstand der Literaturwissenschaft bildet nicht die Literatur, sondern das Literarische, das heißt: das, was das vorliegende Werk zu einem Werk der Literatur macht.“ (Eichenbaum 1965, 13f.) (Philippi, 103)

3. Das Wort, allgemein: die poetischen Mittel, wurde seines verweisenden Charakters ganz entkleidet. Man sprach vom „selbstgenügsamen Wort“, hinter dem keine andere Realität als die der Poesie stecke. Die Formalisten betonten den Primat der Form vor dem Inhalt.

„Die sogenannte ‘formale Methode’ hat sich nicht als Folgeerscheinung eines besonderen ‘methodologischen Systems’ herausgebildet, sondern im Kampf um die Selbständigkeit und Konkretisierung der Literaturwissenschaft. [...] Das für die ‘Formalisten’ entscheidende Problem ist nicht die Frage nach möglichen Methoden zur Erforschung der Literatur, sondern nach der Literatur als einem Gegenstand der Forschung.“ (Eichenbaum 1965, 7) (Philippi, 104f.)

4. Mit der Differenz der poetischen von der praktischen Sprache entdeckte man den „Eigenwert“ der „sprachlichen Elemente“ in einem „Sprachsystem“, in dem „ der praktische Zweck zurücktritt (ohne deshalb ganz zu verschwinden)“: Dichtung wurde als System begriffen, das zu einem besonderen ästhetischen Zweck mit spezifischen Mitteln organisiert ist.

Der Unterschied zwischen Literatur und Nicht-Literatur liegt in der „Darstellungsweise“. Die Literatur wird radikal unter technischen Kategorien betrachtet: wie sie ‘gemacht’ ist, denn es kommt darauf an, durch die Erfassung der künstlerischen Mittel Kunst als Kunst, d.h. als Form zu erfahren. „Kunstwerke werden wir die Dinge nennen, die mit Hilfe besonderer Kunstgriffe geschaffen wurden, die bewirken sollen, daß diese Dinge als Kunst wahrgenommen werden.“ (Sklovskij 1966, 9)

Anhand des von ihm aufgewiesenen Kunstmittels der Verfremdung und der „erschwerten“, nicht einfach mit vorliterarischer Realität identifizierbaren Form kommt Sklovskij zu einer grundsätzlichen Erkenntnis: „Wenn wir die Klanggestalt und den Wortbestand, die Wortstellung und die semantischen Konstruktionen der dichterischen Sprache untersuchen, stoßen wir überall auf dasselbe Merkmal des Künstlerischen: es wurde bewußt geschaffen, um die Wahrnehmung vom Automatismus zu befreien“. (Sklovskij 1966, 24)

Die Formalisten lösten sich von der Deutung der Form als Gefäß, in das der Inhalt gegossen wird. Der Begriff des Inhalts wird für die konsequenten Formalisten überflüssig.

Kunstherstellung erschien als Prozess, in dem vorästhetisches Material durch bestimmte Kunstmittel, eine bestimmte Handhabung sprachlicher Formen zur Kunst wird. Sklovskij formuliert 1921: „Ein literarisches Werk ist die Summe aller darin angewandten stilistischen Mittel.“ So hatte „der Begriff der Form im Sprachgebrauch der Formalisten einen völlig neuen Sinn erhalten und war mit dem des Kunstwerks als einem Ganzen verschmolzen.“. (Eichenbaum 1965, 41) (Philippi, 106ff.)

5. Zunächst wurden die Texte oft „außerhalb der Literaturgeschichte, [...] als reines Material zur Erforschung der Konstruktion“ betrachtet. Dann wurde eine Historisierung des Untersuchungsgegenstandes vorgenommen. „Literatur aus verschiedenen Zeiten, von verschiedenen Autoren wird verglichen, „die Form des Kunstwerks bestimmt sich durch ihre Beziehung zu anderen vor ihm existierenden Formen. [...] schlechthin jedes Kunstwerk entsteht als Parallele und Gegensatz zu irgend einem Vorbild“. (Eichenbaum 1965, 29, 27) Das bedeutet nicht, dass das Kunstwerk durch diesen Gegensatz motiviert wird, sondern, dass sich die Kriterien zu seiner Analyse als Kunstwerk nur innerhalb eines ständig sich entwickelnden Systems bestimmen lassen.

Tynjanovs Aufsatz Über literarische Evolution hat diese Konsequenz entwickelt. Vor allem korrigierte Tynjanov auch die Formel Sklovskijs vom literarischen Werk als Summe der in ihm enthaltenen Kunstmittel. Der Begriff Summe wird durch den funktionalen des Systems ersetzt, wobei „ein Werk der Literatur“ als ein System verstanden wird – „und die Gesamtliteratur ebenfalls“. (Tynjanov 1967, 40) (Philippi, 109f.)

6. (>Abgrenzung) Die Grundeinstellung der Formalisten unterscheidet sich vom frühen Positivismus in der deutschen Literaturwissenschaft. Es ging ihnen nicht um die Ableitung der Literatur aus vorliterarischen Bedingungen, nicht um Determination durch außerliterarische Gesetze. Schemata von Ursache und Wirkung waren verpönt.

Die Gesichtspunkte der Genese und der Wirkung erscheinen nur in stark reduzierter Form in der Theorie, der es auf die innerliterarische Funktion der Kunstmittel ankam. „Die Genesis kann nur die Herkunft klarstellen; die Poetik jedoch ist auf die Erhellung der literarischen Funktion bedacht. Der genetische Gesichtspunkt lässt gerade das Kunstmittel als einen eigentümlichen Gebrauch des Materials unberücksichtigt“. (Eichenbaum 1965, 26)

Durch Sklovskijs Einsicht, dass Literatur und ihre Kunstmittel immer nur im Rahmen ihrer eigenen „literarischen Reihe“ betrachtet werden können, wird der Literaturbegriff in begrenzter Weise wieder historisiert und als Bezugssystem die Tradition der Literatur selbst, die Konventionalität ihrer Techniken eingesetzt. Literatur als Ganzes wird zum System, als Voraussetzung analytischer Begriffe in einem logisch einwandfreien Erklärungszusammenhang. (Philippi, 112f.)

7. Die Auseinandersetzung mit dem Marxismus entzündete sich an der Frage des Zusammenhangs von Literatur und Gesellschaft (oder Geschichte), dem Grundproblem der Literatursoziologie. Die Ablehnung Sklovskijs, aus der außerliterarischen Genese der Kunstmittel den literarischen Charakter eines Werkes zu erklären, verwarf zugleich die zeitgenössische marxistisch-ideologische Interpretation der Literatur, die erneute Aufspaltung in einen (primären) Inhalt und eine Form.

Trotzkij, der die marxistische Kritik an den Formalisten einleitete, stimmt zwar zu, daß der Kunst eine gewisse Eigengesetzlichkeit zugestanden werden müsse, kritisierte aber den Totalitätsanspruch der These von der Autonomie der Kunst.  (Philippi, 117ff.)

8. a) Die im einzelnen untersuchten Kunstmittel werden aus der Tradition übernommen, ohne daß dies in den Überlegungen ausdrücklich erkannt wird.

b) Die geschichtliche Bedingtheit der Sprache als ‘Objekt’ wie als Aussageträger und Erkenntnismittel wird nicht deutlich. Was Sklovskij „semantische Verschiebung“ nannte, ist nicht Selbstzweck, sondern soll Erkenntnismittel werden: nicht nur, um Literatur als Kunst zu erkennen, sondern auch die Welt, von der sie sich als Kunst auf spezifische Weise unterscheidet, um eben so eine Aussage über diese Welt zu machen.

c) Die hermeneutische Unzulänglichkeit der formalistischen Literaturtheorie äußert sich auch darin, dass sie vom Interpreten des sprachlichen Materials als einer geschichtlich bedingten Größe, die durch Interessen und Tradition vorgeprägt ist, keine bewusste Kenntnis nimmt.

d) Wahrnehmung ist Rezeption aufgrund bewusster Tradition, und diese kann sich nur in konkreten Subjekten mit einer bestimmten Kenntnis dieser Tradition vollziehen. Die Theorie bezieht jedoch diesen wirkungsästhetischen Aspekt nicht ein, obwohl er indirekt immer wieder vorausgesetzt wird.

e) Man führte zwar den Begriff der Evolution und damit der Geschichtlichkeit des literarischen Objekts wieder ein, aber in stark verkürzter Form. Was als „dialektische Selbsterzeugung neuer Formen“ ausgegeben wurde, enthält einen reduzierten Begriff von Dialektik, der dem positivistischen Interesse an begrenzten Erkenntnisobjekten unterworfen ist. Dialektik bedeutet keine Bewegung einer in sich geschichtlichen Substanz, sondern ein Erklärungsschema: poetische Form – Automatisierung – Deformation als Durchbrechung des Automatismus – neue Form. Dieses Schema ist identisch mit der Struktur des Systems ‘Literatur’.

f) Die anfänglich scheinbar absolute Abtrennung der ‘literarischen Tatsache’ von allen Sozialbezügen ließ sich nicht halten. Tynjanov zeigt, dass schon die Bestimmung der Besonderheit des Literarischen nur durch die logisch notwendige Opposition zu allen anderen ‘Reihen’ von Fakten möglich ist. (Philippi, 114ff.)

9. Die Analyse der Literatur als „eigentümlichen Sozialphänomens“ verlangte in Russland nach einer Verbindung von Marxismus und Formalismus. Die Relativität ästhetischer Normen blieb eine Feststellung im Rahmen des Systems ‘Literatur’; die theoretisch vorgezeichnete Einordnung dieses Systems in ein die gesamtgesellschaftliche Struktur beschreibendes durch konkret inhaltliche Analyse blieb aus.

Eine Antwort auf die Frage, was an der Literatur wesentlich sei (über ihre bloße Selbstdefinition hinaus) , was ihre spezifische Funktion im Leben, sucht man bei den Formalisten vergebens.

Fragwürdig bleibt auch die Annahme, im Bereich der Literaturwissenschaft ließen sich Theorien in einem quasi naturwissenschaftlichen Experimentier- und Beweisverfahren falsifizieren, von Verifikation ganz zu schweigen. (Philippi, 119ff.)

10. Im russischen Formalismus spielen die Begriffe Material, Verfahren (auch Kunstgriff genannt) und künstlerische Wahrnehmung eine grundlegende Rolle. Sehr vereinfacht kann man ihre kunsttheoretischen Anschauungen in folgender Weise zusammenfassen: Der Künstler verwandelt ein bestimmtes Material in eine Form, die vom Rezipienten als künstlerische wahrgenommen wird. Unter Material hat man alles zu verstehen, was der Formung unterliegt. In der Musik sind es z.B. die Klänge, die der Komponist nach gewissen Prinzipien anordnet, in der Malerei sind es die Farbtöne, in der Poesie die Worte, die der Künstler zu einer Form verarbeitet. Aber auch Ideen, Szenen aus dem Leben, ältere künstlerische Lösungen, sog. Formen, die Fabel, die Wahl der Motive oder des Helden können Material für den Künstler darstellen. (Sauerland, 138)

11. Die Art, wie das Material verwandelt wird, hängt nach den russischen Formalisten vom jeweiligen Konstruktionsprinzip ab. Dieses stellt jedes mal eine Antwort auf ein vorherrschendes Konstruktionsprinzip dar (man könnte es auch Technik nennen), das als selbstverständlich hingenommen wird. Die Antwort, d.h. das neue Konstruktionsprinzip, hat, wenn es einmal anerkannt worden ist, die Tendenz, sich auszubreiten, sich auch in anderen Bereichen der Kunst und Literatur durchzusetzen, was am Ende zu seiner Petrifizierung führt. (Sauerland, 138f.)

12. Den russischen Formalisten wurde immer vorgeworfen, sie würden völlig kunstimmanent argumentieren, sie seien wortwörtlich Formalisten. Die ersten, die so sprachen, waren die sowjetischen Marxisten. Hierbei nahm man den von den russischen Formalisten verwandten Begriff der künstlerischen Wahrnehmung nicht ernst. Es ist richtig, dass Sklovskij ihn in sehr zugespitzter Form in Umlauf gebracht hatte. Die Zuspitzung beruhte vor allem darauf, dass er von der Wahrnehmung im Alltag ausging, in dem man sich an alles derart gewöhnt, dass man es am Ende gar nicht mehr bemerkt. Die Wahrnehmung werde automatisiert. Es sei daher die Aufgabe der Kunst, uns die Dinge in einem neuen Licht sehen zu lassen, damit wir sie wieder wahrnehmen. Diese originelle Idee des „neuen Sehens“ durch Verfremdung ist insofern einseitig, als sie der Kunst eine Rolle zuweist, die sie haben kann, aber nicht immer hat: die Erkenntnis bestimmter Seiten des Lebens und die Erneuerung des Lebens. (Sauerland, 139f.)

13. Die russischen Formalisten haben aber auch später, d.h. nach Sklovskyjs Artikel Kunst als Verfahren von 1916, den Begriff der künstlerischen Wahrnehmung verwandt. Sie bezogen ihn nun vor allem auf das Konstruktionsprinzip, auf das technische Verfahren. Ein Kunstwerk wird deswegen künstlerisch wahrgenommen, weil es sich von anderen Werken formal abhebt. Eine bis dahin gewohnte Rezeption wird durch ein neues Werk plötzlich in Frage gestellt. (Sauerland, 140)

14. Der Anlass zur Entwicklung einer neuen Theorie, die etwa von 1915 an in Arbeitsgruppen in Moskau und Petersburg entworfen wurde, war zunächst das Unbehagen an der damals fast unumschränkt akzeptierten positivistischen Methode in der Literaturwissenschaft. Nach Auffassung der Formalisten erfasste der Positivismus nur einzelne Elemente in einem literarischen Text; was aber ein noch gravierenderer Einwand war: Er ging an dem Moment vorbei, welches erst das Literarische an literarischen Werken ausmachte, an der Literarität. Dieses spezifische Merkmal von Literatur sahen die Formalisten in der Form. Dieser Terminus bedeutet nicht: Dominanz formaler Elemente über inhaltliche, sondern die Einheit beider. Dem gemäß war ein Wort in einem literarischen Werk nicht mehr durch seine Zuweisung zu einer außerliterarischen Bedeutung zu interpretieren, sondern es wurde gesehen als Zeichen für jene Einheit, die ein Werk zu einem literarischen macht. Die Formalisten betrachteten ein literarisches Werk als autonomen Zeichenkomplex. Vorarbeiten zu einer dementsprechenden Neuorientierung der Literaturwissenschaft sahen sie in den Arbeiten von Ferdinand de Saussure und Edmund Husserl. (Strohmaier, 285)

15. Die einseitige Verweisfunktion eines Zeichens in einem literarischen Text wurde bald relativiert zugunsten der Lehre von der doppelten Verweisung: neben der Funktionalisierung von Zeichen auf den Kontext eines Werkes wurde eine Verweisfunktion des Zeichens auf den Bereich hin angenommen, dem es entstammte. Die Funktionalisierung eines Zeichens für ein literarisches Werk bewirkte nach der modifizierten formalistischen Theorie zweierlei: Entautomatisierung, d.h. Lösung des Zeichens aus seiner alltäglichen Funktion und deren Verfremdung.

Eine Ausarbeitung des formalistischen Ansatzes konnte von den Formalisten nicht vorgenommen werden, da sie sich mit ihrer Auffassung in starkem Gegensatz zu der herrschenden marxistischen Literaturtheorie befanden. (Strohmaier, 285f.)

16. Der Formalismus hält die Analyse der sprachkünstlerischen Gestaltungsmittel und ihrer geschichtlichen Entwicklung für das wichtigste, wenn nicht sogar für das einzige legitime Untersuchungsziel der Philologie. Der Formalismus legt großen Wert auf wissenschaftliche Objektivität und vermeidet deshalb nach Möglichkeit inhaltliche Interpretationen, in die ja fast zwangsläufig ästhetische und ethische Werturteile mit einfließen. Ein Formalist würde also z.B. möglichst exakt beschreiben, wann die erlebte Rede zum ersten Mal in der Epik erscheint, wie sie sprachlich realisiert wird, in welchen Variationen sie vorkommt und bei welchen Autoren sie besonders häufig erscheint. Warum dies so ist, würde der Formalist jedoch nicht mehr zu erklären versuchen, da sich eine derartige Frage nur auf der Basis von Deutungen beantworten läßt, die ein gewisses Maß an subjektiver Bewertung beinhalten und die deshalb mit dem Wissenschaftsideal des Formalisten nicht zu vereinbaren sind. (Schneider, 217)

17. Allerdings ist hierbei einzuräumen, dass ein ganz strenger, wertungsfreier Formalismus kaum zu realisieren ist, da jede Textanalyse auf unausgesprochenen Vorentscheidungen und Werturteilen beruht. Ob die erlebte Rede überhaupt ein lohnenswerter Untersuchungsgegenstand ist und welche (in der Regel kanonischen) Texte ich einer Analyse dieses Gestaltungsmittels zugrundelege, kann ich nur auf der Basis ästhetischer und pädagogischer Prämissen entscheiden. Durch die Hintertür kommen also auch beim strengen Formalisten immer wieder subjektive Wertungen mit ins Spiel. (Schneider, 217f.)

18. Dies zeigte sich deutlich bereits in der Gründungsphase des Formalismus, als Literaturwissenschaftler wie Sklovskij und Tynjanov ihre Analysekategorien besonders auf jene Literaturformen des frühen 20. Jahrhunderts zuschnitten, in denen die ontologische oder die semiotische Emanzipation eine herausragende Rolle spielten (Futurismus, Dadaismus). Im Hinblick auf die zeitgleiche Verfestigung und institutionelle Etablierung des Realismus innerhalb der marxistischen Ästhetik und Kulturpolitik implizierte der Formalismus also eine indirekte Stellungnahme gegen derartige Verfestigungstendenzen.

In der deutschen Literaturwissenschaft gibt es gleichartige Phänomene, was besonders die Geschichte der Germanistik nach 1945 illustriert, in der die Konzentration auf politisch und weltanschaulich angeblich neutrale sprachkünstlerische Untersuchungsaspekte bei den Vertretern der sog. werkimmanenten Interpretation ganz deutlich als Ausdruck einer Abkehr von jedweder Ideologie erscheint. (Schneider, 218)

19. Wo der Formalismus seine verdeckten politischen Implikationen nicht offen legte, konnte er also zu einem Refugium für jene Philologen werden, die aufgrund geschichtlicher Erfahrungen oder eigener Verfehlungen eine Haltung größtmöglicher Neutralität einnehmen wollten. Trotz dieser problematischen Neigung zur Pseudoobjektivität hat der Formalismus jedoch große fachgeschichtliche Verdienste, da er eine nützliche Ausdifferenzierung und Präzisierung zahlreicher Analysekategorien erbrachte. Da er das Definitionskriterium der anspruchsvollen künstlerischen Sprachgestaltung besonders betont, arbeitet er jedoch mit einem relativ eng gefassten, qualitäts- und kanonzentrierten Literaturbegriff, der für Trivialliteratur, Sachbücher u.dgl. in der Regel wenig Raum lässt. (Schneider, 218)

20. Mit der Gründung des Moskauer Linguistenkreises im Jahre 1915 und der Gesellschaft für die Erforschung der poetischen Sprache in Petersburg im Jahre 1916 entstehen zwei Gruppen junger Linguisten und Literaturforscher, die einen siegreichen Sturm auf die traditionelle Philologie und gleichzeitig auf die religionsphilosophische, mit dem Symbolismus eng verbundene Literaturkritik antreten. (Meyer, 43)

21. In Sklovskijs Aufsatz Die Kunst als Verfahren erfährt das Prinzip der Verfremdung seine erste klassische Formulierung. Mit der Verfremdung, d.h. dem absichtlichen Fremd- und Künstlich-Machen der Literatur, hängt der Begriff der Entblößung der Verfahren zusammen, die zu einer ‘Entautomatisierung’ der sprachlichen Mittel führt, wodurch die Literaturgeschichte zu einer Kette von Automatisierungen und Entautomatisierungen wird. (Meyer, 43)

22. Die weitere Entwicklung des russischen Formalismus zeichnet sich durch eine Abschwächung der ‘Entgegenständlichung’ der Kunst und ein zunehmendes Interesse für die Systemhaftigkeit sowohl des Ensembles der Verfahren als auch des Verhältnisses der literarischen ‘Reihe’ zu anderen ‘Reihen’ (Biographie, Geschichte, Psychologie usw.) aus. Im Vordergrund steht hier Tynjanov, der 1921 eine Theorie der Parodie vorlegt und damit die ersten Ansätze zu einer formalistischen Theorie der literarischen Evolution liefert. Tynjanov geht von der Vorstellung einer ‘dominanten’ Reihe aus, die die übrigen ‘deformiert’ und damit die literarische Evolution vorantreibt. Da die Konzeption der ‘Dominante’ automatisch eine Hierarchie in die Reihen bzw. Verfahren einführt, vollzieht Tynjanov somit auch die ersten Schritte in Richtung des strukturalistischen Systemdenkens. Oft wurde diese Entwicklung des russischen Formalismus ignoriert. (Meyer, 44)

23. Der russische Formalismus steht in engem Zusammenhang mit dem nach 1905 einsetzenden Übergang vom Symbolismus zum Futurismus in der russischen Dichtung und Kunst. Die radikale Absage des frühen russischen Formalismus an den unmittelbaren Sinnbezug des dichterischen Wortes, die von den russischen Futuristen geteilt wird, kann man u.a. als Reaktion auf die metaphysischen Positionen und das Korrespondenzdenken der Dichter und Literaturkritiker des Symbolismus deuten.

Als geistige Väter des russischen Formalismus werden der Philosoph Edmund Husserl (1859-1938) und der Linguist Ferdinand de Saussure (1857-1913) erwähnt, wobei direkte Bezüge zu beiden angezweifelt werden. (Meyer, 44)

24. Die Absetzung einer systematischen von einer historischen Betrachtungsweise prägte schon Saussures berühmten Cours de linguistique générale (1916). Diese Grundschrift des linguistischen Strukturalismus unterscheidet in der allgemeinen Erscheinung menschlicher Sprachfähigkeit („langage“) zunächst das Saussure vor allem beschäftigende abstrakte Regelsystem Sprache („langue“) und den jeweiligen konkreten Sprechakt („parole“), der das überindividuelle Regelsystem im jeweiligen Einzelfall individuell anwendet und aktualisiert. Sausssure richtet sich in seiner Analyse der „langue“ gegen die romantisch inspirierte Sprachforschung, die das ‘Wesen’ der Sprache vor allem aus ihrer Entstehung zu erklären suchte. Er unterscheidet darum zweitens die Diachronie, das historische Werden der Sprache, von der Synchronie, dem zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Sprachzustand im Sinne des regelhaften wechselseitigen Verhältnisses gleichzeitiger sprachlicher Gegebenheiten. Dieser Gliederung entsprechen zwei verhältnismäßig eigenständige Teilbereiche der Sprachwissenschaft, die historisch-’diachronische’ und die systematisch-’synchronische’ Linguistik.

Sprachliche Erscheinungen fasst Saussure durchweg als Zeichen auf, die sich – aufgrund einer grundsätzlich zwar beliebigen, tatsächlich aber durch Konventionen gleichsam vertraglich geregelten und daher in der Synchronie unverrückbaren – wechselseitigen Zuordnung  zusammensetzen aus mentaler Vorstellung und artikulatorisch umgesetztem Lautbild. Semiologisch (also ‘zeichentheoretisch’) vollziehen sich diachrone Prozesse stets als Veränderung im Verhältnis zwischen diesen Bestandteilen von Zeichen.

Die Beziehungen zwischen verschiedenen Zeichen können entweder paradigmatisch oder syntagmatisch sein. Während syntagmatisch verbundene Zeichen durch gemeinsame Anwesenheit (Präsenz) im Satz charakterisiert sind, ist die paradigmatische Beziehung eine der Abwesenheit (Absenz): Von den im sprachlichen Paradigma wie im Gedächtnis des Sprechers ‘kopräsenten’ Elementen ist im konkreten Satz nur eines anwesend, alle anderen sind abwesend. (Grübel, 387f.)

25. Die Formalisten sahen es als ihr Ziel an, die Literatur nicht aus außerliterarischen Gegebenheiten oder Regeln herzuleiten – etwa der Geistes- und Gesellschaftsgeschichte, der Autorenbiographie oder Autorpsychologie –, sondern ihre Besonderheit, ihre im Werk gegebene ‘Literarizität’ zu erfassen. (Grübel, 388)

26. Die Wiederentdeckung und Erforschung der russischen formalistischen Schule begann in den fünfziger Jahren mit der bahnbrechenden Studie von Victor Erlich. Im deutschsprachigen Raum lagen die Höhepunkte ihrer Wirkung in den späten sechziger und in den siebziger Jahren. (Grübel, 389)

27. Beim formalistischen Denken lassen sich zwei Pole unterscheiden: einerseits der poeto-linguistische, der an den Gesetzmäßigkeiten der literarischen Rede interessiert war und sie im Rahmen einer Abweichungs-Poetik absetzte gegen die andersartigen Regeln unterworfene praktische Sprache, andererseits der literarisch-ästhetische Pol, dessen Verfechter die ästhetische Wirkungsweise künstlerischer Erscheinungen als Ausgangspunkt der Erforschung von Sprachkunst, bildender Kunst und Filmkunst bestimmten. (Grübel, 389)

28. Sklovskij bestimmt das Fremd-Machen des Materials als Voraussetzung  einer ästhetischen Wahrnehmung, die er emphatisch „Neues Sehen“ nennt. Diese Auffassung des Ästhetischen ist eine Form neuzeitlicher Innovationsästhetik, die auf Konzepte der Romantik zurückgeht.

Eine wichtige russische Quelle für die Formale Schule war Veselovskijs Evolutionsmodell der Sprache: Im „Kampf ums Dasein“ behaupten sich demnach sprachliche Erscheinungen mit gesteigerter Expressivität – also Ausdrücke, deren normbrechende Individualität die Neigung zur normsetzenden  Typisierung besiegt. Diese Steigerung der Ausdruckskraft könne dem drohenden Vergessen der ursprünglich-’konkreten’ Bedeutung, könne dem Konventionalisieren und Automatisieren der Aufnahme sprachlicher Einheiten gegensteuern, und es könne damit dem Bedürfnis der am sprachlichen Austausch Beteiligten nach Sensibilisierung, nach Intensivierung des Lebensgefühls sowie nach Variation des Wahrgenommenen genügen. Die russischen Formalisten haben diesen linguistischen Entwurf wahrnehmungspsychologisch verallgemeinert und die stetige Erneuerung zum Spezifikum der Sprache der Literatur erklärt. (Grübel, 390)

29. Weitere Impulse empfing die Formale Schule schließlich aus der zeitgenössischen Bildenden Kunst. Seit den zehner Jahren hatten Kubisten, Futuristen und abstrakte Maler die künstlerischen Zeichen aus ihrer normativen Bindung an eine außerkünstlerische Wirklichkeit befreit: Sie schufen Kunstwerke nicht länger als von sich selbst absehende und fortweisende Zeichen, sondern als Erscheinungen von Eigenwert, die eine eigene Wirklichkeit herstellen und in den Umgang mit Wirklichkeiten selbstreferentiell eingreifen. Im Einklang damit forderte Sklovskij von der Literatur, die „Wahrnehmung“ der Dinge und Ausdrücke durch die Erneuerung des Wortes zu erneuern, „den Stein wieder steinern zu machen“ – und zwar kraft der „Verfremdung“ der Dinge und einer mit ihr einhergehenden „Erschwerung“ der Form. Die Kunst sollte sich so dem zweckrationalen Prinzip der Ökonomie der Mittel widersetzen. Als Beispiele dienen das von der Zentralperspektive gelöste Bildzeichen in der kubistischen und abstrakten Kunst sowie das seines Kontextes beraubte Wort in der Sprachkunst des Futurismus. Syntaktisches Modell für die Deformation des sprachlichen Materials ist die Verschiebung von Wortgrenzen; Ausdrücke aus konventionellen Realitäts-, Bedeutungs- oder Bildschemata werden in andere Ordnungen verlagert. (Beispiel: „meine weisheit ist eine binse  schneide dich in den Finger damit“; hier wird das Bild beim Wort genommen.) (Grübel, 391)

30. Hauptkategorie der frühen Phase des Formalismus ist die Analyse von „Kunst als Verfahren“, als poetische Bestimmung einzelner sprachlicher Ausdrücke, die in dieser Anfangszeit isoliert betrachtet wurde. Der künstlerische Text erscheint so zunächst als „Summe der Verfahren“, mit denen das unkünstlerische Material bearbeitet ist.. Dies gilt auch für die von Sklovskij 1929 analysierte „Sujetfügung“ in der Prosa.

Den Formalisten schwebte vor, die in der Ästhetik des Realismus vorherrschende mimetische Motivation der Sprache abzulösen und das Verfahren, z.B. durch seine Motivierung, bloßzulegen. Nicht von der Wahrscheinlichkeit dargestellter äußerer Wirklichkeit soll das Wort überzeugen, auch nicht symbolisch auf eine ‘höhere Wirklichkeit’ verweisen, sondern kraft des Verfahrens Leser und Zuhörer zur „Einstellung auf den Ausdruck“ bewegen, zur Wahrnehmung des Mediums ‘poetische Rede’, und es soll dadurch seine Selbstbezüglichkeit enthüllen und wirksam machen.

Die Grundbegriffe ‘Verfahren’ und ‘Machen’ nehmen im Einklang mit dem technischen Zeitalter demonstrativ Abschied von überkommenen Dichterbildern: Der Autor der Avantgarde und der Formalisten ist Erfinder, Techniker und Konstrukteur. (Grübel, 392)

31. Der paradigmatische Wortentwurf des frühen Formalismus zielt auf die Literarizität als das Kennzeichen derjenigen Texte, die das Verfahren – kraft der Bildung von Parallelismen und Verschiebungen – auf der Ebene des einzelnen Ausdrucks entblößen und damit alle anderen Elemente des Werks deformieren und zum bloßen Material abwerten. (Grübel, 393)

32. In einem zweiten Schritt haben die russischen Formalisten die poetische Paradigmatik des „Kunstgriffs“ ergänzt durch die Syntagmatik der poetischen Konstruktion. Das Verfahren der Isolation von Wörtern aus ihrem Kontext, das zunächst nur die additive Reihung der einzelnen Kunstgriffe kannte, wird erweitert um die Bestimmung ihrer Struktur und Funktion in „konstruktiven Reihen“ und kommunikativen Zusammenhängen.

In der bedeutendsten verstheoretischen Studie des Formalismus hat Tynjanov syntaktische Wechselbeziehung und dynamische Form als grundlegende Momente der poetischen Rede bestimmt. Es geht nun um die Hierarchie der Verfahren: Einheit und Dichte der Verszeile, die nun anstelle des Wortes zum Grundelement der Versrede erhoben wird, dynamisieren als konstruktives Prinzip, als die alle anderen Kunstgriffe deformierende Verfahrensdominante, jedes Wort im Kontext der Versreihe und verleihen ihm seine lexikalische Tonalität. Die Dynamik des Verswortes wird hergeleitet aus seiner im Vers gestärkten Selbständigkeit, seiner Äquivalenz mit benachbarten Wörtern sowie dem Einwirken seiner rhythmischen Bedeutung auf seine Semantik.  (Grübel, 394)

33. Mit der Bestimmung des „literarischen Faktums“ wird das Redegeschehen nun kulturtheoretisch, durch die Rekonstruktion der „literarischen Evolution“ kulturhistorisch und mit der Erfassung des literarischen Alltags kultursoziologisch untermauert. Das Forschungsinteresse wendet sich nun von der konstitutiven Wirkung der Einzelverfahren und der sinnlich wahrnehmbaren Oberfläche ihres sprachlich-literarischen Substrats ab und richtet sich auf die bestimmende Kraft des übergeordneten konstruktiven Faktors. Ziel dieser Umorientierung ist eine systematische Diachronie der literarischen Entwicklung. Die „konstruktive Funktion“ meint den Bezug eines jeden Elementes auf die anderen Elemente sowie auf das Gesamtsystem. Diese Funktion setzt als Ergebnis des Verhältnisses zwischen den einzelnen Textelementen und dem Gesamttext bereits den Entwurf des Kunstwerks als eines funktionalen Systems voraus. Diese innere Systemhaftigkeit des Kunstwerks wird ergänzt durch seine „Autofunktion“, den Wechselbezug der jeweiligen Textelemente zu anderen Sprachen und anderen kulturellen Reihen. (Grübel, 394f.)

34. Die Evolution der literarischen Systeme vollzieht eine Systemablösung in Etappen; sie führt zum stufenweisen Abstoßen konventionalisierten literarischen Materials und überschreitet mit der Emanzipation der literarischen Funktion in den Alltag hinein immer wieder die Grenzen zu anderen kulturellen Funktionen. (Grübel, 395)

35. Die russischen Formalisten begründen mit ihrem Konzept eine ganz neue literarische und literaturwissenschaftliche Richtung. So entstehen nach 1915 neue Auffassungen von Literatur, die in expliziten Abgrenzungsbewegungen gegenüber der Soziologisierung und Psychologisierung des Literaturbegriffs durch den Positivismus auf der einen Seite und durch die Hermeneutik in der Nachfolge Diltheys auf der anderen begründet werden. Literarische Texte sollen nun in ihrer Literarizität selbst zum Hauptgegenstand der Betrachtung werden. (Baasner, 107)

36. Die russischen Formalisten propagieren einen Begriff von Kunstwerk, der auf Abtrennung von allem Äußeren, auf Selbständigkeit im Rahmen eigener Prinzipien sowie generell auf einer Vorstellung von ästhetischer Unverwechselbarkeit beruht: Kunst sei nur in Bezug auf sie selbst zu rezipieren und folglich auch nur in dieser Perspektive wissenschaftlich zu untersuchen. Das Interesse richtet sich dabei auf den Text, genauer gesagt auf seine sprachliche Ausführung, er wird aufgefasst als sprachliches Material, das durch eine jeweils im Einzelfall vorgenommene Organisation charakteristische Ausprägungen erhält. Die in ihm enthaltene dynamische Beziehung zwischen Form (die im Vordergrund steht) und Inhalt wird zum Gegenstand der immanenten formalistischen Analyse. Besonderes Interesse erfährt die kunstspezifische Abweichung des Materials und seiner Organisation vom Alltagsgebrauch (Ablösung vom ‘Automatismus’ der Gewohnheit). Inszeniert wird die Irritation; leitende Idee ist die Verfremdung der eingefahrenen Wahrnehmung durch die Kunst und in ihrer Folge durch die Kunstwissenschaften. Die wechselseitige Beeinflussung von literarischer Praxis, Literaturkritik und -wissenschaft ist konstitutiv; im formalistischen Paradigma entwickelt sich die wissenschaftliche Untersuchung in Abhängigkeit von der künstlerischen Innovation. Gegenstandstheorie und Methoden werden in ihren Grundbegriffen und Zielen von den avantgardistischen zeitgenössischen Kunstströmungen angeregt (Impressionismus, Futurismus, Kubismus). (Baasner, 107f.)

37. Der R.F. ist gekennzeichnet durch die enge Kooperation von Linguisten und Lit.wissenschaftlern und steht am Beginn der Entwicklung der Linguistischen Poetik am Anfang dieses Jh.s. Die Lit.wissenschaftler des R.F. sahen unter der Vernachlässigung außerliterar. Faktoren wie z.B. literar. Milieu und sozialhistorischem Kontext Poesie und Lit. als genuin sprachliche Phänomene an und orientierten sich daher an der zeitgenössischen Linguistik. Die Linguisten ihrerseits sahen in der Dichotomie von praktischer Sprache und poetischer Sprache einen Beleg für die funktionale Sprachtheorie, die von unterschiedlichen Sprechweisen ausging.Die poetische Sprache und nicht einzelne literar. Werke wurde somit zum Forschungsgegenstand der russ. Formalisten. Daher darf der F. auch nicht mit der Werkimmanenten Interpretation oder dem New Criticism kurzgeschlossen werden. Denn die Textbezogenheit und Werkanalysen der russ. Formalisten blieben weder Selbstzweck noch führten sie zu autonomen Kunstwerkvorstellungen, sondern sie zielten auf strukturelle Gesetzmäßigkeiten ab, die für die Literarizität von Texten verantwortlich gemacht wurden. (Barsch, 472)

38. Ein weiteres Charakteristikum des R.F. war sein erkenntnistheoretisches bzw. wissenschaftstheoretisches Interesse. Theorie wird als wissenschaftliches Werkzeug und nicht als dogmatisierte Ideologie begriffen. (Barsch, 472)

39. Die Tätigkeit der russ. Formalisten kann grob in drei Phasen eingeteilt werden: (a) Die erste Phase von 1915 bis 1920 ist gekennzeichnet durch einen intensiven interdisziplinären Dialog von Linguisten und Lit.wissenschaftlern. Der Gegenstand gemeinsamer Forschungsinteressen war die poetische Sprache. Mit dem Begriff der poetischen Sprache wurde der Versuch unternommen, Lit. von Nicht-Lit. abzugrenzen, d.h. die Dichotomie von poetischer und praktischer Sprache diente als Mittel zur Abgrenzung eines genuin lit.wissenschaftlichen Gegenstandsbereichs.

(b) Die zweite Phase (1921-1926) bildet die produktivste Zeit des R.F. Im Fokus der Arbeiten stand häufig die Frage nach dem ‘Machen’ eines Textes. In diese zweite Phase fällt 1924 mit L. Trotzkijs Lit. und Revolution, das ein ganzes Kapitel dem R.F. widmet, ein erster Schatten auf die Arbeit der russ. Formalisten. Trotzkij und später P. Medvedev kritisieren die Reduktion von Lit. auf Sprache und die Ausblendung des sozialhistorischen Kontextes bei der Erforschung literar. Phänomene.

(c) Im letzten Abschnitt von 1927-1930 gehen die russ. Formalisten auf die vehemente Kritik ein, indem sich Tynjanov z.B. mit Fragen der literar. Evolution und dem Problem der Relation von Gesellschaft und Lit. auseinandersetzt. (Barsch, 473)


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