5.02 Die wichtigsten Ansätze
1. Das Verständnis von literarischen Texten wie von Kunstwerken
überhaupt setzt stets eine Art von Verstehen voraus, das auf Personen bezogen
ist: das Verstehen von Handlungen und
das Verstehen von Ausdruck. Die
Handlung einer Person verstehen heißt erklären können, was jemand tut, wie er es
tut oder warum er es tut; den
Ausdruck (etwa eines Gesichtes oder einer Gebärde) verstehen heißt erklären
können, was jemand fühlt oder warum er es fühlt. Dass diese beiden
Arten des Verstehens eine notwendige Voraussetzung für jedes Verständnis
literarischer Texte darstellen, hat drei Gründe: Zum einen kommen in den
meisten literarischen Texten Figuren vor, deren Handlungsweise und Gefühlsäußerungen
wir in irgendeiner Weise nachvollziehen müssen, wenn wir den Text als ganzen
verstehen wollen; zum anderen kann der Text selbst Gefühle oder Erlebnisse
seines Verfassers zum Ausdruck bringen, so wie dies häufig etwa bei Gedichten
der Fall ist; und zum dritten ist jeder literarische Text selbst das Ergebnis
einer Handlung seines Autors. (Rühling, 479) 2. In bezug sowohl auf den Ausdruck
als auch auf Handlungen gibt es eine besondere Art des Verstehens, die man als psychologisch bezeichnen kann. Dabei
handelt es sich um ein Verstehen, das erstens nach dem ‘Warum’, dem Grund für
die Handlung oder für den Ausdruck fragt und sich zweitens bei der Erklärung
auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Psyche bezieht. Zwar ist
demnach nicht jede Art von Ausdrucks- oder Handlungsverstehen als psychologisch
zu bezeichnen, doch dieses besitzt für unser kognitives und emotionales
Verhältnis zu unseren Mitmenschen einen eminenten Stellenwert. Das gleiche gilt
prinzipiell auch für unser Verhältnis zu literarischen Texten und den in diesen
vorkommenden Personen, so dass die Behauptung gerechtfertigt erscheint, kein
Interpret eines literarischen Textes komme „ohne psychologische Termini aus“
und müsse „wohl oder übel Psychologie irgendwelcher Art betreiben“ (von Matt
1972, 46). (Rühling, 479) 3. Freilich ist mit „Psychologie
irgendwelcher Art“ hier zunächst noch nichts weiter als normale
Menschenkenntnis gemeint, wie wir sie durch alltägliche Erfahrungen erwerben.
Hilfe bei der Psychologie als der ‘Wissenschaft vom Menschen’ zu suchen wird hingegen
erst dann ratsam erscheinen, wenn uns diese Menschenkenntnis im Stich lässt und
wir beispielsweise die Handlungsweisen oder Gefühlsäußerungen der im Text
vorkommenden Personen nicht mehr ohne weiteres verstehen. Die Erklärung
komplexer Gefühlsäußerungen und Handlungen aber ist nun fast ausschließlich
Domäne der Psychoanalyse oder der Tiefenpsychologie, so dass
Literaturpsychologie im hier erläuterten Sinne als Erklärung von auf den ersten
Blick unverständlichen Handlungen und Gefühlsäußerungen als nahezu identisch
mit Literatur-Psychoanalyse aufgefasst werden kann. (Rühling, 479f.) 4. Im folgenden werden unter
‘Tiefenpsychologie’ oder ‘Psychoanalyse im weiteren Sinne’ alle psychologischen
Strömungen verstanden, die unbewußten
Wünschen und Gefühlen einen zentralen Platz bei der Erklärung menschlicher
Handlungen und Gefühlsäußerungen einräumen. Als ‘klassische Psychoanalyse’
hingegen wird ausschließlich jene tiefenpsychologische Richtung bezeichnet, die
sich seit ihren Anfängen bis heute auf Sigmund Freud als ihren Gründer und
wichtigsten Theoretiker beruft. Obwohl alle tiefenpsychologischen Richtungen
ursprünglich auf Freud zurückgehen, haben sich einige seiner Schüler im Laufe
der Zeit von ihm abgewandt und eigene Theorien entwickelt, die den
Grundüberzeugungen Freuds in wesentlichen Punkten widersprechen. Insbesondere
zwei dieser Richtungen haben Bedeutung für die Literaturpsychologie erlangt: die
„analytische Psychologie“ Carl Gustav Jungs und die „strukturale Psychoanalyse
Jacques Lacans. (Rühling, 480) 5. Im Mittelpunkt steht die Frage,
was und auf welche Weise tiefenpsychologische Theorien zum Verständnis
literarischer Texte beitragen können. Zwei Arten eines solchen Bezugs lassen sich unterscheiden. Die eine
besteht in der Anwendung
tiefenpsychologischer Theorien auf den Text: Mithilfe tiefenpsychologischer
Konzepte werden die Handlungen und Gefühlsäußerungen der im Text vorkommenden
fiktiven Figuren, des Autors oder des Lesers erklärt, also die Personen einer
‘Psychoanalyse’ unterworfen. Die andere besteht in einer spezifisch
tiefenpsychologischen Kunst- und
Literaturtheorie: Mithilfe tiefenpsychologischer Konzepte wird die
psychologische Funktion von Kunst und Literatur für Autor und/oder Leser
erklärt. (Rühling, 480f.) 6. Am Anfang der
Literaturpsychoanalyse steht die Beschäftigung mit den im Text vorkommenden
Gestalten. Freud rechtfertigt sein Vorgehen, fiktive Gestalten „ in allen ihren
seelischen Äußerungen und Tätigkeiten“ grundsätzlich so zu behandeln, „als
wären sie wirkliche Individuen und nicht Geschöpfe eines Dichters“ (Freud 1907,
41), mit dem Umstand, dass Psychoanalytiker und Dichter „wahrscheinlich aus der
gleichen Quelle“ schöpften, „das nämliche Objekt“ bearbeiteten, „ein jeder von
uns mit einer anderen Methode, und die Übereinstimmung im Ergebnis scheint
dafür zu bürgen, daß beide richtig gearbeitet haben“ (ebd., 82). (Rühling, 481) 7. Die Psychoanalyse literarischer
Gestalten kann „nomenklatorisch“ oder „explanatorisch“ verfahren (Wünsch 1977,
49f.). Nomenklatorisch heißt sie,
wenn Charakter oder Verhalten einer literarischen Figur gemäß der
psychoanalytischen Charakter- und Neurosenlehre klassifiziert werden, indem man
etwa Madame Bovary als eine ‘typische Hysterikerin’ diagnostiziert. Der
Erkenntniswert solcher diagnostischer Etikettierungen besteht darin, daß sich
aus ihnen Folgerungen über bestimmte unbewusste Motive und Wünsche der Figuren
ergeben, die nicht ausdrücklich im Text erwähnt werden, deren Kenntnis jedoch
die Handlungsweise der betreffenden Figuren verständlicher macht. Angenommen,
alle Hysterikerinnen litten an einer ödipalen Fixierung, die sich unter anderem
darin äußert, dass sie sich Phantasien von einem heldenhaften Märchenprinzen
als ihrem Ehemann hingegen, die in der Realität nicht einzulösen sind: dann
könnten wir, wenn wir davon ausgehen, dass Madame Bovary eine Hysterikerin ist,
verstehen, warum sie stets in einer Traumwelt lebt und auch durch ihre außerehelichen
Liebesverhältnisse nicht wirklich zufrieden zu stellen ist. Auch eine
nomenklatorische Verfahrensweise kann also erklärende Kraft haben. (Rühling,
481f.) 8. Eine explanatorische Analyse literarischer Figuren hingegen „erklärt de
facto, warum jemand etwas sagt oder tut“ (Wünsch 1977, 50). Eines der besten
Beispiele für ein solches Verfahren ist Freuds Analyse der Rebecca West aus
Ibsens Drama Rosmersholm, deren
Verhalten in der Tat jedem Leser Rätsel aufgibt. Freud deutet den Verzicht
Rebeccas auf die Heirat mit Rosmer als eine Selbstbestrafung für den Inzest mit
dem Vater. Eine Psychoanalyse literarischer
Gestalten wird sich grundsätzlich bei solchen Texten als besonders fruchtbar
erweisen, in denen das Verständnis bestimmter, auf den ersten Blick
rätselhafter Verhaltensweisen wesentlich ist für das Verständnis des Textes
selbst; und es ist daher nicht erstaunlich, dass es gerade Gestalten wie Hamlet
oder die Brüder Karamasow sind, die das Interesse der Psychoanalyse bereits
seit ihren Gründertagen erregt haben. Es besteht freilich ein Unterschied
zwischen der Psychoanalyse fiktiver Gestalten und derjenigen realer Personen:
Die Psychoanalyse fiktiver Gestalten kann sich stets nur auf die Informationen
stützen, die der Text zur Verfügung stellt; und wenn diese Informationen
aufgrund der prinzipiellen Indeterminiertheit fiktiver Gestalten nicht
eindeutig sind, so wie es fast immer der Fall ist, dann bleibt die Analyse
notwendigerweise spekulativ und entzieht sich einer definitiven Überprüfung.
Bei realen Personen hingegen besteht jedenfalls grundsätzlich die Möglichkeit,
Erklärungshypothesen über ihr Verhalten zu verifizieren oder zu falsifizieren.
Mit anderen Worten: Hypothesen, die das Verhalten und die Gefühlsäußerungen
realer Personen erklären, sind empirische Aussagen, solche über literarische
Personen hingegen nicht; und dieser Unterschied macht die Grenze von Freuds
Methode sichtbar, fiktive Gestalten so zu behandeln, „als wären sie wirkliche
Individuen und nicht Geschöpfe eines Dichters“. (Rühling, 482f.) 9. Psychoanalytische Kunst- und Literaturtheorie. Der originellste
Beitrag der Psychoanalyse zum Verständnis von Kunst und Literatur ist ihre
Theorie von der allgemeinen psychologischen
Funktion des Kunstwerks für Autor und Leser. Erst diese Theorie nämlich
gestattet es, statt lediglich einzelner Aspekte das ganze Kunstwerk
psychoanalytisch zu betrachten. Freud fasst den literarischen Text
in Analogie zum Traum auf und kann daher von seinen bereits früher formulierten
Prinzipien der Traumdeutung ausgehen. Danach ist jeder Traum die Erfüllung
unbewusster, ursprünglich anstößiger Wünsche, die in diesem durch die
„Traumarbeit“ entstellt zum Ausdruck gebracht werden, so dass sie vom Träumer
nicht mehr unmittelbar erkannt werden können. Als Ausdruck einer
Wunscherfüllung gelten Freud dabei allerdings auch Angst- und Alpträume, da in
ihnen Wünsche des Über-Ichs, also des Gewissens befriedigt würden. Die
Traumarbeit hat die Funktion, die Wünsche einerseits zwar zu artikulieren,
ihnen andererseits aber das Anstößige zu nehmen und auf diese Weise etwaige
Skrupel des Träumers zu umgehen. Der „manifeste Trauminhalt“ ist somit aufgrund
der beiden Herren – anstößigen Wünschen und Skrupeln des Träumers – dienenden
Traumarbeit das Ergebnis einer Kompromissbildung. (Rühling, 485f.) 10. Diese Hypothesen werden nun von
Freud auf den literarischen Text, ja auf jedes Kunstwerk überhaupt übertragen.
In einem ersten Schritt interpretiert er dazu den Tagtraum und „das
Phantasieren“ als traumanalog: Der wichtigste Unterschied zum Nachttraum
besteht lediglich darin, dass der Wunsch, der im Tagtraum zum Ausdruck kommt,
häufig nicht für den Phantasierenden selbst, sondern nur für seine soziale
Umgebung verpönt und damit „ich-synton“ ist; obwohl der Tagträumer seine
eigenen Wünsche durchaus anerkennt, sucht er sie vor anderen zu verbergen und
schämt sich ihrer. Im einem zweiten Schritt wird dann der literarische Text als
Tagtraum aufgefasst: Das Kunstwerk ist demnach nichts weiter als die Erfüllung
eines ursprünglich verpönten Wunsches, dessen „egoistischer“ und nicht zuletzt
bereits dadurch für die andere anstößiger Charakter durch „Abänderungen und
Verhüllungen“ gemildert wird (Freud 1908, 179), die denen der Traumarbeit
entsprechen. (Rühling, 486) 11. Freud sieht selbst, dass die
Analogie dieser „Abänderungen und Verhüllungen“ zu den Entstellungen der
Traumarbeit noch nicht ausreicht, um verständlich zu machen, warum wir bei der
Lektüre eines literarischen Textes nicht nur nicht abgestoßen werden, sondern
im Gegenteil sogar „hohe, wahrscheinlich aus vielen Quellen zusammenfließende
Lust“ empfinden (ebd.). Zur Erklärung greift er auf Hypothesen zurück, die er
zuvor bereits für den Witz formuliert hatte. Der Dichter „besticht“ den Leser
zunächst „durch rein formalen, d.h. ästhetischen Lustgewinn“, der „eine[r] Verlockungsprämie oder eine[r] Vorlust“ entspricht (ebd.). Die
„ästhetische Lust“ am Text ist eine „Vorlust“, die dem Leser einerseits einen
Genuss an dessen formalen Qualitäten verschafft, andererseits aber zu einer
anderen und tieferen Art der Befriedigung allererst hinführt. (Rühling, 486f.) 12. Diese tiefere Befriedigung sieht
Freud in einer „Befreiung von Spannungen in unserer Seele“. Diese lässt sich
als kathartischer Effekt auffassen, der auf der zeitweisen Bewusstwerdung von
ursprünglich anstößigen und daher unbewussten Wünschen beruht; dass dabei
Energien, die zur Unterdrückung dieser Wünsche notwendig waren, jedenfalls
zeitweise freigesetzt werden, trägt zusätzlich zum „Genuß“ am literarischen
Kunstwerk bei. Der literarische Text kann dieser
Theorie zufolge demnach als Darstellung einer Wunscherfüllung charakterisiert
werden, wobei die soziale Anstößigkeit des Wunsches 1. durch der Traumarbeit
analoge Mechanismen abgemildert wurde und 2. die Darstellung ihrem Leser Lust
verschafft, nämlich 2.1 Vorlust durch ihre rein formalen Qualitäten und 2.2.
eigentliche Lust durch „Befreiung von Spannungen in unserer Seele“. Diese Theorie Freuds ist in
mehrfacher Hinsicht kritisiert und, als Reaktion auf diese Kritik, modifiziert
worden (Rühling, 487) 13. Kritiklinie 1: „Biographismus?“ Impliziert Freuds Theorie
notwendigerweise eine biographistische Vorgehensweise, wie u.a. Adorno
behauptet? Der Vorwurf basiert auf dem Umstand, dass aufgrund von Freuds
Theorie die Möglichkeit besteht, den literarischen Text als nichts weiter denn
als ‘Material’ aufzufassen, in dem das Unbewusste des Autors zum Ausdruck kommt
und gemäß der Traumdeutung analogen Regeln dechiffriert werden kann. Vor allem
die ältere Literaturpsychoanalyse hat von dieser Möglichkeit reichlichen
Gebrauch gemacht und den Autor gleichsam auf die Couch gelegt. Ein
Musterbeispiel dafür ist die Edgar-Allen-Poe-Studie von Marie Bonaparte, in der
dem Autor von The Fall of the Hopuse of
Usher bescheinigt wird, er werde in der Geschichte dafür bestraft, „daß er
seiner Mutter untreu geworden ist, indem er Madeleine-Virginia liebt“
(Bonaparte 1981 [1933], 63). Gegen solche Studien läßt sich
vorbringen, dass ein biographischer Reduktioinsmus nichts zum Verständnis des
Werkes selbst beiträgt; vielmehr steht hier der Autor im Mittelpunkt des
Interesses, und der Text ist nur insofern von Belang, als er uns die Psyche des
Autors erschließt. Doch dieses Stehen bleiben beim Autor ist keine Konsequenz,
die sich aus Freuds Ansatz notwendigerweise ergeben würde. So wird z.B. bei Pietzcker der in
der Analyse herausgearbeitete psychische Konflikt des Autors (hier: Jean Paul)
als typisch für eine „objektiv“ bestehende historische Situation interpretiert,
bei der es sich um eine materiell-ökonomische, soziale, literaturhistorische
oder ideengeschichtliche Situation handeln kann. Die Psychoanalyse des Autors
dient so als Vorbereitung für eine historische Verortung des Autors und seines
Textes, deren literaturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinn weit über den eines
bloßen ‘Biographismus’ hinausgeht. (Rühling, 487f.) 14. Doch nicht einmal die
Psychoanalyse des realen Autors ist eine notwendige Konsequenz aus Freuds
Theorie, wenn man sich nämlich auf die Feststellung beschränkt, der
literarische Text gestalte in der von Freud beschriebenen Weise die psychischen
Konflikte eines vom Autor verschiedenen Erzählers. In einem Text können
psychische Erfahrungen dargestellt werden, ohen zu der Schlussfolgerung zu
verpflichten, diese seien auch die des Autors (von Matt 1974, 35) Der von einem
literarischen Text dargestellte psychologische Inhalt ist vielmehr
„prototypisch“ in dem Sinne, dass er überindividuelle Erfahrungen und
Verarbeitungsmechanismen repräsentiert (Wyatt 1976, 348). Eine solche Theorie
vermeidet, anders eine eine Psychoanalyse des realen Autors, die unübersehbaren
Schwierigkeiten, die in einer empirischen Überprüfung von Hypothesen über die
Psyche des realen Autors bestehen. (Rühling, 488f.) 15. Kritiklinie 2. Auch die These Freuds, der literarische Text sei als
ein „Tagtraum“ zu betrachten, ist vielfach kritisiert worden. Selbst wenn
literarische Texte ihren Ursprung in einer Phantasie oder einem Tagtraum ihres
Verfassers haben und es darüber hinaus plausibel erscheint, dass diese
Phantasie „dem Phantasieren dem Inhalt und der Struktur nach ähnelt“, so reicht
diese „Ähnlichkeit aber noch nicht aus, die formale, ästhetische, eigenständige
Qualität der Literatur damit hinreichend zu erklären“ (Wyatt 1976, 346). Ein
Grund dafür liegt darin, dass ein Tagtraum das Ergebnis spontaner
Phantasietätigkeit ist, während ein Kunstwerk zumeist erst aus einem komplexen
Bearbeitungsprozess hervorgeht, bei dem ästhetische, historische, soziale oder
intertextuelle Gesichtspunkte eine Rolle spielen, die mit der ursprünglichen
Phantasie des Autors in keinem Zusammenhang mehr zu stehen brauchen. Die
Vorstellung des Autors, welche Form sein Werk annehmen soll („opus-Phantasie“),
kann die Phantasie mit Ursprung in der
Psyche des Autors („Ich-Phantasie“) überlagern, ja dominieren (von Matt 1979,
200ff.) (Rühling. 489f.) 16. Darüber hinaus gibt es
Kunstwerke, denen keine Phantasie im Freudschen Sinne zugrunde liegen kann,
weil sie einem ganz anderen künstlerischen Konzept verpflichtet sind als jene,
die Freud als Paradigmen dienten. Dies sind solche, denen es gar nicht mehr um
den Ausdruck der künstlerischen Persönlichkeit geht, sondern beispielsweise um
eine Erweiterung des Kunstbegriffs. „Ready mades“ und „Concept Art“ sind dafür
Beispiele: Solche Kunstwerke lassen sich nicht mehr psychologisch im Sinne von
Freuds Theorie interpretieren, wenn man nicht ihren Sinn gänzlich verfehlen
will; hinter Marcel Duchamps „Fountain“ (einem vom Künstler signierten und
ausgestellten Pissoir) wird überhaupt keine Phantasie, kein ‘latenter’
Kunstgehalt mehr sichtbar, der dargestellt würde. (Rühling, 490) 17. Beide Einwände bestreiten
lediglich die Allgemeingültigkeit von Freuds Theorie, jeder literarische Text sei verursacht von oder Ausdruck einer
Phantasie, die ihn zur Analogie eines Tagtraums mache; sie bestreiten hingegen
nicht, daß es einige Texte geben mag,
die auf diese Weise gedeutet werden können. (Rühling, 490) 18. Kritiklinie 3. Beruht das Vergnügen an der ästhetischen Form auf
„Vorlust“? Schon von ästhetischem Vergnügen oder gar ästhetischer „Lust“ zu
sprechen ist äußerst fragwürdig, da die Wertschätzung, die wir gewöhnlich den
formalen Qualitäten eines Werkes entgegenbringen, kein Korrelat in einer
bestimmten Empfindung, einem bestimmten Gefühl zu haben braucht (Savile 1983,
99ff.). Hinter der Redeweise Freuds vom
„ästhetischen Lustgewinn“ verbergen sich denn auch zwei ganz unterschiedliche
Probleme: zum einen die Frage nach den psychologischen Gründen dafür, daß wir
die formalen Qualitäten eines literarischen Kunstwerks überhaupt schätzen und
zum anderen die Frage nach der psychologischen Funktion dieser formalen
Qualitäten im allgemeinen oder für ein bestimmtes Werk. Auf die erste Frage ist die
psychoanalytische Literaturtheorie bisher eher am Rande eingegangen. Walter Schönau
begreift als eine „Wurzel der ‘technischen Meisterschaft des Dichters [...] die
als sprachliche Funktionslust beibehaltene kindliche Freude am Spiel mit
den Klängen und semantischen Werten der Sprache“ (Schönau 1991, 27) Hinsichtlich der zweiten Frage
lassen sich mehrere Positionen unterscheiden, für die Freuds Konzepts der
„Vorlust“ keine wesentliche Rolle mehr zu spielen scheint. So behauptet Lesser,
dass die formalen Eigenschaften des Werks im Dienst des Über-Ichs stehen, das
sich durch Formstrenge zur Geltung bringt und so das Ich von bestehenden
Schuldgefühlen entlastet (Lesser 1970, 266). Die formalen Eigenschaften werden
aber z.B. auch als Ausdruck narzißtischer Allmachtsphantasien aufgefasst, da
sich in ihnen die absolute Herrschaft des Autors über seinen Stoff ausdrückt
(Sachs 1951, 49). Grundsätzlich stellt sich jedoch die
Frage, ob es möglich ist, die Funktion der formalen Eigenschaften eines
literarischen Textes insgesamt zu bestimmen, oder ob dies nicht vielmehr immer
nur in bezug auf ein bestimmtes Werk oder eine Gruppe ähnlicher Werke gelingen
kann. (Rühling, 490ff.) 19. Analyse des Lesers. Die emotionalen Reaktionen des Lesers auf ein
und denselben Text können bekanntermaßen ganz unterschiedlich ausfallen. Diese
vielfältigen Reaktionsweisen werden von der psychoanalytischen
Rezeptionstheorie untersucht, wie sie insbesondere von Norman N. Holland
ausgearbeitet worden ist. Eine solche Rezeptionstheorie muss noch nichts zum
hier ausschließlich interessierenden Verständnis des Textes beitragen. Das
ändert sich, wenn man die emotionalen Reaktionen des Lesers in Anlehnung an
entsprechende Phänomene im therapeutischen Prozess als „Gegenübertragung“
deutet, worunter ursprünglich die Reaktion des Therapeuten auf die
„Übertragung“ des Patienten verstanden wird. Als Übertragung bezeichnet man das
Phänomen, dass dem Therapeuten durch den Patienten eine bestimmte
Kommunikationsrolle zugeschrieben wird, die aus der Wahrnehmung des Therapeuten
durch den Patienten resultiert und von dessen unbewussten infantilen Phantasien
und Fixierungen geprägt ist; der Patient wiederholt also mit bezug auf den
Therapeuten bestimmte Interaktionsmuster, die er aus seiner eigenen Kindheit
übernommen hat. Die Gegenübertragung des Therapeuten
kann nun ihrerseits auf eigenen unbewussten Gefühlen und Wünschen basieren, die
durch infantile Phantasien und Fixierungen des Therapeuten geprägt sind. Für
den Erfolg des therapeutischen Prozesses ist es notwendig, dass der Therapeut
seine Gegenübertragung ständig aufmerksam beobachtet und analysiert, um
angemessene Reaktionen von durch seine eigene psychische Geschichte motivierten
zu unterscheiden. (Rühling, 483f.) 20. Wenn man nun Übertragung und
Gegenübertragung nicht nur auf den therapeutischen Prozess bezieht, sondern sie
als Phänomene zwischenmenschlicher Beziehungen des Alltags auffasst, dann kann
man den literarischen Text als eine Form der Übertragung interpretieren, durch
welche dem Leser implizit eine bestimmte Rezipientenrolle zugewiesen wird; die
Reaktionen des Lesers werden dann entsprechend als Form der Gegenübertragung
gedeutet. In Analogie zum therapeutischen Prozess ergibt sich dann für den
Interpreten als demjenigen, der sich in der ‘Therapeuten’-Rolle befindet, die
Notwendigkeit einer Gegenübertragungsanalyse und -kontrolle. Bei mangelhafter
Kontrolle der eigenen Gegenübertragung besteht insbesondere die Gefahr, daß die
Analyse des Textes unbewusst von Abwehrmechanismen
gegen die durch diesen im Interpreten hervorgerufenen Gefühle geleitet ist
(Pietzcker 1992, 28ff.) Ein Beispiel für Textanalysen als Form der Abwehr ist
die frühe Rezeption von Becketts Dramen: Sie zeigt, dass sich die Interpreten
offensichtlich gegen die durch diese Stücke bei ihnen hervorgerufenen Gefühle
der Leere und Sinnlosigkeit zur Wehr setzen mussten (Goeppert/Goeppert 1981, 92
und 103ff.) (Rühling, 484f.) 21. Die Gegenübertragung lässt sich
als Erkenntnisinstrument nutzen. Wenn die Lektüre eines Textes im Interpreten
zunächst etwa Widerwillen und Langeweile hervorruft („negative
Gegenübertragung“), dann kann dieser sich fragen, ob es zur Strategie des
Textes gehört, gerade diese Gefühle in ihm wachzurufen, und so etwa zu der
Erkenntnis gelangen, daß der Text Leere und Sinnlosigkeit darstellt. Gerade bei
Texten, mit denen man zunächst ‘nicht viel anfangen’ kann, ist eine solche
Gegenübertragungsanalyse unter Umständen von erheblichem heuristischen Wert, da
sie den Text aufzuschließen vermag. (Rühling, 485) 22. Die analytische Psychologie Carl Gustav Jungs. Jung wendet sich
entschieden gegen jede Analyse des Autors; sie sieht er als irrelevant für den
künstlerischen Gehalt des Textes an. Lediglich die Analyse literarischer
Gestalten und des Kunstwerks selbst lässt er gelten. „Das Wesen des Kunstwerkes
besteht nämlich nicht darin, daß es mit persönlichen Besonderheiten behaftet
ist [...], sondern daß es sich weit über das Persönliche erhebt und aus dem
Geist und dem Herzen und für den Geist und das Herz der Menschheit spricht.“
(Jung 1930, 94). Das Überpersönliche und
Überindividuelle sieht Jung in Symbolen
verkörpert, die auf das „kollektive Unbewußte“ verweisen. Dieses ist „nichts
als eine Möglichkeit, jene Möglichkeit nämlich, die uns seit Urzeiten in der
bestimmten Form der mnemischen Bilder oder, anatomisch ausgedrückt, in der
Gehirnstruktur vererbt ist“ (Jung 1920, 36). Es handelt sich also um archaische
Strukturen und Vorstellungen, wie sie insbesondere in den Mythen der Völker zum
Ausdruck kommen und die Jung daher auch „Archetypen“ nennt. Solche Archetypen
können sich im literarischen Text auch „in moderner Bildsprache verbergen“, so
dass „der Kampf der Drachen“ zum „Eisenbahnzusammenstoß“, „der Held, der den
Drachen erschlägt“, zum „Heldentenor am Stadttheater“ werden (Jung 1930, 91).
Sie sind als Symbole „Möglichkeit und Andeutung eines noch weiteren, höheren
Sinns jenseits unseres derzeitigen Fassungsvermögens“ (Jung 1920, 31). Dieser
„höhere Sinn“ bezieht sich nun auf die Sozialisations- und
Individuationsgeschichte des Menschen: Sozialisation bedeutet nämlich für Jung
eine Anpassung an bestimmte „Kollektivnormen“, in deren Vollzug andere Seiten
der Persönlichkeit abgespalten und nicht mehr wahrgenommen werden. Auf diese
Weise besteht die Gefahr einer Entfremdung von sich selbst, der nur durch
Bewusstwerdung und verstärkte Hinwendung zu diesen abgespaltenen
Persönlichkeitsteilen begegnet werden kann – einen Prozess, den Jung
„Individuation“ nennt. Die im Text vorhandenen archetypischen Motive und
Strukturen sind Symbole insofern, als sie auf jene Anteile verweisen, die in
einer bestimmten historischen Epoche aufgrund der Beschaffenheit des
„Zeitgeistes“ von den in ihr lebenden Menschen abgespalten wurden. (Rühling,
492f.) 23. Auf diese Weise wird der Dichter
zum Erzieher des Lesers wie des „Zeitgeistes“, der „es sozusagen jedem
ermöglicht [...], wieder den Zugang zu den tiefsten Quellen des Lebens zu
finden, die ihm sonst verschüttet wären“ (ebd., 38). Entsprechend wird auch der
Interpret zum Erzieher, der mit der Analyse des Werks auf die Defizite der
Epoche hinweist und Entwicklungen
anmahnt. Später lässt Jung den Dichter zum Erzieher auch „seines Volkes“
werden, dessen „seelische[s] Bedürfnis sich „im Werke des Dichters“ erfüllt
(Jung 1930, 97); das weist auf die anti-rationalistischen, anti-modernistischen
und prä-faschistischen Tendenzen hin, die sich bei Jung finden. Diese waren
indes kein Hindernis für die umfassende Rezeption seines Werkes vor allem in
den USA, wo die Textanalyse nach den Prinzipien der analytischen Psychologie
relativ weit verbreitet ist. (Rühling, 493) 24. Die strukturale Psychoanalyse Jacques Lacans. Lacan versucht mit
seinem Projekt einer „Rückkehr zu Freud“ die klassische Psychoanalyse mithilfe
der Zeichentheorie Saussures zu re-interpretieren, wodurch sie jedoch in
entscheidender Hinsicht modifiziert wird. Dies äußert sich insbesondere in
einem Vorgang, den man als ‘strukturalistische Allegorisierung’ bezeichnen
könnte. Während sich bei Freud Ausdrücke wie ‘Vater’ oder ‘Penis’ zunächst auf
konkrete Personen oder Körperteile beziehen, die eine bestimmte Rolle in der Entwicklung
des Kindes spielen, ist etwa der ‘Vater’ bei Lacan keine konkrete Person mehr,
sondern lediglich abstrakter Aktant in einem bestimmten strukturellen
Geschehen, ebenso wie der ‘Phallus’ keinen erigierten Penis mehr bezeichnet,
sondern Symbol ist für eine bestimmte Art von Erfahrung, die jede Person
notwendigerweise durchläuft. Diese Allegorisierung ist jedoch bei Freud bereits
angelegt, wenn auch keinesfalls in diesem Maße. (Rühling, 494) 25. Ferner übernimmt Lacan von
Saussure eine wichtige Prämisse, die er in einer auch für andere Strömungen des
20. Jahrhunderts typischen Weise radikalisiert: Die Sprache spielt eine
fundamentale, gleichsam transzendentale Rolle für jegliche Erkenntnis, da sie
diese ‘a priori’ strukturiert und damit bestimmt, wie wir die Wirklichkeit
überhaupt erfahren. Die so aufgefasste Sprache wird nun gerade in ihrer
transzendentalen Funktion für das Individuum psychologisch interpretiert, indem
Lacan die von ihm allegorisierten Begriffe Freuds auf sie anwendet. Auf diese Weise bekommt Lacans
Psychologie einen stark spekulativen, um nicht zu sagen: metaphysischen Zug,
der sie grundsätzlich von der klassischen Psychoanalyse unterscheidet. Während
diese nämlich von ihrem Anspruch her eine empirische
Theorie über die Psyche des Menschen, ihre Entwicklungen und Störungen ist,
lässt sich die strukturalistische Psychoanalyse Lacans eher mit der
„Fundamentalontologie“ Martin Heideggers vergleichen; überspitzt könnte man
sagen: Sie stellt eine Art ‘Fundamental’- oder ‘Transzendentalpsychologie’ dar
und damit eine in ihren Grundzügen eher apriorische
Theorie über die psychologische Verfasstheit des Menschen und die Rolle, welche
die Sprache für diese spielt.(Rühling, 494f.) 26. Lacan selbst hat, im Unterschied
zu Freud und Jung, keine eigene Kunst- und Literaturtheorie ausgearbeitet.
Dennoch eignet sich seine ‘Transzendentalpsychologie’ in besonderer Weise für
eine Anwendung auf literarische Texte. Denn aufgrund der Bedeutung, die sie der
Sprache beimisst, stellt sie eine „Kongruenz zwischen Psychoanalyse und
Textanalyse“ her, welche „die Arbeit des nach Lacan vorgehenden
Literaturwissenschaftlers viel verträglicher mit den üblichen Vorgehensweisen
der Literaturwissenschaft macht“ als die klassische Psychoanalyse (Mellard
1991, 56). 27. Zur Kritik an der Tiefenpsychologie. Kaum eine wissenschaftliche
Disziplin ist seit ihren Anfängen so umstritten wie die Psychoanalyse, und
Entsprechendes gilt erst recht für die anderen tiefenpsychologischen
Richtungen. Da eine Textanalyse immer nur so gut sein kann wie die Theorie, die
sie anzuwenden versucht, stellt sich die Frage, wie verlässlich auf der Basis
der hier skizzierten Theorien durchgeführte Analysen überhaupt sind. 1) Eine Art der Kritik betrifft
lediglich die Allgemeingültigkeit der
von der Theorie aufgestellten Thesen; der Kritiker bezweifelt zwar, dass die
Aussage für alle in Frage kommenden Gegenstände, nicht jedoch, dass sie für
einige zutrifft. Falls diese Art der Kritik berechtigt ist, bleibt es immerhin
noch möglich, die entsprechende Hypothese weiterhin als heuristisches Prinzip zu verwenden, also nach genau jenen Texten zu
suchen, auf die sie zutrifft. Ein Beispiel: Selbst wenn man daran zweifelt,
dass tatsächlich in allen literarischen Texten archetypische Symbole vorkommen,
die abgespaltene Ich-Anteile bezeichnen, kann man vor dem Hintergrund dieser
These auf solche Symbole achten und so zu Erkenntnissen geführt werden, zu
denen man sonst nicht gelangt wäre. 2) Eine zweite Art der Kritik
behauptet, dass die These auf keinen der
entsprechenden Gegenstände zutrifft. Falls die Kritik berechtigt ist, wäre
für eine Textanalyse gemäß den Grundsätzen der Theorie nur dann überhaupt etwas
zu retten, wenn diese andere Hypothesen enthielte, die einer solchen Kritik
nicht anheimfallen; man zieht sich damit also auf den unproblematischen Teil
der Theorie zurück. (Rühling, 496) 28. Für die klassische Psychoanalyse
gibt es – anders als für die Theorien Jungs und Lacans – einen zentralen Bereich fundamentaler Aussagen, den man
wohl kaum bezweifeln kann: Sie betreffen die Existenz unbewusster Gefühle und
Wünsche, die Funktion der Abwehrmechanismen, den Einfluss der frühen Kindheit
auf den Charakter oder die Bedeutung unverarbeiteter Traumata für das seelische
Wohlbefinden. Dieser Bereich ist daher offensichtlich groß genug, daß die
Anwendung der klassischen Psychoanalyse auf literarische Texte auch über
heuristische Zwecke hinaus gerechtfertigt zu sein scheint, sofern bei Interpreten ein entsprechendes Problembewusstsein
vorhanden ist. (Rühling, 497) 29. Um 1900 begründete Sigmund Freud
(1856-1939) eine neue wissenschaftliche Disziplin, die Psychoanalyse. Im
Unterschied zum Großteil der damaligen Psychiater ging er davon aus, dass
seelische Störungen meist nicht auf organische Schäden (z.B. des Gehirns)
zurückzuführen sind, sondern auf unbewusste psychische Konflikte. Gegenstand
der neuen Wissenschaft war daher die Aufdeckung der unbewussten Bedeutung von
Handlungen, Reden, psychischen und somatischen Symptomen. Den Zugang zu dieser
den Patienten unbewussten Bedeutung verschaffte sich Freud mit einer neuen
Methode, der sogenannten freien Assoziation. Er ließ die Patienten frei und
ohne Selbstzensur alles sagen, was ihnen zu bestimmten Elementen ihrer Rede und
ihres Traums einfiel. Diese spontanen Einfälle führten auf die unbewussten
Gedanken, die jeder Rede, und, wie sich zeigte, auch den neurotischen Symptomen
zugrunde liegen; in der Regel drehen sie sich um einen unbewussten Wunsch, der
oft sexueller Herkunft ist. Speziell die Analyse der Träume brachte Freud
darauf, wie das Unbewusste ‘arbeitet’: Bestimmte Mechanismen der Traumarbeit –
nämlich Verdichtung, Verschiebung, Überdeterminierung, Symbolisierung und
sekundäre Bearbeitung – sorgen dafür, dass aus den latenten Traumgedanken (so
nennt Freud die Gedankenketten, zu denen man durch freie Assoziation gelangt)
der sog. manifeste Trauminhalt wird (der Traum in der Form, in der man ihn nach
dem Erwachen erinnern und erzählen kann). Schließlich konnten Träume,
Fehlleistungen, Witze, psychische und bestimmte körperliche Symptome als
Bildungen des Unbewussten aufgefasst werden, in denen sich verdrängte Wünsche
manifestieren – jedoch entstellt und für das wache Bewusstsein unkenntlich
gemacht. (Gallas, 593f.) 30. Gleichzeitig mit seiner
Behandlungsmethode für psychische Krankheiten und der Entdeckung der Gesetze
des Unbewussten schuf Freud eine Theorie der Entwicklung der menschlichen
Sexualität und der menschlichen Subjektwerdung: wie aus dem auf die Mutter angewiesenen,
aber auch rücksichtslosen Neugeborenen der mehr oder weniger selbstbewusste und
lebenstüchtige Erwachsene wird, der – als Mann oder als Frau – seine Rolle in
der Gesellschaft übernimmt. Dieser Prozess hat die Verdrängung unerfüllbarer
Kindheitswünsche ins Unbewusste zur Folge (z.B. die dauernde Nähe zur Mutter
und die sofortige Befriedigung aller Bedürfnisse), ferner die Sublimierung der
Wünsche, d.h. ihre Ausrichtung auf andere, von der Gesellschaft höher bewertete
Ziele. Freud nannte diesen langwierigen Prozess den Übergang vom „Lustprinzip“
zum „Realitätsprinzip“, es sei kein endgültiger Übergang, immer wieder gebe es
Regressionen, d.h. Rückfälle auf überwunden geglaubte Stadien der Entwicklung.
Knotenpunkt dieser Entwicklung ist für Freud der sog. Ödipuskomplex, in den die
Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren eintreten: Das Kind wendet sich dem
gegengeschlechtlichen Elternteil als Liebesobjekt zu und empfindet den
gleichgeschlechtlichen Elternteil in dieser Hinsicht als Rivalen – nachdem
zuvor für beide Geschlechter, den Jungen wie das Mädchen, die Mutter das erste
libidinöse Objekt war. Der Haß gegen den Rivalen kann bis zum Todeswunsch
gehen, die Liebe für die gegengeschlechtliche Person bis zum Wunsch nach
genitaler Vereinigung (Inzest mit Vater oder Mutter). Diese Konstellation zeigt
aber auch Momente des Gegenteils: eine zärtliche Einstellung zum
gleichgeschlechtlichen und eine eifersüchtig-feindselige zum
gegengeschlechtlichen Elternteil (homosexuelle Komponente). (Gallas, 594f.) 31. Die Überwindung des
Ödipuskomplexes erfolgt nach Freud beim Jungen durch die Kastrationsangst
(aufgrund der dem Vater-Rivalen zugeschriebenen Kastrationsdrohung), beim
Mädchen durch den Penisneid (wobei die Mutter für den fehlenden Penis
verantwortlich gemacht wird). Kastrationsangst und Penisneid bewirken die
Aufgabe des inzestuösen Objekts und die Identifizierung mit der Rolle des
gleichgeschlechtlichen Elternteils. Für Freud stellt der Ödipuskomplex ein
notwendiges Durchgangsstadium der geschlechtlichen Reifung dar; durch die mit
seiner Überwindung in Zusammenhang stehende Bildung des Über-Ichs steht er
zudem am Anfang von Moral, Gewissen und Gesetz. Das Inzestverbot durch den
Vater steht symbolisch für alle
späteren Autoritäten. (Gallas, 595) 32. Schon bald erkannten Freud und
die Psychoanalytiker um ihn, welche Möglichkeiten sich aus den neuen Einsichten
für die Analyse geisteswissenschaftlicher Phänomene ergaben, unabhängig vom
medizinischen Bereich. Es war Freud selbst, der in Die Traumdeutung erstmals die Ödipuskonzeption zur Erklärung eines
literarischen Textes heranzog. Freud führte Hamlets Zögern, den Mörder seines
Vaters zu töten, auf einen unbewussten Todeswunsch gegen den Vater aufgrund
einer libidinösen Besetzung der Mutter zurück. (Gallas, 595) 33. Der literarische Text wird als
ein Ort angesehen, an dem regressive Wünsche zur Sprache kommen, ihre
Artikulation stehe im Dienste des Lustprinzips oder auch der Abwehr unbewusster
Wünsche: das Werk als Kompromissbildung zwischen Phantasie (als der vorgestellten
Befriedigung unbewusster Wünsche) und Abwehr (die Verkleidung und Bestrafung
dieser Wünsche). Die Traumdeutung gilt als Modell der Literaturdeutung, Ziel
ist die Rekonstruktion eines latenten Textes. Die Traumarbeit wird als Analogon
zur dichterischen Phantasie angesehen, die Mechanismen der Traumarbeit werden
auch im literarischen Text wiedererkannt. (Gallas, 595) 34. Neben der Werkinterpretation
gibt es zwei weitere Hauptanwendungsbereiche psychoanalytischer Methoden in der
Literaturwissenschaft: zum einen die Rezeptionsforschung, wobei ähnliche
psychische Prozesse wie die, die zur Ausarbeitung eines literarischen Werkes
geführt haben, auch beim Leser vermutet werden – diesem ebenso unbewusst wie
dem Autor; zum anderen die Erforschung der Dichterpersönlichkeit, die sich
neben den historischen vor allem den psychischen Determinanten der Biographie
widmet. (Gallas, 596) 35. Beispiel für eine Freudsche ödipale Interpretation: Kleists „Michael
Kohlhaas“ Ausgangspunkt wäre also: Ein in der
Position des Sohns befindlicher Protagonist versucht, einen anderen, der für
ihn die Position des Vaters einnimmt (also den Zugang zur Mutter versperrt),
als Nebenbuhler auszustechen oder zu beseitigen. Die Protagonisten eines
ödipalen Konflikts in der Literatur können, aber müssen nicht als Väter oder Mütter
auftreten; sie treten nur in die Funktionen ein, die diesen zukommen, sie
substituieren also Vater- bzw. Mutterfiguren. Kohlhaas hat es mit mehreren
Autoritäten zu tun: dem Junker Wenzel, der ihm an einer Zollschranke
unrechtmäßig zwei seiner Pferde abnimmt und sich in der Folge als lächerliche
Autorität erweist; der Junker wird später – in seiner Funktion, die Rechte des
Kohlhaas einzuschränken und dessen Rache auszulösen – ersetzt durch den
Kurfürsten von Sachsen; dieser ist als oberster Lehnsherr zwar eine höhere
Autorität, aber ebenfalls eine eher lächerliche Figur, die Kohlhaas’ Mut und
Todesverachtung um so glanzvoller erscheinen lassen. Die dritte
Autoritätsperson ist der Kurfürst von Brandenburg, eine respektable Person,
deren Anordnungen sich Kohlhaas sich beugt. Als Mutterfiguren kämen die zwei
Frauen in Frage, mit denen Kohlhaas es zu tun hat: seine Frau Lisbeth, die
durch – zumindest mittelbare – Schuld des brandenburgischen Kurfürsten stirbt.
Nach ihrem Tod wird Lisbeth ersetzt durch die geheimnisvolle Zigeunerin, die
Kohlhaas wie eine Doppelgängerin seiner Frau vorkommt und ihn, erfolgreicher
als Lisbeth, im Kampf gegen den sächsischen Kurfürsten unterstützt. Die Frauen
erscheinen in der Erzählung also nicht als inzestuöse, begehrte Objekte, die
vor einer brutalen Vaterfigur geschützt werden müssen, sondern als Figuren, die
(wie die Mutter den Sohn) den Helden hilfreich im Kampf gegen die Autorität
(als Substitut des Vaters) unterstützen und immer auf seiner Seite sind (so wie
der Sohn sich die bedingungslose Hilfe der Mutter im ödipalen Konflikt
erträumt). Die Zigeunerin wird übrigens von Kohlhaas stets ‘Mütterchen’
genannt, die beiden Kurfürsten sind seine ‘Landesväter’. (Gallas, 596f.) 36. Wir haben es durchaus mit einer
für das Ödipus-Schema typischen Dreiecksstruktur zu tun. Nach dem
psychoanalytischen Modell muss der in der Position des Sohns Befindliche auf
die Zerstörung des Vaters sinnen, und er muss auf die Gewinnung des väterlichen
Rechts aus sein. Anfangs verhält sich Kohlhaas nach diesem Muster: Er zerstört
den Besitz des sächsischen Landesvaters, nämlich Land und Leute, und setzt sein
eigenes Recht (erklärt die Fehde, gibt Mandate aus usw.). Als Kohlhaas schon
fast gezwungen ist, sich dem kurfürstlichen Gesetz zu beugen, gibt ihm die
Zigeunerin den entscheidenden Fingerzeig, wo die verletzliche Stelle der
Autorität sich befindet: im Wissen um sein Geschlecht, verstanden als Vater-,
Herr- und Regentschaft (sie weissagt auf einem Zettel dem Kurfürsten dessen
künftiges Schicksal und das seines Hauses, übergibt den Zettel aber nicht ihm,
sondern Kohlhaas). Dieser Zettel, den Kohlhaas in einer Kapsel und an einem
seidenen Faden um den Hals trägt (vielleicht als mütterliches Symbol
aufzufassen), scheint das Todesurteil des Kurfürsten zu enthalten; jedenfalls
erlangt Kohlhaas durch ihn einen grandiosen Sieg über den Kurfürsten. Dieser
ist bereit, zur Erlangung des Zettels alles zu tun; Kohlhaas jedoch verschlingt
den Zettel, nachdem er ihn gelesen hat, vor den Augen des Kurfürsten, der daraufhin
in Krämpfen niedersinkt und ohnmächtig, wie entmannt auf dem Boden liegt.
(Gallas, 597) 37. Das Objekt, um das sich alles
dreht, ist jedoch nicht die Mutter als Begehrte bzw. eine sie substituierende
Frauenfigur, sondern zwei Pferde. Anfangs stolze, wohlgenährte Rappen, werden
sie Kohlhaas erst abgenommen, dann zugrunde gerichtet und kommen an den
Schinder. Man könnte in ihnen Phallussymbole sehen, also Symbole der männlichen
Potenz. Die Ruinierung dieser Pferde würde dann für die Kastrationsdrohung stehen.
Wir befänden uns im zweiten Akt des ödipalen Dramas, in dem die Besetzung der
Mutter als libidinöses Objekt bereits erfolgt ist und nun die Kastrationsangst
und die Mutter als helfende bestimmend sind. Zu klären wäre dann, wieso sich
die Hass-Liebe des Kohlhaas nur auf einen der beiden Kurfürsten richtet: Der
Kurfürst von Sachsen scheint den schwachen Teil der Vater-Imago zu verkörpern,
den von der Mutter nicht anerkannten und im Bunde mit ihr zu quälenden Teil.
Der Kurfürst von Brandenburg würde für den Teil der Vater-Imago stehen, der die
starken, potenten, die Mutter besitzenden Teile verkörpert. Im Unterschied zum
Kurfürsten von Sachsen wird der Brandenburger von der Zigeunerin anerkannt –
sie prophezeit ihm eine Zukunft. Dieser Vater übernimmt die Verkündung des
Urteils für Kohlhaas’ Taten: auf Landfriedensbruch steht Tod. Das ist ein
eindeutiger Bruch der Kohlhaas zugesagten Amnestie. Um so mehr verwundert sein
geradezu freudiges Einverständnis mit diesem Todesurteil. In der Logik der
bisherigen Interpretation könnte diese Haltung als von Schuldgefühlen diktierte
Selbstbestrafung anzusehen sein, als Selbstbestrafung für das gegen den Vater
gerichtete Konkurrenzstreben: die Usurpation der feudalen Privilegien, die
Selbstjustiz und das Ansichreißen der Macht im sächsischen Staat. (Gallas,
597f.) 38. Bei aller Plausibilität in
einzelnen Punkten ist eine solche Interpretation doch unbefriedigend. Die
Argumentation verbleibt fast ausschließlich auf der sexuellen Ebene, und die
Erzählung ist zu eingeschränkt als personales Drama aufgefasst, ganz abgesehen
von der Fragwürdigkeit der Symbolinterpretationen. (Gallas, 598) 39. Der französische
Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901-1981) hat – gestützt auf die Erkenntnisse
der strukturalen Linguistik, die Freud noch nicht zur Verfügung standen –
dessen Theorie neu interpretiert und
weitergeführt. Auch der Ödipus-Komplex wurde unter dem Aspekt der Sprache und
gestützt auf die Erkenntnisse der strukturalen Ethnologie neu beschrieben. Das Gesetz, das mit der
Kastrationsdrohung durchgesetzt werden soll, ist in erster Linie das
Inzestverbot. Die Wirkung dieses Verbots für den Sohn ist: Alle Frauen
(außerhalb der Familie) sind erlaubt, wenn auf die eine (die Mutter) verzichtet
wird. Als Repräsentant dieses Verbots erscheint der Vater. Er ist jener Dritte,
der durch seine Anwesenheit und sein Wort die enge duale Beziehung zwischen
Mutter und Kind unterbindet, der den Wunsch des Kindes nach symbiotischer
Einheit mit der Mutter beschneidet. Lacan spricht von der „symbolischen
Kastration“, und das heißt: Trennung vom mütterlichen Geschlecht, das als
verloren gelten und in Zukunft durch andere Objekte substituiert werden muss
(für beide Geschlechter). (Gallas, 598f.) 40. Die symbolische Kastration wird
daher auch als Voraussetzung dafür angesehen, dass überhaupt ein Wunsch (auf
andere Objekte als die Mutter) entstehen kann; sie schafft also erst, was sie
zu verbieten scheint: den Wunsch, oder wie es in der Terminologie Lacans heißt:
das Begehren, und das Recht darauf. Nur wer wünschen, begehren kann, findet
Objekte, für die zu streiten, zu arbeiten, zu leben sich lohnt. Nur wer sicher
weiß, was er begehren darf, welche Rechte er hat, ist sicher im Genießen des
gewählten Sexualpartners, im Genießen der Früchte seiner Arbeit – ohne Angst,
sie nicht verdient zu haben. Die Kastration in diesem Sinn muss also gesucht,
sie darf nicht vermieden werden; sonst beherrschen Ungewissheit und Zweifel das
Subjekt. (Gallas, 599) 41. Lacan hebt die narzißtische
Dimension des Ödipus-Schemas hervor: Das Kind bildet ein erstes Ich im
sogenannten Spiegelstadium (im 6. bis 8. Monat), und zwar aufgrund der
Wahrnehmung der eigenen Gestalt im Spiegel als einer ganzen, vollkommenen
sowie, und das ist entscheidend, der Anerkennung dieser Wahrnehmung durch den
zustimmenden, bewundernden Blick der Mutter. Als Folge dieser
Spiegelidentifikation glaubt das Subjekt sich immer schon mit einer Einheit und
Vollkommenheit ausgestattet, der es real nicht entspricht. Es ist auf Hilfe
angewiesen, es muss sich ständig den Wünschen anderer beugen. Diese erste
Ich-Gewissheit ist also eine Täuschung, die die Abhängigkeit des menschlichen
Subjekts übertüncht – und sie ist Quelle auch aller späteren
Selbstüberschätzung, aller Größen- und Allmachtphantasien. Dieses erste Ich ist
narzißtisch, da es auf der erotisch-aggressiven Beziehung zu seinem Ebenbild
beruht, und es ist äußerst fragil, ständig von Angst vor Zerfall bedroht. Es
kann sich allein in der Konkurrenz mit den anderen bestätigen. Die Rivalität
(etwa im vorsprachlichen Kinderspiel zu beobachten) würde jedes menschliche
Zusammenleben unmöglich machen, wenn das Kind nicht lernte, die Sprache zu
gebrauchen. Die Einführung in die Sprache, in die symbolische Ordnung, wie
Lacan sagt, führt dazu, dass das Subjekt – statt zu handeln (streiten,
schreien, schlagen) – sein Begehren artikuliert. In die Sprache wird das Kind
vor allem von der Mutter eingeführt; sie trennt es dadurch vom ursprünglichen
Körper-Sein und eröffnet die Möglichkeit, sich anderen zu- und von der Mutter
wegzuwenden; sie unterstützt damit, willentlich oder nicht, den
Kastrationsprozess. Symbolische Kastration bedeutet in der Lacanschen Theorie
daher auch Eintritt in die symbolische Ordnung, die Sprache, welche die
ursprüngliche Aggressivität der Rivalitätsbeziehung – wie sie in der ödipalen
Beziehung des Knaben zum Vater wieder auftaucht – zu verbalisieren und damit zu
überwinden erlaubt. Die ödipale Konstellation ist für Lacan deshalb auch nicht
mehr an ein bestimmtes Lebensalter gebunden. (Gallas, 599f.) 42. Was wird in dieser Perspektive
aus den Positionen ‘Mutter’ und ‘Vater’ im ödipalen Dreieck? Die Mutter als
Inbegriff des Begehrten ist nach dieser Konzeption eine nachträgliche Wirkung
des Verbots, die nachträgliche Phantasie des Subjekts vom paradiesischen
Zustand mit der Mutter. Der ödipale inzestuöse Wunsch erscheint so nicht mehr
als Wunsch nach tatsächlicher genitaler Vereinigung mit der Mutter, sondern
erstens als Wunsch nach einem Ort vor jeder Trennung, als Phantasie von totaler
Geborgenheit und Erfüllung; zweitens als Wunsch des Subjekts, vom Blick der
Mutter in seiner Einmaligkeit und Größe bestätigt, anerkannt zu werden; und
drittens als Wunsch, für die Mutter alles zu sein, ihr Begehren auszufüllen
(Begehren nach dem Begehren des Anderen) und nicht zuzulassen, dass sich ihr
Begehren auf etwas Drittes richtet. Dem Vater kommt eher eine befreiende, denn
ein repressive Funktion zu. Er ist nicht Vollstrecker der Kastration, spricht
auch keine Drohung real aus, sondern symbolisiert das Gesetz, das zunächst im
Inzestverbot besteht. Lacan führt die Unterscheidung zwischen imaginärem und
symbolischem Vater ein. Der imaginäre Vater wäre das Bild des allmächtigen,
allwissenden, brutalen, kastrierenden Vaters, das sich das Kind macht; zu ihm
entwickelt es eine rivalisierende Beziehung der Hassliebe, ihn sucht es zu
beseitigen oder zu ersetzen. Der symbolische Vater ist Funktionsträger des
Gesetzes, er steht symbolisch für die Ordnung, der das Kind sich unterwerfen
soll. Lacan spricht daher auch von der Instanz „Name-des-Vaters“ (nom-du-père).
Der tatsächliche Vater ist eine Mischung aus beidem, immer aber schwächer als
der symbolische Vater. (Gallas, 600) 43. Beispiel für eine Lacansche Interpretation: Kleists „Michael Kohlhaas“ In der Konzeption der symbolischen
Kastration bei Lacan ist das Begehren eine zentrale Kategorie. Sich davon zu
trennen, das Begehren der Mutter auszufüllen, verlangt, sein eigenes Begehren
zu finden. Was begehrt Kohlhaas, was treibt ihn? In der Konfrontation mit dem Junker
muss Kohlhaas sich als unzulänglich und machtlos erkennen – sehr im Unterschied
zu dem Bild, das er als erfolgreicher Kaufmann von sich haben mag. Die
Demütigung, in die er sich versetzt sieht, reaktiviert die Todesangst des
narzißtischen Ichs der Spiegelphase, so könnte man deuten; d.h. die Demütigung
gleicht einer Bedrohung seiner Ich-Identität. Zum Verursacher der Bedrohung,
dem Junker, nimmt Kohlhaas eine auf Rivalität gegründete Beziehung auf – er
will ihn beseitigen und an seine Stelle treten. Letzteres zeigt die Wahl seiner
Kampfmittel, die für einen Junker, nicht aber für einen Kaufmann
charakteristisch sind: Erklärung der Fehde, Erlassung von Mandaten usw. – so als wollte er klarmachen, wer der
bessere Junker sei. Diese imaginäre Identifikation mit dem Rivalen ist der
Kampf mit dem eigenen Spiegelbild, in dem das Subjekt sich selbst, aber
entfremdet wahrnimmt. Bei dem Kampf mit dem Spiegelbild-Rivalen geht es um die
Anerkennung des Subjekts durch den anderen, wobei das Objekt in den Hintergrund
tritt – so wie Kohlhaas das eigentliche Streitobjekt, die beiden Pferde,
zeitweilig völlig zu vergessen scheint. Die Rivalitätsbeziehung lässt eine
Fülle von Größenphantasien hervorbrechen: Kohlhaas tritt auf als eine Mischung
aus Kaiser und Christus, er nennt sich „einen Statthalter Michaels, des
Erzengels“, einen „Reichs- und Weltfreien, Gott allein unterworfenen Herrn“.
Als ihm seine Kampfmittel genommen sind, tritt er in eine neue
erotisch-aggressive Rivalitätsbeziehung, nämlich zum Kurfürsten von Sachsen. Ihm
will er „wehtun“, das ist Kohlhaas mehr wert als das Leben – eine merkwürdige
Verschiebung im Vergleich zu seinem ursprünglichen Wunsch, nämlich der
Wiederherstellung seiner beiden Pferde und der Bestrafung des Junkers. (Gallas,
601) 44. Dieser neue Wunsch wurde
Kohlhaas von der Zigeunerin suggeriert; sie übergab den Zettel mit der
Prophezeiung nicht dem eigentlichen Adressaten, sondern Kohlhaas und machte den
Kurfürsten dadurch zu einem Gehetzten. Die Zigeunerin trieb dabei ein Begehren,
das uns nicht näher erläutert wird. Welche Rechnung hat sie mit dem Kurfürsten
zu begleichen? Jedenfalls wird Kohlhaas zum Vollstrecker ihres Wunsches; sie
wird sein Komplize, aber Kohlhaas auch der ihrige! Es geht also nicht um das
ödipale Begehren für die Mutter,
sondern um das Begehren der Mutter,
dem Kohlhaas unterworfen scheint. Über seine Frau Lisbeth, die ihn störend an
seine Pflichten als Familienvater erinnert, geht Kohlhaas hinweg. An ihre
Stelle wird die Zigeunerin gesetzt, deren Pläne seine Größen- und
Rachephantasien stützen. Und was wird aus den Pferden als
Phallussymbol in unserer ersten Interpretation? Der Phallus ist auch bei Freud
nicht nur Symbol des männlichen Organs, sondern das, was zur Vollständigkeit
fehlt (für beide Geschlechter). Er ist also Signifikant der imaginären Ganzheit
des Ichs. In diesem Sinn wären die Pferde Phallussubstitute (nicht
Phallussymbole). Ihre Ruinierung entspräche einer Bedrohung der über imaginäre
Identifikation erreichten Einheit des Ichs. Aber auch die Kapsel mit dem Zettel
kann in diesem Sinn als Phallussubstitut aufgefasst werden (für den Kurfürsten
wie für Kohlhaas, der damit das, was ihm fehlt, ersetzt). (Gallas, 601f.) 45. Die Zweiteilung der Autorität
wäre mit Lacans Unterscheidung von imaginärem und symbolischem Vater zu
erklären, wobei auch der Brandenburger das Urteil nicht allein fällt, sondern
im Namen des Kaisers in Wien. Endet die Erzählung also mit der
Annahme der symbolischen Kastration, erkennt Kohlhaas die Grenzen seines Ichs
an und verzichtet auf Allmachtsphantasien? Mit dem doppelten Urteil wird zum
Schluss ein raffinierter, witziger Ausweg gefunden: Einerseits beugt sich
Kohlhaas dem Rechtsspruch und nimmt die Strafe für seine Mordbrennereien auf
sich, er verzichtet darauf, sein eigenes Recht setzen zu können; andererseits
triumphiert er über seine beiden Rivalen. Der Junker wird bestraft und der
Kurfürst von Sachsen vernichtet, denn Kohlhaas verschlingt vor seinen Augen auf
dem Richtplatz den Zettel mit der Prophezeiung des kurfürstlichen Schicksals.
Damit rettet er seine Überlegenheitsphantasien. Der Zettel war mit Mundlack
versiegelt (eine Oblate aus Teig), so als nähme Kohlhaas teil am Verzehr der
Hostie, die die Teilnahme am ewigen Leben eröffnet; gleichzeitig erinnert die
Szene an den Auserwählten des Herrn, den Propheten, der Gottes Wort
verschlingt. Kohlhaas, eben noch der Gesetzesübertreter, präsentiert sich als
der Auserwählte, der dem gesetzlosen, verirrten Volk (Israel) das Gesetz des
Vaters bringt – hier ist es aber eine Prophezeiung der Mutter (die Kohlhaas
ihrerseits zur Überbringung auserwählt hat). Die Prophezeiung besagt: In der
Zukunft, in der Geschichte wird man ein Urteil fällen. Kohlhaas bleibt das
letzte Wort – eine Anspielung auf das Metier des Schriftstellers, ebenso wie
die Schrift auf dem Zettel, die ihm ‘Genugtuung ‘ verschaffen wird. (Gallas,
602f.) 46. Einen ähnlich ambivalenten
Status wie der Richtspruch hat das Gesetz, dem Kohlhaas sich unterwirft: Es
beruht auf Gesetzesbruch und erhält so einen illegitimen Charakter (Kohlhaas
war ja, wenn er sich stellt, für seine Taten Straffreiheit zugesichert worden).
Der Schluss könnte daher als Annahme und gleichzeitig Umgehung der symbolischen
Kastration gedeutet werden; denn die Identifikation mit der vollendeten Gestalt
ist nicht aufgehoben, sondern gerade besonders bestätigt. Kleists Geschichten sind öfter so
konstruiert, dass eine Frage vorgelegt wird, die aufgrund der verwickelten
Situation nicht mit Ja oder Nein entschieden werden kann: Ist der Protagonist
gut oder schlecht? Muss er verurteilt oder freigesprochen werden? Ist er ein
rechtschaffener Kaufmann oder ein Verbrecher? Es geht um den Wert des Subjekts,
um das Bild, das es sich von sich selber machen kann – abzulesen im Bild, das
sich die anderen von ihm machen. Diese fehlende Ich-Gewissheit ist es, die den
Text als Suche des Protagonisten nach seiner Identität erkennen lässt. Ihn
treibt die Frage: Wer bin ich? und vielleicht auch die Suche, das Begehren nach
dem Gesetz, das sicher macht und Rechte verschafft, die man ohne Skrupel
genießen kann. (Gallas, 603) 47. Was ergibt sich aus diesen
beiden kurzen Analysen für die psychoanalytische Literaturwissenschaft? Es
zeichnen sich wichtige Akzentverschiebungen ab: Literarische Figuren sind keine
realen Personen, ihre Charaktere sind zwar nach bestimmten Gesetzen
konstruiert, aber nicht im Sinne eines tatsächlichen Krankheitsbildes (Kohlhaas
etwa trägt hysterische, zwangsneurotische und narzißtische Züge). Hamlet sei
kein reales Wesen, sagt Lacan, sondern ein Platz, auf dem sich Begehren
entfaltet: „Hamlet hat keine Neurose, er demonstriert uns Neurose“ (Lacan 1987,
51). Zwar wird man einen literarischen
Text auch weiterhin als Ausdruck einer psychischen Konfliktstruktur des
Schreibenden verstehen können, aber nicht länger als eine Art Ersatzbefriedigung
oder als Hort regressiver Wünsche. Die aus dem Spiegelstadium stammende
narzißtische Dimension ist nach Lacan unüberwindbar; der Wunsch nach
Anerkennung, nach Erwiderung seines Begehrens ist für das menschliche Subjekt
konstitutiv und unstillbar. Der Wunsch, das Begehren ist daher nicht als
Regression aufzufassen, auch nicht als privat und subjektiv, sondern als
intersubjektiv. (Gallas, 603f.) 48. Ein literarischer Text kann als
artikuliertes Begehren verstanden werden – aber weder im Sinne von Regression
noch im Sinne einer bewussten Aussage oder Absicht des Schreibenden. Der
Schreibende ist auf der Suche nach Sinn, er legt den Sinn nicht fest; seinem
eigenen Text kann er so verständnislos gegenüberstehen wie ein Träumer seinem
eigenen Traum. Das Subjekt des Textprozesses ist nicht der Autor, auch nicht
der Erzähler oder eine der Figuren, sondern der Text selbst mit seiner
Verschlungenheit und Widersprüchlichkeit, mit seinen Verschiebungen und
Verdichtungen. Wenn das Ziel der psychoanalytischen
Methode die Rekonstruktion eines unbewussten, latenten (Sub-)Textes ist, so
geht es dabei weniger darum: Was wird anders gesagt (als der manifeste Text
sagt), sondern vielmehr darum: Wer spricht von welcher Position aus zu wem?
(Kohlhaas z.B. spricht u.a. als Erzengel.) Die Unterscheidung zwischen
bewusstem und unbewusstem Text wird damit weitgehend hinfällig. Eine psycho-analytische Deutung kann
eine komplexe Dimension des literarischen Textes erfassen, die bei anderen
Deutungen, z.B. historischen, unberücksichtigt bleibt. Der Zusammenhang der
psychoanalytischen Ergebnisse mit den Ergebnissen anderer Verfahren ist
allerdings noch weitgehend wissenschaftliches Brachland. (Gallas, 604) 49. Literatur hat viele Bezüge zur
Psychologie. Schon im 18. Jahrhundert verhandelten Schriftsteller wie Publikum
in literarischen Texten Entwürfe einer psychologischen Figurenkonstruktion und
-deutung. Im 19. Jahrhundert nahm die Psychologisierung der Literatur weiter
zu, sei es im Sinne einer Alltagspsychologie der gewöhnlichen Menschenkenntnis,
sei es durch Verarbeitung wissenschaftlich-psychologischer Theorien. In der
hermeneutischen Tradition wird Literatur als Lebensäußerung (Dilthey)
aufgefasst, die die inneren Zustände der Verfasser ausdrückt. Eigentlich ist es
nur konsequent, dass von einem bestimmten Grad von Spezialisierung an ihre
Erforschung schließlich als Aufgabe einer eigenständigen Psychologie angesehen
wurde; diese löste die Philosophie dort ab, wo sie bis dahin den Gegenstand
‘Seele’ zu behandeln hatte. Erst mit der Herausbildung einer Disziplin
Psychologie (erste Institutionalisierungen um 1875) konnte diese Übertragung im
akademischen Bereich geschehen. Während unter dem Dach der Leitwissenschaft
Philosophie noch alle Aspekte der Literatur – ästhetische, psychologische,
soziale – metatheoretisch zusammengeführt werden konnten, erfolgte nun mit der
Spezialisierung eine wechselseitige Distanzierung der Bereiche. (Baasner, 147) 50. Literaturpsychologie. Ähnlich wie im Falle der Literatursoziologie
bildete sich ein Überschneidungsbereich zwischen den zwei Fächern Psychologie
und Literaturwissenschaft. Das Segment der Psychologie, das sich mit Literatur
beschäftigt, wird Literaturpsychologie genannt. Es vereint Problemstellungen,
die sowohl die psychische Struktur von Autoren und Lesern berücksichtigen als
auch die Konstitution und Funktion von literarischer Kommunikation im Hinblick
auf ihre psychische Wirkung untersuchen. Ihren Literaturbegriff übernimmt die
Literaturpsychologie weitgehend aus der Literaturwissenschaft – im Sinne eines unumstrittenen Kanons – und
untersucht den konkreten Umgang, den Individuen oder Gruppen mit den
einschlägigen Texten pflegen. (Baasner, 147f.) 51. Die methodische Basis der
Literaturpsychologie ist, wie die der gesamten Psychologie überhaupt, in einen empirischen und einen hermeneutischen Bereich aufzuteilen. Empirisch ist sie dort, wo Verhalten und
Handeln in bestimmten Situationen untersucht werden, hermeneutisch dort, wo das
Verstehen sprachlicher Äußerungen im Vordergrund steht. Eine innovative Ergänzung der
traditionellen Literaturwissenschaft liefert die empirische
Literaturpsychologie. Sie betreibt Labor- und Feldforschung über den Umgang mit
Literatur. Dabei steht die Leseforschung
im Vordergrund: durch Beobachtung und Befragung werden die Reaktionen von
Testpersonen auf literarische Texte unter kontrollierten Bedingungen
festgehalten. Aus den Befunden werden Hypothesen und daraus – bei Bestätigung
in der weiteren empirischen Prüfung – Modelle oder Theoriekonzepte gebildet.
Die wirklichen Menschen und ihre zu beobachtenden Verhaltensweisen werden hier
weitaus stärker berücksichtigt als die begrifflichen Konstrukte, mit denen
sonst die Literaturwissenschaft ihre Gegenstände Autor und Rezipient faßt.
(Baasner, 148) 52. Indem eine Interpretation nicht,
wie hermeneutisch üblich, generalisiert wird, sondern in konkreten, unter
Theorieanleitung erhobenen Erfahrungsdaten ihre Überprüfung findet, ist sie
nicht mehr auf einen einzelnen Interpreten bezogen. So verlieren dessen Intuition,
individuelle Selbstbeobachtung und Reflexion ihre spekulativen – und teilweise
beliebigen – Züge. In der Praxis könnte dieser Prozeß etwa so aussehen, daß
einer Gruppe von Probanden (unter Laborbedingungen oder in einer alltäglichen
Situation der Feldforschung) zu einem literarischen Text zugleich zwei oder
mehr alternative Interpretationen vorgelegt werden, die sie als ‘plausibel’
oder ‘nicht plausibel’ einschätzen sollen; oder aber sie werden aufgefordert,
selbst Interpretationen zu dem Text zu entwerfen. Über die Beurteilung und Herstellung
von Interpretationen hinaus werden auch Prozesse der Textwahrnehmung empirisch
erforscht. Dieser Bereich der Kognitionspsychologie, in dem das „Verstehen von
Texten zum größten Teil nicht als Methode, sondern als Gegenstand der
Wissenschaft“ (Groeben 1987, 65) erscheint, beobachtet die Art und Weise, wie
Testpersonen die Vermittlung zwischen dem im Text Mitgeteilten und ihrem
eigenen vorhandenen Wissensstand vornehmen. Auch auf diesem Wege kann die
Unterscheidung zwischen literarischen oder nicht-literarischen Texten
angestrebt werden, sie erfolgt somit nicht mehr nach Textmerkmalen, sondern
nach der Entscheidung, die konkrete Rezipienten treffen. (Baasner, 148f.) 53. Neben Text und Rezipient spielen
in diesem Vorgang auch die Lektüresituation und die Kenntnis der Rezipienten
über den Verfasser eine Rolle: diese vier Faktoren konstituieren gemeinsam ein
‘Sprachspiel’, in dem das Verstehen unter Voraussetzungen der
individuellen Wissensorganisation
zustande kommt. In den vielfältigen
Modellvorstellungen der Psychologie werden zwei Gruppen unterschieden: die
einen gehen von vorhandenen Wissensstrukturen im Individuum aus, die von oben
herab auf den konkreten Text angewendet werden (Top-down-Prozesse), die anderen beginnen ihre Betrachtung bei den
einzelnen Propositionen des Textes selbst und überprüfen deren aufsteigende
Realisierung im Wissensschema des Rezipienten (Bottom-up-Prozesse). Jenseits der Wissensressourcen darf auch der
emotionale Bereich nicht ausgeschlossen werden, so dass die psychologische
Erforschung von literarischem Verstehen nicht nur auf die zielgerichtete
Wissensverarbeitung, sondern ebenfalls auf die diese steuernden Gefühlszustände
gerichtet werden muss. Durch derartige Forschungen erhält
der akademische Streit darüber, welche Individuen oder Bevölkerungsgruppen
welche Texte aus welchen Gründen lesen, zumindest präzisierte
Anknüpfungspunkte. (Baasner, 149) 54. Insgesamt steht die
Literaturpsychologie der soziologisch-empirischen Erforschung sozialer
Konventionen näher als der auf Literaturgeschichte, Edition und Textanalyse
spezialisierten Literaturwissenschaft. Literarische Texte werden als ein
möglicher Fall in einem breiten Spektrum von Kommunikations- und
Weltdeutungsmustern verschiedenster Provenienz behandelt. (Baasner, 149f.) 55. Psychoanalytische Literaturbetrachtung. Unter den psychologischen
Modellen hat die Psychoanalyse das größte Interesse gefunden. Psychoanalyse ist
zunächst ein Konzept der Erklärung und Therapie im Bereich abweichenden
Verhaltens von Menschen. Die Abweichungen – wie auch das gewöhnliche Verhalten
– werden zurückgeführt auf allgemeine Bedürfnisse und Wünsche, mit denen
einzelne Individuen unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen allerdings
verschieden umgehen. Grundlage der Therapie ist die Analyse, in deren Verlauf Patienten
selbst ihre innere Befindlichkeit und ihre Erlebnisse sprachlich darstellen.
Die analytische Leistung besteht anschließend darin, die Elemente der Erzählung
auf Grundmuster oder Klassen von immer wiederkehrenden Elementen
zurückzuführen, und so schließlich die Besonderheiten der Patientenäußerungen
auf das bei allen Menschen Vorfallende zu beziehen und die Abweichungen zu
erklären. Die Bezugsebene psychischer Normalität wird von einer Theorie
menschlicher Entwicklungsschritte – vor allem in der Kindheit – und einer Instanzenlehre der inneren Ordnung (Ich
– Über-Ich – Esnach Freud)
aufgespannt. (Baasner, 150) 56. Die Verbindungen zwischen
Äußerungen, wie sie als Gegenstand der psychoanalytischen Therapie auftreten,
und literarischen Texten wird in den meisten Fällen aus grundlegenden
Überlegungen Sigmund Freuds hergeleitet. In seinem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren (1908) skizziert er die
literarische Fiktion als verwandt mit dem Traum. In der Traumdeutung (1900) hatte Freud bereits den Wunschcharakter der
Träume erläutert, der nun in der Analogie auch auf literarische Äußerungen
zutreffen soll. Für das Zustandekommen der literarischen Phantasie allerdings
unterstellt Freud eine zusätzliche bewusste Kontrolle, während im Traum allein
die unterbewusste Zensur für die Einschränkung des Dargestellten verantwortlich
gemacht wird. (Baasner, 250f.) 57. Freuds Vorgaben auf dem Gebiet
der Deutung gehen zurück auf eigene Beobachtungen von Ähnlichkeiten zwischen
diversen Strömungen von Textüberlieferungen und Patientenäußerungen im
therapeutischen Gespräch. Vorbilder für die spätere literaturwissenschaftliche
Interpretation sind dabei auch seine expliziten Auslegungen belletristischer
Texte (z.B. Der Wahn und die Träume in W.
Jensens ‘Gradiva’). Freuds Lektüre berücksichtigt besonders den
bildungsbürgerlichen Kanon, geht aber gerade in der Gradiva-Studie auch auf einen sogenannten trivialen Text ein. Damit
belegt er – früher als die Literaturwissenschaft – das gleichartige
Funktionieren literarischer Texte höchst unterschiedlichen literarischen
Ranges. (Baasner, 151) 58. Geistesgeschichtliche
Literaturverehrer waren bereits zu Freuds Zeiten weder über seine Entdeckungen
noch über den Weg, auf welchem er sie gefunden hatte, begeistert. Die implizite
Behauptung einer Verwandtschaft von Künstler und Neurotiker schien die
Erhabenheit des Literaturbegriffs ebenso zu beeinträchtigen wie die Rückführung
ästhetischer Oberflächenphänomene auf eine verursachende Sexualität. Deshalb
erfuhr zeitweilig der konkurrierende tiefenpsychologische Ansatz Carl Gustav
Jungs größere Anerkennung, der eine Idealisierung der Kunst betreibt. (Baasner,
151f.) 59. Seit Freuds Zeiten ist die
Theoriebildung in der Psychoanalyse gewaltig vorangeschritten. Diejenigen
literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die sich an den noch wenig ausgefeilten
und empirisch kaum bestätigten Entwürfen der Gründungsväter orientieren,
verfehlen die methodischen Möglichkeiten, die psychoanalytische Ansätze heute
bieten. Deren Vorteil gegenüber einer traditionellen Hermeneutik besteht darin,
dass ihre hermeneutischen Vorgehensweisen durch Annahmen über psychische
Strukturen theoretisch modelliert werden. Das Verstehen des Subjekts ist keine
undurchdringliche Einheit mehr, sondern wird zusammengesetzt aus zumindest
teilweise empirisch überprüfbaren Abläufen. Anstelle der Unwägbarkeiten einer
interpretativen Beliebigkeit, die sich auf freie Annahmen über das verstehende
Subjekt stützt, bestehen Modellstrukturen, die in ihrer systematischen
Ausführung und mit allen Implikationen übernommen werden können (und müssen).
(Baasner, 152) 60. Textentstehung. Aus dem Verhältnis zwischen dem Freudschen Modell
des tagträumenden Dichters und dem literarischen Text ist ein Kreativitätsbegriff abzuleiten, der die
Hervorbringung von Texten durch Autoren in Ursprung, Verlauf und Ergebnis
festhält. Er analogisiert die Textproduktion mit dem Erzeugen von Vorstellungen
durch Traum und Wahn, in denen sich vor allem unbewusste Wünsche artikulieren.
In dieser Hinsicht umfasst Kreativität zunächst einen Primärprozeß, der nach dem Lustprinzip
abläuft. Die Wünsche unterliegen in dieser ersten Artikulation nicht der
Kontrolle durch Logik und Wirklichkeitsbezug; diese beiden Kriterien bringt
erst der Sekundärprozeß ein, der nach
dem Realitätsprinzip verfährt. Lust-
und Realitätsprinzip überlagern sich in ihren Auswirkungen auf das Endprodukt. Vorbild für diese Phasenbildung ist
die kindliche Entwicklung; darin werden beide Prozesse in chronologischer
Aufeinanderfolge gedacht. (Baasner, 152) 61. Psyche des Autors. Konkrete Autoren werden für den
psychoanalytischen Blick in gewisser Weise durchsichtig, weil sie in ihren
‘Tagträumen’ nach dem skizzierten Modell gleichzeitig Auskunft über sich selbst
geben. Ihr psychischer Zustand und die Entwicklung ihrer Vita können daraus
abgelesen werden. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Personen hinterlassen sie
sozusagen analysierbare Visitenkarten und bieten damit Anlass zu einer
psychoanalytischen Biographieforschung. Wenn angenommen wird, dass literarische
Werke durch einen von der psychischen Normalität abweichenden Kreativitätsakt
generiert werden, erscheint der Schriftsteller tendenziell als Neurotiker und
sein Text als Äußerung, die der Analyse seiner eigenen Seele dient. Wie in
Freuds Fallberichten über Patienten wird nun statt aus der Erzählung auf der
Couch aus dem dichterischen Oeuvre eine Krankengeschichte in analytischen
Kategorien abgeleitet. (Baasner, 153) 62. Lesen und Interpretation. Auch auf der Seite der Rezeption muss das
Un- oder Vorbewusste, da es einmal als gültiges Strukturprinzip der
menschlichen Psyche unterstellt wurde, als wirksam angenommen werden. Beim
Lesen erleidet oder aktiviert das wahrnehmende Subjekt ebenso wie das produzierende
Mechanismen, die nicht oder nur eingeschränkt bewusstseinsfähig sind. Sie
greifen in jeden Leseakt ein. Der erste Vorschlag, die
Rezeptionstheorie Norman N. Hollands, stellt das Lebensthema der Lesenden in den Mittelpunkt. Es wird als Teil des
Selbst in jedem Text aufs neue gesucht. „[...] wir alle benutzen als Leser das
literarische Werk, um in ihm ein Symbol unseres Selbst und schließlich unser
Ebenbild zu entdecken. Mit Hilfe des Textes arbeiten wir unsere
charakteristischen Bedürfnis- und Anpassungsmuster durch.“ (Holland 1979, 1136)
In diesem Modell wirkt der Text sozusagen wie ein Spiegel, in dem letztlich nie etwas anderes aufscheinen kann als
das, was die Lesenden hineinprojizieren. Allerdings hat der Text als
reflektierendes Medium auf das Abbild ebenfalls Einfluss, es wird unter der
formenden Wirkung der Textstruktur zurückgespiegelt. Zugleich fördert eine Lektüre nach
diesem Modell stets ähnliche Aspekte an höchst unterschiedlichen Texten zutage.
Wenn Lesende unbewusst nur nach Variationen zu ihrem Thema suchen, dann
ignorieren sie letztlich jene Textelemente, die ihre vorgegebene Auffassung
stören, oder sie vermögen bei der Lektüre mit bestimmten Texten gar nichts
anzufangen und lehnen eine Auseinandersetzung mit ihnen ab. (Baasner, 153f.) 63. Im zweiten Vorschlag wird ein
generell für alle Kommunikationsformen gültiges Interaktionsschema fruchtbar
gemacht, das beide Seiten, produzierende wie rezipierende, in symmetrischer
Weise einbezieht. Die Grundannahme besteht darin, dass in einer Kommunikationssituation
die eine Seite der anderen durch die Strukturierung ihrer Äußerungen
Rollenangebote macht. Diese werden als solche wahrgenommen und als Grundlage
für das Gespräch aktualisiert durch einen Akt der Projektion, in dem die andere Seite eigene alte Rollenerfahrungen
(in der Regel schon seit der Kindheit ausgeprägt) in diese angebotenen
Gesprächsstrukturen einsetzt. Diese Rolleninszenierung wiederum wird
beantwortet durch eine entsprechende Verhaltensweise der ersten
Gesprächsinstanz, sie schätzt das aufgegriffene Rollenmuster gemäß ihrer
eigenen Kompetenz ein und reagiert mit einer Gegenprojektion. Dieses Modell wurde in der
psychoanalytischen Therapiepraxis entwickelt und getestet; auf literarische
Kommunikation angewendet, macht es diese selbst zum Rollenspiel (vgl. Pietzcker
1992). Dabei müssen mindestens zwei Ebenen unterschieden werden: Projektion und
Gegenprojektion zwischen Autor und Publikum (textextern, aber über den Text
vermittelt) sowie zwischen Instanzen innerhalb des Textes (textintern als
impliziter Erzähler oder Leser). Die Polysemie der literarischen Texte läßt in
dieser Hinsicht eine große Bandbreite von Projektionen zu. (Baasner, 154f.) 64. Der dritte Vorschlag bezieht
sich auf eine Identifikation zwischen
Lesenden und Textelementen. Er kann als das allgemeinste Modell der Annäherung
des lesenden Subjekts an die Entwürfe, die es im Text auffindet gelten. Es geht
von der gängigen Lektüreerfahrung aus, in der sich Leser in das fiktionale
Schicksal von literarischen Figuren hineinversetzen. Insofern begünstigt es
alle jene Interpretationen, in denen besondere Affinität oder Abneigung
gegenüber Figuren eine Rolle spielen. Dabei ist es das theoretisch am wenigsten
entfaltete Modell unter den hier genannten. Die Folge ist, dass sich
literaturwissenschaftliche Arbeiten besonders oft darauf berufen. Bei der
Identifikationsannahme lässt sich scheinbar auch im Duktus eines ‘gesunden
Menschenverstandes’ verfahren. Solche theoretisch nicht ausreichend
reflektierten Anwendungen bringen die psychoanalytische Literaturwissenschaft
jedoch letztlich in Verruf. (Baasner, 155) 65. Figuren, Symbole. Wie die traditionellen
literaturwissenschaftlichen Arbeiten kann auch die psychoanalytische
Literaturbetrachtung geläufige Perspektiven einnehmen, etwa die des Blickes auf
die dargestellte fiktive Welt oder deren Bestandteile. Auf der textimmanenten
Ebene können Figuren der Handlung wie psychische Konstrukte mit einem
‘Innenleben’ betrachtet werden. Diese erscheinen als Abbilder psychischer
Konstellationen und werden analysiert, als seien sie wirkliche Menschen. Da
Figuren im literarischen Text jedoch gegenüber der Wirklichkeit in ihrer
Komplexität stark reduziert sind, stehen nur die in der Konstruktion des Textes
als wichtig modellierten Züge im Mittelpunkt. Meist aber werden nicht einmal
alle dargestellten oder deutlich erschließbaren Figurencharakteristika für die
Interpretation herangezogen, sondern nur Gruppen von auffälligen Einzelheiten.
Zu ihnen gehören vor allem die literarischen Symbole, die gedeutet werden wie
die Symbole des Traumes. Vasen, Flaschen und Höhlen als weibliche, Stangen,
Schwerter und Zeppeline als männliche Geschlechtskennzeichen gehören zu den
Deutungen, die in Zeiten breitenwirksamer ‘Küchenpsychoanalyse’ allen sogleich
auffallen. (Baasner, 155f.) 66. Eine ganze Reihe von Symbolen
und Symbolkombinationen tauchen in literarischen Texten über ein breites
Spektrum von Zeiten und Kulturen verteilt immer wieder auf. Sie bilden offenbar
ein von historischen Kontexten relativ unabhängiges Bildarsenal; insofern
scheint es gerechtfertigt, sie als Repertoire von ‘Urphantasien’ (Schönau 1991,
23) anzusehen. Hier liegt auch der gemeinsame Ursprung von Psychoanalyse und
psychoanalytischer Literaturinterpretation. Die Darstellung unbewusster Wünsche
etc. durch Symbole wird wegweisend ausgeführt in der Traumdeutung. (Baasner, 156) 67. Kritikpunkte aus
ideologiekritischer und sozialhistorischer Sicht: bedeutet Psychoanalyse nicht
ebenso wie die werkimmanente Interpretation einen Rekurs auf das Individuelle?
Einen Rückzug nach innen? Werden dabei die gesellschaftlichen Umstände nicht
insgesamt ausgeblendet? Den Kritikern galt schon bald folgendes als
Grundproblem psychoanalytischer Literaturinterpretation: dem theoretischen
Gerüst der Psychoanalyse kann über die Traumata der frühen Kindheit und deren
spätere Folgen hinaus nichts mehr von Bedeutung [...] für die Literatur sein.
Damit ist [...] jeder Einfluß gesellschaftlicher Erfahrung, materieller
Bedingungen des Schreibens usw. ausgeschlossen“ (Stenzel 1982, 13f.). Im
Gegenzug erhoben neuere Ansätze der Sozialpsychologie – die freilich meist nur
individualpsychologische Kategorien auf gesellschaftliche Gruppen übertrugen –
um so lauter den Anspruch, Bestandteil der Sozialwissenschaften zu sein. (Baasner, 156f.)
68. Lacan. Im Zuge des Neostrukturalismus ist auch die
Freud-Rezeption von Jacques Lacan bedeutsam geworden, deren Anfänge bis in die
1930er Jahre zurückreichen. Vor allem die für die Diskussion um eine weibliche
Ästhetik wichtigen Theoretikerinnen modellierten ihre Konzepte an und in
kritischer Auseinandersetzung mit „Großpapa Lacan“ (Hèlène Cixous). Charakteristisch für Lacan ist die
Verknüpfung von Psychoanalyse und linguistischen Verfahren, wobei letztere an
die Zeichentheorie Saussures anknüpfen. Über die bei Freud zu findende
Analogiesetzung von Text und Unbewusstem hinaus versteht Lacan das Unbewusste
als eine Sprache – als eine Sprache des
Begehrens allerdings, die in der erstarrten (Schrift-)Sprache nicht mehr
zum Ausdruck kommen kann. Ebenfalls im Rekurs auf Freud postuliert Lacan ein
Aufbrechen der Einheit des Zeichens. So fahndet Lacan auch nicht nach
(verdrängten) Signifikat, sondern postuliert einen Primat des Signifikanten. (Baasner, 157) 69. Die Dynamik des Sprechens
entsteht durch eine unendliche Bewegung, ein permanentes Drängen, in dem das
Subjekt sich zu konstituieren sucht. Lacan unterscheidet zwischen dem moi, dem imaginären Ich, und dem je, dem wahren begehrenden Ich. Das
Ich-Imago wird konstituiert im sogenannten ‘Spiegelstadium’ der kindlichen
Entwicklung und ist verbunden mit Spracherwerb und dem Einbruch der – realen
und symbolischen – Vaterinstanz in die Mutter-Kind-Dyade. Durch das Eintreten
in die symbolische Ordnung wird das Unbewusste als Unbewusstes erst eröffnet:
die primäre Verdrängung – Unterdrückung des Begehrens und Verlust der
präodipalen Einheit mit der Mutter – schafft das Unbewusste. Subjektwerdung ist
also nur durch Verlust möglich. (Baasner, 157) 70. Für die Literaturbetrachtung ist
von Bedeutung, dass nicht das Unbewusste von Probanden oder einer Autorinstanz
Gegenstand wird, sondern die textuelle Strukturbildung selbst. In den Text ist
das Begehren eingeschrieben als Drängen des Buchstabens, Bewegung des
Signifikanten, als unendliche Suche des Subjekts nach Identität. Insofern ist
der Text nicht das zu analysierende Zeugnis einer individuellen Verdrängung,
sondern Ausweis des begehrenden Vorsymbolischen einer- und der entgleitenden
Konstruktionsleistung andererseits. (Baasner, 157f.) 71. Struktural-poststrukturale Psychoanalyse. Jacques Lacan hat sich
zeitlebens schlicht als Interpret der Schriften Freuds verstanden. Gleichwohl
ergeben sich Unterschiede, vor allem im Hinblick auf die Linguistisierung bzw.
Strukturalisierung der Psychoanalyse wie auch im Hinblick auf die Einbeziehung
der Psychose ins Feld der Analyse. Auch die Skepsis gegenüber der Möglichkeit,
Störungen durch Erkenntnis beheben zu können, wäre aus der Zahl der
Abweichungen hervorzuheben. Mit Lacan wird die Psychoanalyse in
eine strukturale und – im gleichen Moment – in eine „poststrukturale“ oder neo-
bzw. spätstrukturale Disziplin transformiert. Lacan stellt, von Saussure
ausgehend, die Sprache ins Zentrum seiner Psychoanalyse, definiert den Menschen
als das sprechende, symbolbildende Tier und erklärt: „das Unbewußte ist
strukturiert wie eine Sprache“ (Lacan 1978, 26); Lacan liest Freuds Werk quasi
als semiotisches System. Aber er zertrennt nicht nur – in strukturaler Weise,
wie Saussure – die traditionelle Bindung von Symbol und gemeintem Referenten,
er trennt – „poststrukturalistisch“ – auch Signifikant (Zeichenkörper) und
Signifikat (Vorstellungsschema) voneinander. (Hiebel, 57f.) 72. Das Begehren. Lacan erhebt den „Wunsch“ explizit zum Zentrum der
seelischen Logik und gibt ihm den Namen „Begehren“ (désir); er lässt das
Begehren, das durch seine Beziehung zur Phantasie definiert ist, jener Kluft
zwischen „Bedürfnis“ (besoin) und „Verlangen“ bzw. „Bitte“ (demande)
entspringen, die sich im Prozess der fruchtbar-furchtbaren Separation eröffnet,
welche über das narzißtische Spiegelstadium von der dyadischen
Mutter-Kind-Totalität zum Ödipus-Komplex als dem Ende der Geburt führt: Indem
das Subjekt durch den „Dritten“, der die duale Beziehung oder Dyade in Frage
stellt – d.h. durch den Vater – in die Ordnung der Familie – die symbolische
(sprachliche) Ordnung überhaupt – eingeführt wird, sieht sich die Erfüllung des
„Bedürfnisses“ fortan auf die Formulierung des „Verlangens“ (demande) verwiesen
und können Ich und Anderer nurmehr durchs Tor der Sprache zueinander finden.
Mit der Sprache wird zugleich das Unbewusste geboren. Der Eintritt in die
sprachliche Ordnung – und somit die soziale Welt – ist der Einschnitt, der den
nostalgischen Wunsch, das Begehren, allererst provoziert. Das Begehren, der
Wunsch (die nicht-reale, quasi halluzinatorische Wunscherfüllung, die das
Unbewusste und seine „Primärprozesse“ bestimmt – im Gegensatz zu den
„Sekundärprozessen“ des „Realitätsprinzips“ sind sie dem „Lustprinzip“
zuzurechnen) stellen sich nun erst der Realität entgegen in den Träumen, den
Fehlleistungen und Symptomen. Der Begriff des Wunsches oder Begehrens trennt
demnach in radikaler Weise einen soziologischen Diskurs, der sich um die
Begriffe des „Bedürfnisses“ und des „Verlangens“ als der Dimension sozialer
Interaktion zentriert, von einem genuin psychoanalytischen, der sich auf die
Phantasmen und Gesetze des Unbewußten bezieht. (Hiebel, 58f.) 73. Das Spiegelstadium und das
Imaginäre. Den Begriffen Bedürfnis, Anspruch und Begehren entspricht in
gewissem Sinn die Trias von „Realem“, „Imaginärem“ und „Symbolischem“. Das
Reale als das Materiell-Naturhafte tritt uns nur als die durch das Symbolische
strukturierte Wirklichkeit entgegen; innerhalb der symbolischen Ordnung (der
Sprachbeziehung als Grund von Intersubjektivität) aber etabliert sich das Feld
des Imaginären: der Spiegelungen, Projektionen und Phantasmen (in Bildern und
Worten). Es hat seinen Ursprung im sogenannten „Spiegelstadium“, in welchem das
Infans (im Alter von 6-8 Monaten) sich im Spiegel oder in einem anderen Kind zu
erkennen meint und fortan sein Ich („moi“) – in einem Akt der Entfremdung und
Verkennung – nach diesem Bilde des anderen formt. (Hiebel, 59) 74. Zerstückeltsein,
Fragmentarisiertsein haben bis zu diesem Zeitpunkt die Selbstwahrnehmung des
Infans charakterisiert; jetzt wird ihm – zusammen mit der Idee der
Koordinierbarkeit seiner bislang unkontrollierten Bewegungen – das
(illusionäre) Bild einer Einheit seiner selbst vorge-“spiegelt“: Unser Ich ist
demnach modelliert nach der Imago des anderen, ist „imaginär“; das Ich ist ein
anderer. Imaginäre Identifikationen, Vermengungen von Ich und anderem,
Projektionen usw. sind das Zeichen dafür, dass sich ein selbständiges Ich noch
nicht ausgebildet hat. Und auf dergleichen imaginäre Vorstellungen fällt das
Subjekt und besonders derjenige, dessen Einführung in die „symbolische Ordnung“
mittels der ödipalen Ereignisse nicht glückt, immer wieder zurück; im Falle der
Psychose führt die Regression zurück bis auf die Vorstellung vom zerstückelten
Körper. (Hiebel, 59f.) 75. Die duale Beziehung zwischen Ich
und anderem wird im Verlauf des ödipalen Dramas durchbrochen durch den Dritten:
den Anderen. Der Vater als Repräsentant der symbolischen Ordnung führt zur
Separation von Mutter und Kind; dieser „symbolische Vater“ fungiert schlicht
als Name, als Name-des-Vaters. Der Name oder das Nein des Vaters,
die das Inzesttabu als primäres Gesetz verkünden, durchschneiden die
Mutter-Kind-Dyade und ermöglichen durch diesen Schnitt der „symbolischen Kastration“
dem In-fans, dem Nicht-Sprechenden, den Zugang zur symbolischen Ordnung und
damit zur Selbständigkeit des Ich („je“). Aber mit dem Eintritt in die Sprache
(und ihre symbolische Ordnung) ist auch schon das Unbewusste gesetzt, denn
dieser Eintritt bedeutet zugleich den Ausgang aus dem ‘Paradies’ der Symbiose
und damit jene Urverdrängung, die das Subjekt spaltet. Das vom anderen
abgespaltene Subjekt ist fortan ein Ich, das durch einen Mangel charakterisiert
ist: den Verlust der imaginären Einheit mit der Mutter. Es muss das Begehren
nach der verlorenen Einheit verdrängen, oder umgekehrt: die Verdrängung
generiert dieses Begehren. (Hiebel, 60f.) 76. Der Phallus. Die imaginäre ‘Symbiose’ zerbricht indessen auch dann,
wenn das Kind erkennt, dass die Mutter noch ein anderes Begehren als das nach
dem Kinde hegt: das nach dem Dritten.. Der „Phallus“ wird zum (imaginären)
Zeichen dessen, was das Kind sein
oder haben müsste, um sich das
Paradies weiterhin sichern zu können; er ist Symbol eines imaginären Zauberschlüssels
zur Einheit und Ganzheit, er hat nichts (nichts Wesentliches) mit dem
biologischen Geschlechtsunterschied zu tun. Damit ist auch der Gegensatz von
Phallus-Haben und Kastriert-Sein ein rein symbolischer und kann auf beide
biologischen Geschlechter bezogen werden. (Hiebel, 61) 77. Metapher und Metonymie. Da das Unbewusste wie eine Sprache
strukturiert ist, konstituiert sich der Diskurs des Anderen aus materiellen
Signifikanten; nur können diese für alles stehen außer für das, was sie sagen.
Auch sind die Signifikanten letztlich abgekoppelt von einem Signifikat, dem
verlorenen Objekt „a“ bzw. dem imaginären „Phallus“, der dieses Objekt
substituiert. Es ist der Schnitt zwischen
Signifikant und Signifikat, der das „poststrukturalistische“ Moment an Lacan
indiziert und die Verwandtschaft mit Derridas Konzept der „différance“, des
unaufhebbaren Aufschubs, markiert. Saussure hatte deutlich gemacht, dass es
keinen für sich bestehenden
Signifikanten gibt, dass jeder „Signifikant“ die Spur aller anderen in sich trägt, „Differenzen“ zu allen anderen
Signifikanten eines gegebenen „Wert“- bzw. Bezugs-Systems in sich vereint. Erst
der jeweilige Kontext weise dem
arbiträren Signifikanten ein Signifikat zu. Diese Lockerung des Bandes zwischen
Signifikant und Signifikat radikalisieren Lacan und der gesamte
Spätstrukturalismus. (Hiebel, 62) 78. Metapher und Metonymie werden
mit Freuds „Verschiebung“ und „Verdichtung“ in Verbindung gebracht. Im Traum
ist bekanntlich jede feste Zuordnung von Zeichenkörper und Bedeutetem, von
Signifikant und Signifikat aufgelöst. Ein Pferd kann – metaphorisch – für den
leiblichen Vater stehen; eine „Bahre“ kann, obgleich dies widersinnig scheint,
auf metonymischen Weg für das Begehren nach einer bestimmten Person stehen, nur
weil der Zufall einmal beides miteinander verband. Lacan geht in seiner Definition von
Metapher und Metonymie mit R. Jakobson auf die zwei Grundfunktionen der Sprache
zurück, die paradigmatische bzw. selektive, die er in Beziehung zur
Metapher (und zur „Verdichtung“) setzt, und die syntagmatische bzw. kombinatorische,
die er mit der Metonymie (und der „Verschiebung“) in Verbindung bringt.
(Hiebel, 63f.) 79. Für Lacan sind nicht nur der
Traum, das Symptom und die Fehlleistung Ausdrucksformen unbewusster
Bedeutungen, sondern dies gilt ausnahmslos für jede menschliche Artikulation.
Da die poetische hier nicht auszunehmen ist, gilt für viele sich an Lacan orientierende
Literaturinterpreten der struktural-psychoanalytische Ansatz nicht als
fachfremd und einseitig, sondern als universell und notwendig. Diese
Interpreten setzen sich das Ziel, das Gesetz
eines gegebenen Zeichen-Gefüges zu eruieren. (Hiebel, 64) 80. Poe: ‘Der entwendete Brief’. Lacan bestimmt die Literatur als
Zeichen-Botschaft mit Ausradierungen, Auslassungen, Anspielungen, Metonymien
und Metaphern, als doppelten (bewusst-unbewussten) Diskurs. Zu Edgar Allen Poes Der entwendete Brief . Eine Person, nach
Lacan die Königin, muss zusehen, wie ihr ein sie kompromittierender Brief, von
welchem der König nichts wissen darf, vom Minister D-- entwendet wird. Diese
Konstellation wiederholt sich, als der Detektiv Dupin dem Minister den offen
daliegenden – und insofern verdeckten, von niemand erkannten – Brief stibitzt
und eine Art von Faksimile hinterlegt. Der Brief als Buchstabe oder der
Buchstabe als Brief – Signifikant des Begehrens als des Begehrens des Anderen –
erhält seine (für das Unbewusste relevante) Bedeutung nur durch das Begehren
des Anderen. Das Begehren („désir“), entsprungen dem Mangel, imaginiert sich das
Zeichen einer Allmacht, das Szepter, in der Hand des Andern. Dem jeweiligen
Besitzer ist der Brief/letter/Buchstabe Machtmittel und zugleich Gefahr, er
allegorisiert Phallus und Kastration. Sein Zirkulieren symbolisiert das
unentwegte Changieren von Phallus und Kastration. (Hiebel, 64f.) 81. Applikationen der Theorie Lacans auf dem Feld der Literaturtheorie und
-interpretation. Die Applikation von Lacan auf die Literatur geschieht
nicht in der Weise, dass man – wie in der strukturalistischen Literaturanalyse
– eine fundamentale Grammatik der Poesie
zu etablieren versucht, sondern dadurch, dass man 1. verschiedene Aspekte
literarischer Texte aufzuhellen trachtet und 2. die Struktur des Subjekts (nach
Lacan) in der Poesie zu finden sich bemüht. (Hiebel, 66) 82. Friedrich A. Kittler. Kittler verbindet die Foucaultsche
Diskurstheorie mit der – historisierten – Theorie Lacans. In einigen Studien
behandelt er die Konstituierung und die Veränderung der Struktur der modernen
Familie sowie deren Korrelate in der Psyche wie im Diskurs von der Psyche. Zwei Stufen des Paradigmawechsels
setzt Kittler an: jene mit Lessing gegebene der symbolischen Vaterschaft, in
welcher die symbolische und die reale Funktion des Vaters noch zusammenfallen,
sowie jene am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Konstellation, in welcher
es zu einer Trennung von symbolischem und realem (schwachem, degradiertem)
Vater komme und das Begehren des Kindes fortan von den Müttern codiert werde.
(Hiebel, 68) 83. In seiner Studie über E.T.A.
Hoffmanns Der Sandmann macht Kittler
deutlich, dass die Psychoanalyse literarischer Texte – bei Freud wie Lacan –
nicht auf den empirischen Autor und seine vermeintlichen Pathologien abhob. Es
gehe ihr um Zurückführung von Willkür
auf Gesetz (und nicht von Fiktionen
auf Fakten). Kittler zufolge ist im Sandmann
– Freud habe das jedoch im Prinzip schon geleistet – die Verdoppelung bzw.
Spaltung der Vaterfigur (Vater Nathanaels/Coppelius und Spalanzani/Coppola) zu
erkennen, die symbolische Qualität der Augen wie die Substituierbarkeit
derselben (Kastrationsmetaphorik) zu entdecken, die narzißtisch-imaginäre
Spiegel-Beziehung Nathanaels zur Puppe Olimpia sowie die Parallelität der
verschiedenen Zerstückelungsphantasien (Nathanael/Olimpia) usw. zu entziffern.
(Hiebel, 70) 84. Mit Lacans Hilfe gelingt die
Erhellung des psychotischen Aspekts
der erzählten Ereignisse und auch die Historisierung
der Erziehungspraktiken, die zu Nathanaels Wahnvorstellungen führten bzw. die
Historisierung von Psychopathologien im allgemeinen. Freuds Verknüpfung von Augen-Angst
und Kastrations-Angst verbindet Kittler mit dem Lacanschen Theorem des Gleitens
des Signifizierten unter dem Signifikanten. Denn Signifikanten können für alles
stehen, was in ihnen nicht (direkt) gesagt ist. In diesem Sinne werden Augen,
Puppe, Sandmann usw. als Elemente eines literarischen Zeichensystems gelesen.
(Hiebel, 70f.) 85. Das „Phantom unseres Ichs“
erscheint als phantasmatisches Produkt des Spiegelstadiums. Die von Nathanael
in narzißtischer Weise begehrte Automatenpuppe Olimpia ist eine Entsprechung
dieses phantasmatischen Ich; kein Wunder, dass sie in der psychotischen Krise
zerfällt. Das Bild der Automatenpuppe ist also ein Korrelat der – nach Lacan
immer vom Zerfall bedrohten – Imago des Ich, das nicht Herr der Bilder, sondern
aus Bildern zusammengeleimt ist. (Hiebel, 71) 86. Das von der Zerstörung bedrohte
Auge – Element der imaginären Beziehung zwischen Nathanael und Olimpia bzw.
zwischen Kind und Mutter – wird, so Kittler, in der Erzählung wie in der
Theorie Lacans durch den Auftritt des Dritten zu einem Symbol des Phallos. Da
aber die Einführung in das Gesetz im Namen-des-Vaters nicht gelinge, befinde
sich Nathanael fortan in der Gefahr des psychotischen Rückfalls in den
imaginären und prä-imaginären Zustand, kehre der Schrecken der ursprünglichen
Zerstückelung wieder. Im Rückgriff auf Lacans Thesen weist
nun Kittler einer solchen Pathologie und einer solchen Erzählung ihren
historischen Ort zu: eben den der Konfundierung des realen Vaters mit dem
symbolischen in der Epoche des Verfalls der Vater-Imago. Damit ist aber auch
der Psychoanalyse selbst ihr historischer Ort zugewiesen: „Die Psychoanalyse
verbleibt in jenem Diskursraum, der die Macht der Primärsozialisation erfunden
und praktiziert hat“ (Kittler 1978a, 112). (Hiebel, 71)
87. Helga Gallas. Eine
rein an Lacan orientierte Textanalyse stellt Helga Gallas’ Studie zu Kleists
‘Michael Kohlhaas’ dar. Gallas segmentiert zunächst das narrative Syntagma
dieser Erzählung im Sinne des frühen Strukturalismus. Die Ausgangssituation ist
die der scheinbar intakten Welt. 1. In der ersten Handlungs-Sequenz
tritt Kohlhaas ein überlegener „Herausforderer“, der Junker Wenzel von Tronka,
entgegen, beraubt ihn der Pferde und erniedrigt ihn zum „Gedemütigten“. 2. Die zweite Sequenz führt zu einer
Umkehrung der Machtverhältnisse. Der Junker schmachtet im Stadtgefängnis zu
Wittenberg. Kohlhaas hingegen hat sich mit Hilfe seines Kriegshaufens selbst
zum Machthaber ernannt. 3. Es kommt zu einer Wiederholung
dieser zwei Sequenz-Typen. Die dritte Folge nämlich wirft Kohlhaas auf die
Position des „Gedemütigten“ zurück. Sein Gegenspieler ist nun der Kurfürst. 4. Der Kurfürst von Sachsen erblickt
die Kapsel am Halse des Kohlhaas, in der sich die Weissagung der Zigeunerin
befindet; fortan ist er abhängig von Kohlhaas. Dieser ist nun in der Position
des Überlegenen, auch wenn er mit dem Tode bezahlt. (Hiebel, 72f.) 88. Gallas behauptet nun, die vier
Handlungs-Sequenzen seien Transformationen ein und derselben Struktur; die
Elemente bzw. Positionen dieser Struktur (Personen, Pferde, Kapsel) seien nicht
in ihrer realen, sondern nur in ihrer symbolischen Bedeutung zu verstehen, denn
die Pferde seien z.B. durch die vom Kurfürst so begehrte Kapsel substituierbar,
der Junker Wenzel werde durch den sächsischen Kurfürst ersetzt usw. Um die Pferde als reale und
bestimmte Objekte scheint es Kohlhaas letztlich nicht zu gehen. Auch um das
Recht-Haben und Recht-Bekommen geht es am Ende nicht mehr, sondern nur noch um
das sadistische „Quälen-Wollen“. Auch verlagert sich Kohlhaas’ Hass vom Junker
von Tronka auf den Kurfürsten von Sachsen, wodurch deutlich wird, daß beide
Personen auf etwas jenseits ihrer
selbst verweisen, d.h. als Repräsentanten des Namens-des-Vaters in Erscheinung
treten. Dass die Positionen des „Herausforderers“ und des „Gedemütigten“
wechseln können, macht deutlich, dass es weniger um reale Macht als vielmehr um
eine Zirkulation von Symbolen der Macht (des „Phallus“) geht. Man kann also davon ausgehen, dass
das Objekt des Begehrens wechselt, dass mithin auch diese Objekte als reale auf
ein hinter ihnen sich verbergendes, sich entziehendes imaginäres Objekt des
Begehrens verweisen – das verlorene „Objekt a“, den „Phallus“ als Symbol einer
imaginären Einheit. Sie fungieren als Signifikanten des Begehrens. (Hiebel,
73f.) 89. Die Struktur (das Paradigma) des
Erzähl-Syntagmas kann nun auf die ödipale Dreieckskonstellation bezogen werden,
in der Kohlhaas die „Position des Sohnes einnimmt, der Landesvater die Position
des Vaters und die Zigeunerin die zwischen ihnen vermittelnde mütterliche
Instanz“. Es geht um das Zirkulieren eines Signifikanten, der jeden Moment
verloren gehen kann. Der Signifikant wird lebendig, wenn
das Begehren des Anderen ins Spiel kommt: Die Weissagung wird nur deshalb für
Kohlhaas zum begehrten Objekt und zum Machtmittel, „weil dieser Zettel das
Objekt des Begehrens eines anderen ist“. Nicht nur durch den Anderen sind das Objekt des Begehrens und der Signifikant
gesetzt und bestimmt, das Objekt bzw. der Signifikant werden unaufhörlich zum Anderen, sie ändern sich. Das Subjekt ist „gezwungen, etwas anderes zu begehren
als das, was es ursprünglich begehrte“. (Hiebel, 74f.) 90. Gallas bezieht also die Struktur
der Erzählung auf die Ursprünge des Begehrens: die Trennung von Kind und erstem
Liebesobjekt, von Signifikant und fortan unerreichbarem Signifikat; sie bezieht
sie auf die Ursprünge der Substituierbarkeit von Vater- und Mutterimagines, von
Autoritäts- und Wunsch-Bildern. Metaphorische Substitution und metonymische
Verschiebung sind unabänderliche Gesetze der „symbolischen Ordnung“. Und da
dieses Gesetz vor der literarischen Fiktion nicht halt macht, meint Gallas mit
Lacans Hilfe nicht nur eine partikulare (psychologische) Schicht der Erzählung
freigelegt, sondern am Text die (spezifische) Artikulation eines universellen Gesetzes demonstriert zu
haben, d.h. die (spezifischen) Formen des doppelten (bewusst-unbewussten)
Diskurses des gespaltenen, durchgestrichenen Subjekts. Daher eröffnet für sie Lacan ein
Verfahren, das über die vordergründige Eigentlichkeit literarischer Texte
hinauszugehen gestatte, das Wörtlich-Reale, das bewusst Symbolisierte, das
Philosophische oder das Soziale des Textes zu überschreiten erlaube. (Hiebel,
75) 91. Kafka und die Moderne. Hiebels Studien zu Kafka gehen an
verschiedenen Stellen auf Lacan zurück; die Methode ist als die des
parasprachlichen Kommentars zu verstehen, der kongeniale Parallelen zwischen
werkimmanenten Textbefunden und Lacanschen Theoremen aufzuweisen versucht. Aus
Texten Kafkas werden Strukturen des Imaginären (Spiegelungen, Narzißmen),
Zeichen des abwesenden „Symbolischen Vaters“ und Bilder der „symbolischen
Kastration“ herausgehoben. (Hiebel, 76) 92. Die Studie zu Kafkas Ein Landarzt , die nicht als
„Traum“-Text im Sinne des Semiotik symptomatischer Primärprozesse, sondern als Simulation der Semiose des Unbewussten
verstanden wird, illustriert die bei Kafka in Szene gesetzte endlose
Verschiebung des Signifikats, das immer wieder in die Position des
Signifikanten rutscht. Es etabliert sich eine (kreisförmige) Kette von
metaphorischen Substitutionen, ein Metaphern-Zirkel: „Rosa“, die rosa „Wunde“,
die „rot eingedrückten Zahnreihen“ usw. formieren die (zirkuläre) Kette der
einander (wechselseitig!) ersetzenden Signifikanten. Da jedes Element dieser
Kette sowohl in der Position des Signifikanten als auch – für einen Moment – in
der Position des Signifkats stehen kann, wird die Fixierung eines letzten
Signifikates verhindert bzw. hinausgeschoben. (Hiebel, 76f.) 93. Das Subjekt ist gespalten, es
verfügt nicht über den von und in ihm abgespaltenen, ausgesperrten Teil. So
zeigt sich im Landarzt, dass das
Subjekt des Textes nur in einer permanenten Aufschubbewegung fassbar ist und
dass es in verschiedene, imaginäre Bilder oder Spiegelungen zerfällt: Arzt,
Patient, Knecht und Magd sind Imagines ein und derselben Person. (Hiebel, 77) 94. Im Zuge einer
psychosemiologischen Neulektüre Freuds durch Jacques Lacan, einer
dekonstruktiven Lektüre Freuds und Lacans und der feministischen Kritik wurden
neue Forschungsansätze und -gebiete entwickelt. Sie betreffen insbesondere eine
Theorie der Psyche als Text, den Phantasiebegriff und die kulturelle Funktion
von Literatur. (Haselstein, 295) 95. Freuds Formel, der Träumer „weiß
nicht, was er weiß; vielmehr: er weiß es doch, aber er weiß nicht, dass er es
weiß und glaubt daher, dass er es nicht weiß“ (Freud 1973a, 98) beschreibt die
Dezentrierung des Subjekts und zugleich den Anspruch der Psychoanalyse, in das
Gleichgewicht miteinander im Konflikt liegender psychischer Kräfte, die dieses
Nicht-Wissen produzieren, eingreifen zu können. Die Grundannahme der
psychoanalytischen Theorie der Subjektivität besteht darin, dieses
Nicht-Wissen, das der Rätselhaftigkeit des Traumes entspricht, als Symptom
eines allgemeinen Gesetzes des psychischen Apparats aufzufassen, das auch für
diejenigen psychischen Produkte gilt, die in ihrer Bedeutung scheinbar
transparent sind und der Kontrolle des Bewusstseins unterliegen. Ausgehend von
einer Praxis der Traumdeutung konstruiert Freud psychische Prozesse der
Verdichtung und Verschiebung als Regulative der Relation von Unbewusstem und
Bewusstem. (Haselstein, 295) 96. Die psychoanalytische Bestimmung
des Traums als Wunscherfüllung gibt dem Nicht-Wissen des Träumers strukturelle
Bedeutung: die Schrift des Traums markiert die Verschlüsselung einer
narzißtischen innerpsychischen Botschaft, die gelesen wird (d.h. halluzinatorisch
einen Wunsch erfüllt) unter der Bedingung des Nicht-Wissen-Wollens des
Subjekts. Der Traum gilt dabei jedoch nicht als Übersetzung oder Entstellung
eines ursprünglichen, unzensierten Wunsches, sondern stellt sich originär als
Ensemble von Spuren von etwas dar, das als Wunsch immer nur nachträglich in der
Lektüre rekonstruiert werden kann. Lacans Ausarbeitung dieses Konzepts
beschreibt die Psyche als ein differentielles System, das Texte generiert,
übersetzt, bearbeitet, registriert, zirkuliert, zensiert, zitiert, liest und
übermittelt. (Haselstein, 295f.) 97. Das Subjekt ist Effekt dieser
Texte; in jedem zerfällt es in verschiedene Positionen. Bezogen auf Akte
intersubjektiver Kommunikation ergibt sich daraus, dass erstens jeder als Akt
der Wiederholung und Verdrängung eines Wunsches zu gelten hat, dass aber
zweitens außerdem die kulturell spezifischen Phantasien bestimmt werden müssen,
die die Subjektpositionen von Sprecher und Hörer füreinander identifizierbar
machen, so dass ein bestimmter Akt des Lesens, nämlich ein Verstehen, das
notwendig Missverstehen ist, regelmäßig zustande kommt. Die Psychoanalyse macht
sich diese Übertragungsphänomene zunutze, setzt die Sprache als System, das die
Identifizierung eines Signifikanten mit einem Referenten verunmöglicht und
zugleich herausfordert, und sucht die Rhetorik des Unbewussten und die nicht
kontrollierbaren, aber regelmäßigen Subjektivitätseffekte dieser Texte zu
entziffern. (Haselstein, 296) 98. Freud unterschied zwei
Prinzipien psychischen Geschehens: das Lustprinzip bestimmt jede psychische
Tätigkeit als Wiederholung eines früheren Befriedigungserlebnisses, wandelt
sich jedoch nach Maßgabe äußerer Zwänge und kultureller Einschränkungen zum
Realitätsprinzip um. Mithilfe der Prozesse der Verdichtung und Verschiebung
wird der obsolete Wunsch nach Wiederholung einer früheren, nicht mehr
zugänglichen Lust auf die mannigfachen kulturellen Objekte sozial verträglicher
Befriedigung verlagert. Instanzen des psychischen Apparates (Ich und Über-Ich)
bewerkstelligen diesen Transfer und blockieren zugleich systematisch die
Bewusstwerdung der nach wie vor insistierenden, die bewussten Ziele und
Handlungen insgeheim motivierenden Wünsche. Bereits der Begriff des frühen
Befriedigungserlebnisses impliziert jedoch die Erfahrung eines ihm
vorausliegenden Mangels, so dass das Realitätsprinzip im Lustprinzip selbst
angelegt ist. Diese Einsicht wird in Freuds späterer Abwandlung dieser
Konzeption in der Theorie des Antagonismus von Eros und Todestrieb
aufgegriffen. (Haselstein, 296) 99. Sein wichtigstes Beispiel in
diesem Zusammenhang, das Fort/Da-Spiel, wird von Lacan reinterpretiert und
erhellt dann die ursprüngliche Nachträglichkeit aller psychischen Darstellungen
sowie die Dispersion der Subjektpositionen durch die Performativität des
Sprechens. Die Erfahrung der Abwesenheit der Mutter wird durch das Spiel mit
einem Gegenstand sowie durch die Artikulation der Signifikanten „o-o.o / da“
symbolisch wiederholt. Der Wunsch nach der Anwesenheit der Mutter wird auf ein
Ersatzobjekt, die Garnspule, verschoben; Wut und Angst als Konsequenz der
Enttäuschung des „Fort“-Seins der Mutter machen dem Stolz über die Kontrolle
des Ersatzobjektes Platz, das nun anstelle der Mutter fort / da ist;
schließlich vervielfältigt das Spiel mit der Spule die Positionen des Subjekts,
da in ihm auch eine Identifikation mit der Mutter angelegt ist; die narzißtisch
behauptete Selbstsuffizienz ergibt sich unmittelbar aus dem Wunsch nach der
Anwesenheit der Mutter zur Komplettierung des eigenen Seins und ihrer
Inkorporierung in das Subjekt als einer Anderen. In der Bestimmung „fort / da“,
die den Verlust der Mutter und das Ich als verlassenes benennt und verneint,
verschiebt, in phantasmatisches Handeln übersetzt und schließlich im Hinblick
auf ihre ersehnte Rückkehr zu perspektivieren erlaubt, sind das Objekt und
(verschoben) das Subjekt das Effekte der differentiellen Relation von An- und
Abwesenheit des Symbolischen markiert; sie sind voneinander getrennt und
gleichwohl durch das Begehren aufeinander bezogen. (Haselstein, 296f.) 100. Das Fort/Da-Spiel weist damit
auf die Grundfigur aller kulturellen Ordnung voraus, die Geschlechterdifferenz,
Inzesttabu und normative Heterosexualität im Ödipuskomplex zusammenschließt:
die symbolische Ordnung erzeugt in Szenen wie dem Fort / Da-Spiel nicht nur das
Subjekt als gespaltenes, sondern transkribiert auch die kulturellen Regeln, die
darüber bestimmen, wer und was fort oder da ist oder sein kann oder begehrt
werden darf. (Haselstein 297) 101. Die Betonung der unbewussten
Phantasien, die Hervorhebung von Instabilität, Ambivalenz, Vertauschbarkeit der
Subjektpositionen in ihren Szenarien sowie das Konzept der Rhetorik des
Unbewussten kennzeichnen eine psychoanalytische Texttheorie, derzufolge jede
Äußerung die diskursiven Parameter der Repräsentation ausnutzt, um sie zu
subvertieren. Literarische Texte bilden die kulturelle Institution, innerhalb
welcher die Differenz des Begehrens, die den normativen Anspruch der
kulturellen Ordnung der Repräsentation unterminiert, als solche markiert und
ausgespielt wird; zugleich wiederholen und bekräftigen sie in ihrer Performanz
den Gesellschaftsvertrag des Fort/Da-Spiels. (Haselstein, 297) 102. Psychoanalytische
Literaturwissenschaft nach Lacan und Derrida versteht sich in ihrer vielfachen
Berührung mit der Dekonstruktion zunehmend als Kulturwissenschaft, die gegen
die hegemoniale symbolische Ordnung das Verdrängte nicht des Autors oder einer
literarischen Figur, sondern der Texte liest, dabei jedoch zugleich die
Phantasien einer Kultur als Machtstrukturen entziffert. (Haselstein, 297f.) 103. Die Wechselbeziehungen zwischen
Literatur und Psychologie ergeben sich einmal aus der psychologischen Dimension
der Literatur selbst, zum andern aus dem notwendigen Gebrauch psychologischer
Termini bei der Interpretation literarischer Texte, der Erhellung der Beziehung
von Autor und Werk und der Analyse der Werkrezeption durch den Leser. In der
langen Geschichte dieser Wechselbeziehungen lassen sich drei Behandlungsformen
des Themas Literatur und Psychologie unterscheiden. (Reh, 51) 104. Der laienpsychologische Ansatz. Wer in wissenschaftlich ernstzunehmender
Weise z.B. das Thema ‘Literatur und Gesellschaft’ behandeln will, von dem wird
erwartet, dass er dabei von den Perspektiven der Literaturwissenschaft und der jeweiligen Bezugswissenschaft,
hier: den Sozialwissenschaften, ausgeht. Wer dagegen in der
Literaturwissenschaft psychologische Aspekte in die Interpretation einbezog,
pflegte das in der Regel ohne jeden Bezug auf wissenschaftliche Psychologien zu
tun. Statt wissenschaftlicher Psychologie also hausbackene Psychologie, die dem
privaten Erfahrungsbereich des Interpreten entstammt. Und dies wurde (und wird)
nicht nur auf die „Menschen innerhalb der Dichtung“ angewandt, sondern auch auf
den Autor und seinen Leser. Bei diesem Vorgehen schleicht sich
ein subjektiver Faktor, unbemerkt vom Interpreten, in die Analyse ein. Denn
Anti- und Sympathien überträgt der Interpret mehr oder weniger unbewusst auf
fiktive Charaktere und Eigenschaften, wobei dann eine bestimmte Vorliebe nur zu
leicht zum Vorurteil wird. (Reh, 51f.) 105. Der historische Ansatz. Er geht aus von der zeitgenössischen
Psychologie, so weit sie der Autor gekannt hat und sie im Werk sichtbar zu
machen ist. Die Poetik des
Aristoteles z.B. ist von der Psychologie der attischen Zeitgenossen
ausgegangen. Ebenso hat Lessing die Grundperspektiven seiner Wirkungsästhetik
aus den psychologischen Erfahrungen des 18. Jahrhunderts entwickelt. Wer in seiner Interpretation von
solchen historisch orientierten fachpsychologischen Ansätzen ausgeht, erfasst
damit das ‘Psychologische’ an der Dichtung in dem Maße, in dem es in der
jeweiligen historischen Epoche zum Inhalt
des Bewußtseins der Dichter und Theoretiker geworden war. In diesem Sinne
wurde das Thema Literatur und Psychologie eines der vielen Unterthemen der
Geistesgeschichte. Im geistesgeschichtlich orientierten
psychologischen Verständnis des literarischen Werkes und seiner Wirkung ging es
um die Erfassung des inneren Verhältnisses von zeitgenössischen psychologischen
Erkenntnissen und dichterischem Ausdruck, den diese vor allem in dramatischen und
epischen Werken fanden, womit die Hauptfehlerquelle des laienpsychologischen
Ansatzes vermieden wurde. (Reh, 52f.) 106. So relevant und legitim dieser
literaturpsychologische Ansatz ist, so begrenzt und unvollständig sind seine
Ergebnisse. Denn in ihm wird nur der Anteil des ‘Psychologischen’ in der
Dichtung erfasst, der zum Inhalt des
Bewußtseins des Dichters oder Theoretikers geworden ist. Ausgesprochen oder
unausgesprochen basiert dieser Ansatz auf der Prämisse, dass das
‘Psychologische’ im Werk nur die Widerspiegelung dessen sein könne, was der
Dichter bewußt hineingearbeitet hat.
Wieweit Charaktere, Handlungsmotive und -entwicklungen, poetische Bilder und
Symbole Ausdruck unbewußter Intentionen
des Dichters sind, das will und kann diese Forschungsmethode nicht zur
Diskussion stellen. (Reh, 53) 107. Der fachpsychologische Ansatz. Die interpretatorische Situation
änderte sich grundlegend, als die kurz vor der Jahrhundertwende entstandene Tiefenpsychologie in Gestalt der von
Sigmund Freud entwickelten Psychoanalyse
mehr und mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit drang. „Diese Theorie ... ist
bis in die letzten Konsequenzen geprägt von der These, daß es einen Bereich,
eine energiegeladene Sphäre gibt, die in höchstem Maße und ohne Unterbrechung
aktiv, wirkend ist und von der ich doch nichts weiß.“ „Freuds Stellung zur neuzeitlichen
Philosophie ist nun dadurch gekennzeichnet, daß er deren Identifikation von
Seele und Bewußtsein zerstörte. Aber anders als seine Vorläufer bei der
Formulierung einer Philosophie des Unbewußten
[...] konstatiert Freud nicht einfach die Existenz eines ‘Anderen der
Vernunft’, sondern deckte die Dynamik zwischen Bewußtsein und Unbewußtem auf.
So erscheint bei ihm das Unbewußte nicht länger als ein Irrationales, vielmehr
als eine spezifische Ordnung oder Sprache, die der Entzifferung, und das heißt:
der Aufklärung zugänglich ist.“ Die verschiedenen Modellentwürfe vom
Unbewussten wurden zu einheitlichen Lehrgebäuden ausgebaut, die sowohl auf den
Neurotiker als auch auf den ‘normalen’ Menschen anwendbar waren. (Reh, 54f.) 108. Freuds Beziehung zur Literatur
und Kunst ist genuiner Art. Im Gegensatz zur akademischen Psychologie und
Psychiatrie seiner Epoche „war es Freuds eigentliches Ziel, menschliche
Leidenschaften zu verstehen“. Drama und Roman verhalfen ihm so von Anbeginn an
zu einem besseren Verständnis des Leidenschafts-, oder wie er es nennt, des
Trieb-Potentials der Psyche. (Reh, 55) 109. Die Psychoanalyse hat es mit inneren Zuständen zu tun, wie sie aus
dem Gegeneinander von Wirksamkeit und Abwehr (bis hin zur Verdrängung) der
Leidenschaften und der Antriebe entstehen. Sie versucht deshalb zunächst und
vor allem den Sinn solcher innerer Zustände wie Depressionen, Manien,
Euphorien, Aggressionen, der Minderwertigkeitsgefühle und Geltungsansprüche,
der Gefühle der inneren Leere und der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz, der
verschiedenen Formen der Angst zu verstehen. Für Charaktereigenschaften und
Verhaltensweisen interessiert sie sich nur insoweit, als diese aus solchen inneren
Zuständen hervorgegangen sind. (Reh,
55) 110. Ein solcher Forschungs- (und
Therapie-)Ansatz ist damit zugleich eine Annäherung an das psychologische
Grundthema der Weltliteratur von der Antike bis zur Moderne: nämlich an die
Darstellung des inneren Zustands einer fiktiven Gestalt und deren Entwicklung,
die Ausdruck einer Wandlung dieses inneren Zustands ist. Es gibt eine Fülle von
Beispielen aus der Weltliteratur, in denen ein fiktiver Charakter ein Verhalten
zeigt, das in sonst unerklärlichem Widerspruch zu seiner anfänglich oder früher
gezeigten Haltung oder zu der Erwartung steht, die an seine gesellschaftliche
oder familiäre Rolle gestellt wird. Von der Analyse des inneren Zustands
fiktiver Personen in Roman und Drama ist es dann nur noch ein Schritt zur
Analyse des inneren Zustands von Autor und Leser, also zur Psychoanalyse der
Genese und der Wirkung, bzw. Rezeption
des Werkes. Und selbst das Problem der literarischen Form (bzw. des Stils)
haben zumindest Freud und seine Schüler psychoanalytisch zu erhellen versucht.
(Reh, 56) 111. Das klassische Freudsche Modell. Die Methode, mit der es Freud
gelungen ist, den inneren Zustand eines Menschen in seiner individuellen
Ausprägung zu erfassen, ist die Traumdeutung. Der Traum ist für Freud die via
regia zum Unbewussten, seine Deutung das Kernstück jeder Psychotherapie. Wie in
der Literaturwissenschaft steht also auch im Zentrum der psychoanalytischen
Arbeit die Deutung von ‘Phantasiematerial’. Die besondere Leistung Freuds in seiner Traumdeutung bestand darin, als erster Träume zum Gegenstand einer
wissenschaftlichen Betrachtung gemacht und für ihre Deutung eine
wissenschaftliche Methode entwickelt zu haben. Freud vermochte zu zeigen, dass
Träume bestimmte Strukturen haben, nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten verlaufen
und stets eine Bedeutung haben und zwar zunächst für den Träumer selbst. (Reh,
57f.) 112. Wir träumen aber nicht nur im
Schlaf, wir haben auch Tagträume, die uns ständig begleiten und mehr über uns
aussagen als unser alltägliches Tun und Sagen. Die Psychoanalytiker konnten sich
mit ihrer These, dass Traum und Dichtung ihrer Natur nach verwandt seien, auf
die Dichter berufen. So sagt z.B. Jean Paul: „Der Traum ist unwillkürliche
Dichtkunst“. Was ist Traum und Dichtung
gemeinsam? Sie wurzeln – zumindest partiell – im Unbewussten. Während der
Nachttraum ein reines Produkt des Unbewussten ist, erfahren die Phantasien des
Tagtraums eine deutliche Kontrolle durch das Bewusstsein, in ähnlicher – wenn
auch keineswegs gleicher – Weise wie die Einbildungskraft der bewussten
Kontrolle (und Gestaltung) des Dichters unterworfen ist. (Reh, 58) 113. Die große Entdeckung der
Psychoanalyse war das Phänomen der Verdrängung.
Im Gegensatz zur bewussten Unterdrückung von Triebkräften, wie sie z.B. der
Asket übt, ist der Persönlichkeit nicht bewusst, wann und was sie verdrängt. Freud sieht die Psyche als
permanenten Konfliktzustand.: der
Anspruch der Leidenschaften, des Triebpotentials stößt auf Abwehr und erleidet
in vielen Fällen das Schicksal der Verdrängung. Auch Einsichten in Aspekte
unseres Selbst, die mit unserem Selbstwertgefühl nicht übereinstimmen, begegnen
einem bewussten Widerstand ebenfalls bis hin zur Verdrängung. Die Verdrängung beginnt als Folge
der Erziehungseinflüsse bereits in den verschiedenen Phasen der frühen
Kindheit. Sie determiniert dadurch von Anfang an bei jedem Entwicklungsschritt
die Bildung des individuellen Charakters. (Reh, 59f.) 114. Mit der Entdeckung des
Verdrängungsphänomens war für Freud die Tür geöffnet – zu einer wirksamen ((Psycho-)Therapie, welche in einer
analytischen Technik besteht, durch die das Verdrängte ins Bewusstsein gehoben
und integriert werden kann, – zu einer psychoanalytischen Theorie als Basis dieser Therapie, und – zu einem neuen Verständnis von Kunst und Literatur, ja
der Kulturphänomene überhaupt. Denn jede Kultur hatte und hat einen Wertekanon,
der zwar jeweils verschieden ist (oder sein kann), der aber doch als allgemein
zu befolgende Norm das Leben jeder Kulturgemeinschaft beherrscht und damit den
Einzelnen unter bestimmte Tabus stellt. Den im kollektiven Bewusstsein
aufgerichteten Tabus korrespondiert im Unbewussten ein Verdrängungsprozess, der
von jenen unter bestimmten Bedingungen ausgelöst wird. (Reh, 60) 115. Vom Verdrängungsphänomen her
gesehen ergibt sich für die Traumdeutung folgende psychoanalytische
Hermeneutik: Als verdrängte Bewusstseinsinhalte haben die in Gestalt von
Träumen erscheinenden unbewussten Phantasien ein doppeltes Gesicht. Die Bilderwelt,
so wie sie sich dem erinnernden Bewusstsein im Traume darstellt, nennt Freud
die Traumfassade oder den manifesten Trauminhalt. Er unterscheidet
ihn vom latenten Trauminhalt. Da für
Freud alle menschlichen Leidenschaften in der Triebstruktur wurzeln, ist der
latente Trauminhalt stets ein verdrängter Triebwunsch. Als solcher kann er nur
auf Umwegen ins Bewusstsein gelangen. Diese ‘Umwege’ nennt Freud die
Traumarbeit. In ihr geht der verdrängte Wunsch, der bei Freud auch die Form
eines bestimmten Traumgedankens annehmen kann, durch eine Zensur, die durch verschiedene Mechanismen auf den Wunsch wirkt.
Solche Mechanismen sind z.B. die Entstellung, die Verschiebung, die Verdichtung
und die Verbildlichung des latenten Traumwunsches, der durch sie hindurchgehend
zum manifesten Trauminhalt wird. (Reh, 60) 116. In der Entstellung wird der latente Traumwunsch bzw. -gedanke in manifeste
Szenen oder Gedanken verwandelt, in denen er oft schwer wiederzuerkennen ist.
In der Verschiebung löst sich die
Intensität einer Vorstellung von ihr und geht auf eine andere über, die mit der
ersteren aber durch eine Assoziationskette verbunden bleibt. In der Verdichtung stellt eine Traumvorstellung
gewissermaßen den ‘Knotenpunkt’ verschiedener Traumgedanken dar, so dass oft
gegensätzliche Elemente zu einer Einheit mit widerspruchsvollen Zügen
zusammengefügt werden. So kann z.B. eine Traumfigur eine ‘Sammelperson’, d.h.
ein gemeinsamer Ausdruck für verschiedene Personen sein. Freud nennt das
Überbesetzung oder Überdetermination. In der Verbildung wird ein latenter Traumgedanken, bzw. -wunsch in ein manifestes Traumbild verwandelt.
(Reh, 60f.) 117. Die Psychoanalyse spricht in
diesem Zusammenhang von einem Primär-
und einem Sekundärvorgang. Während
des Traumes kann die psychische Energie (Libido) im Primärvorgang, der das
Unbewusste kennzeichnet, frei abströmen. Dieser Primärvorgang genannte Prozess
folgt damit dem Lustprinzip. Demgegenüber ist beim Sekundärvorgang, der das
Vorbewusste und das Bewusstsein kennzeichnet, die Libido zunächst gebunden,
d.h. die Befriedigung wird aufgeschoben, da erst die verschiedenen
Befriedigungswege gefunden und erprobt werden müssen. Der Sekundärvorgang folgt
damit dem Realitätsprinzip. Freud hat später den Gegensatz von
Bewusstsein und Unbewusstem ersetzt durch die Topik Es, Ich und Überich: das
Es, das Triebpotential, folgt dem Lustprinzip, das Ich dem Realitätsprinzip und
das Überich repräsentiert die innere moralische Instanz. (Reh, 61) 118. Der Beitrag der an der
Traumdeutung entwickelten psychoanalytischen Hermeneutik für die
Literaturwissenschaft besteht darin, in der Interpretation des Werkes und
seiner Beziehung zum Autor wie zum Leser das unbewusste Phantasiematerial bis
hin zum Primärvorgang zu entschlüsseln. Die psychoanalytische Hermeneutik kann
also nie die literaturwissenschaftliche ersetzen, sondern nur ergänzen. Und anders als in den Hermeneutiken
der historischen Wissenschaften geht es in der psychoanalytischen Hermeneutik
um innere Zustände und deren Wandlungen durch therapeutische Arbeit.
Erkenntnisbildung findet hier durch praktische Veränderung statt. (Reh 61f.) 119. Die allgemeine Psychologie
kennt zwei menschliche Triebkräfte: den Arterhaltungstrieb und den
Selbsterhaltungstrieb. Die von Konrad Lorenz und anderen entwickelte
Verhaltensbiologie postuliert darüber hinaus noch einen Aggressionstrieb. Die
Psychoanalyse hat ihr Gedankengebäude (zunächst) nur auf einen Trieb, auf die
Sexualität aufgebaut. (Erst später spricht sie auch von Ichtrieben und
schließlich vom Lebens- und vom Todestrieb.) (Reh 63) 120. Am Beginn seiner Forschungen
noch fest in der Tradition des wissenschaftlichen Materialismus stehend, konnte
Freud sich keine starken seelischen Kräfte ohne nachweisbare physiologische Wurzeln vorstellen. Das Phänomen, bei dem die Verbindung von
Physiologischem und Psychischem schon damals wohl bekannt war, war die
Sexualität. Aus dieser Tatsache leitete er seine Arbeitshypothese ab: die
Sexualität ist letztlich als die Wurzel aller
Leidenschaften anzusehen. Ausgehend von seiner Hypothese, deren Wurzeln
eindeutig im wissenschaftlichen Denken seiner Zeit lagen, stieß Freud aber dann
auf die Gesetzmäßigkeiten des Unbewussten, die nichts mehr mit der
wissenschaftlichen Tradition seiner Zeit zu tun hatte. (Reh, 63) 121. Psychoanalyse des Werkinhalts. Die Psychoanalyse zieht die
Lebensgeschichte des Analysanden heran und bringt diesen dazu, sich ungehemmt
seinen freien Assoziationen zu seinen Träumen zu überlassen. Durch diese erhält
der Psychoanalytiker Hinweise auf die verdrängte „Wahrheit“. D.h. die Bedeutung
eines Traumes kann nur aus der ganz persönlichen Situation des Träumers und mit
dessen aktiver Hilfe erschlossen werden. Das macht eine direkte Anwendung des
psychoanalytischen Modells der Traumdeutung auf das literarische Werk
schlechthin unmöglich. Denn dem Interpreten stehen der Dichter und seine freien
Assoziationen ja nicht wie dem Psychotherapeuten der Träumer und dessen
Assoziationen zur Verfügung. (Reh, 64) 122. Die psychoanalytische
Literaturinterpretation sah sich daher gezwungen, den Schritt von den
individuellen Aspekten der Träume zum prototypischen
Kern zu tun, der nach Freud in allen Träumen wirksam ist. Darunter versteht
er den Niederschlag der Grunderlebnisse und -konflikte, die jede menschliche
Entwicklung in ihren verschiedenen Phasen von der Geburt bis zur Reife
durchläuft. Es ist demnach die allgemeinmenschliche Triebstruktur, die
individuell ausgeprägt in den poetischen Texten zur prototypischen Darstellung kommt.
Diese prototypischen Gehalte weisen
auf die Entwicklungsphasen der Libido. In
der kindlichen Entwicklung unterscheidet er die orale, die anale und die
phallische (oder ödipale) Phase. Freud hatte einen sehr weiten Begriff von
Sexualität: Wo Lust, da Sexualität. (Reh, 65) 123. Das erste und zugleich
fundamentalste ‘Triebbefriedigungserlebnis’ des Menschen ist das orale Saugen
an der Mutterbrust. Das wohl bekannteste literarische Beispiel einer
prototypischen oralen Phantasie beim Erwachsenen ist das Märchen vom Schlaraffenland. Die zweite, die anale Phase der
psychosexuellen Entwicklung ist durch das Interesse des Kleinkindes an der
Ausscheidungsfunktion charakterisiert. Die mit ihr verbundene Entspannung, aber
auch das Zurück- und Festhaltenkönnen wird vom heranwachsenden Menschenkind als
ein weiteres fundamentales Befriedigungserlebnis erfahren. Die dritte Phase ist die phallische
oder ödipale. Die Problemstellung ergibt sich aus der Trias ‘Mutter, Vater,
Kind’. Aus Freuds Sicht bestimmt diese Phase die Konkurrenz mit dem Vater um
den ‘Besitz’ der Mutter. In der ödipalen Phantasie verbindet sich der Wunsch,
die Mutter zu besitzen, mit dem Todeswunsch gegen den Vater. Bei der gelungenen
Überwindung des ödipalen Konflikts entsteht das Überich, d.h. der Todeswunsch
gegen den Vater wird dadurch aufgegeben, daß die Vaterautorität introjiziert
wird. Sie existiert so als Überich weiter, womit dieses zum Träger der
Tradition wird. (Reh, 66f.) 124. Freuds Skizze einer
Hamlet-Deutung ist zum Modell der klassischen psychoanalytischen
Literaturinterpretation überhaupt geworden, d.h. das immer wiederkehrende Thema
psychoanalytischer Literaturdeutungen in den ersten, etwa fünfzig Jahren der
Psychoanalyse war die Aufdeckung einer latenten ödipalen Thematik hinter der
manifesten Form.. Die Monotonie, die sich aus einem solchen Verfahren für den
Leser ergab, wurde zu einer der vielen Ursachen für die Ablehnung der
psychoanalytischen Literaturdeutung durch die Literaturwissenschaft. (Reh, 67) 125. Bereits beim klassischen Modell
der Psychoanalyse öffnet sich der Zugang zum historischen und gesellschaftlichen
Umfeld des individuellen Falles: Die historische Entwicklung dieses Umfelds und
damit die Zivilisation überhaupt wird gesehen als ein „Fortschreiten der
Verdrängung“, als ein Stärkerwerden der Kontrollfunktion des Überichs. (Reh,
69) 126. Die Weiterentwicklung der
Psychoanalyse hat heute zu einer Ausfächerung in verschiedene Richtungen
geführt. Die Freudschen Grundkonzepte wurden erweitert und durch neue ergänzt. Die Begriffe orale, anale und
phallische Entwicklungsphase sind psychobiologische Modelle. Dieser psychobiologische
Ansatz wird bei einigen neueren Richtungen zu einem psychodynamischen
erweitert, dessen Fokus auf den Objekt-Beziehungen liegt. Unter Objekten sind
dabei vor allem die Beziehungspersonen zu verstehen, soweit sie Objekte von
Wünschen, Erwartungen, Ängsten und anderen Projektionen zu werden vermögen. Nach außen hin öffnet sich damit das
gesellschaftliche und historische Umfeld des Individuums, womit die
Psychoanalyse den entscheidenden Schritt zu einer Sozialpsychologie tut. Nach
innen erweitert sich die an den biologischen Grundfunktionen orientierte
Perspektive auf die Entfaltung eines personalen Selbst. Das bedeutet z.B. für
die orale Phase, dass sie nicht nur gekennzeichnet ist durch das
Befriedigungserlebnis des Kindes an der Mutterbrust, sondern dass die Mutter
zugleich zur Beziehungsperson wird, zu der die erste für die Bildung des Selbst
entscheidende Gefühlsbeziehung, das Urvertrauen, entwickelt wird. Das alles hat
für die psychoanalytische Literaturbetrachtung weitreichende Konsequenzen.
(Reh, 72f.) 127. Zur Psychoanalyse des Werkinhalts. Freuds Erklärung des Gewissens
als introjizierte Vaterautorität beraubt es nach Erich Fromm aller objektiven
Gültigkeit. Denn das Überich ist ja der Träger der Tradition, womit diese dann
zum Maßstab des Gewissens wird. Dieses ‘autoritäre Gewissen’ ist die Stimme
einer nach Innen verlegten Autorität, die von den Eltern, dem Staat, der
öffentlichen Meinung etc. abhängt. Es wurzelt in Angstgefühlen vor der
Autorität und in der Bewunderung für sie. Dem autoritären Gewissen stellt
Erich Fromm das ‘humanistische Gewissen’ gegenüber. Es ist die Stimme unseres
Selbst, das uns auf uns selbst zurückruft, damit wir das werden, was wir der
Möglichkeit nach sind. Im Gegensatz zum autoritären Gewissen, für das alles gut
ist, was im Gehorsam gegenüber der Autorität steht, ist für das humanistische
Gewissen alles gut, was Wachstum, Entfaltung und Leben fördert, und all das
böse, was dem entgegensteht. Von diesen beiden Konzepten her
sieht Fromm den Konflikt des Protagonisten in Kafkas Roman Der Prozeß. (Reh, 73) 128. In dem aus der amerikanischen
Ich-Psychologie entwickelten Identitätsmodell Erik H. Eriksons werden Freuds
drei Entwicklungsstufen der frühen Kindheit auf acht Lebenszyklen, d.h. auf den
gesamten Lebenslauf erweitert. Erikson rückt über das bloße Triebbedürfnis
hinaus den ‘inneren Zustand’ des Individuums in den Fokus der Betrachtung, der
für jede Lebensphase charakteristisch ist, und die mitmenschlichen und
letztlich gesellschaftlichen Bedingungen, die dieser nicht nur ermöglicht,
sondern fordert. So geht es in der ersten, der oralen
Phase um die Gewinnung von Urvertrauen gegen Urmisstrauen. Die Beziehung zur
Mutter wird hier zur ersten ‘sozialen’ Beziehung, die die Basis legt für alle
weiteren menschlichen Beziehungen im Leben der Persönlichkeit. Der ‘innere Zustand’ in der zweiten,
der analen Phase wird durch die Psychodynamik des Konflikts zwischen dem jetzt
entstehenden Autonomiegefühl und dem Zweifel sowie dem Schamgefühl bestimmt.
Aus der Überwindung dieses Konflikts erwächst die soziale Grundtugend der
Willensäußerung als Willenskraft und Selbstbeherrschung. Die bislang einzige Psychoanalyse
eines literarischen Textes, die von allen acht Phasen des Modells ausgeht, hat
Erikson selbst geliefert und zwar in seiner Interpretation der Wilden Erdbeeren von Ingmar Bergmann.
(Reh, 75f.) 129. Zur Psychoanalyse des Stils. Jede Diskussion über den Stil bzw. die
Form eines Kunstwerks führt an das Kernproblem künstlerischer Gestaltung heran.
Ist doch der Stil eines Autors das unverwechselbare Charakteristikum seines
Werkes, mag er auch noch so sehr der literarischen Tradition verpflichtet und
der Werkinhalt dem überlieferten Motivarsenal entnommen sein. Die Psychoanalyse
hat deshalb zur Frage der literarischen Form bzw. des Stils weniger zu sagen
als zum Werkinhalt. Und wo sie darüber spricht, tut sie das mehr unter
generellen, als unter spezifischen Aspekten. (Reh, 78) 130. War das Modell für die
inhaltliche Interpretation des dichterischen Werkes die Traumdeutung, so ist
dasjenige der formalen Interpretation der Witz und seine Beziehung zum
Unbewussten. Was den Hörer zum Lachen bringt, ist primär das Formprinzip des
Witzes und nur sekundär sein Inhalt. Das wird stets deutlich, wenn man
versucht, den bloßen Inhalt eines Witzes ohne Beachtung seiner Form
wiederzugeben, was niemand zum Lachen bringt. Das überzeugende Beispiel für das
Formprinzip des Witzes ist der obszöne Witz, in dem eine sexuelle
Wunschphantasie nur durch die Form des Witzes gesellschaftlich annehmbar wird.
Aus psychoanalytischer Sicht erscheint nun jede künstlerische Form in Analogie
zum Witz als das Ergebnis eines Abwehrvorgangs. Simon O. Lesser spricht von
drei wesentlichen Funktionen der literarischen Form: „Vergnügen zu bereiten,
Angst- und Schuldgefühle zu vermeiden [abzuwehren] und das Empfindungs- und
Vorstellungsvermögen zu fördern“ (Lesser
, 125). (Reh, 78f.) 131. Zur Psychoanalyse der Werk-Genese. Freud hat sich letztlich stets
auf das Phantasiematerial und die Abwehrmechanismen des Autors bezogen. Die
große Mehrzahl der Freudschen Literaturinterpretationen sind wie diejenigen der
meisten Freudschüler deshalb zugleich Werk- und Autorenanalyse geworden. In der Literaturwissenschaft wird
die Beziehung zwischen dem Autor und seinem Werk in der Regel auf den
autobiographischen Gehalt des Werkes eingeschränkt, den sie aus einem
angenommenen kausalen Verhältnis zwischen den biographischen Determinanten und
dem Werkinhalt zu erfassen versucht. Bei diesen biographischen Determinanten
unterscheidet sie äußere (Einflüsse der natürlichen Umwelt, Lernerfahrungen und
Lektüre) von inneren (Charakter und Persönlichkeitsstruktur des Autors).
Zwischen diesen Determinanten sieht sie das ‘freie Spiel der Phantasie’ am
Werk, das dem einzelnen Opus dann seinen Charakter gibt. (Reh, 79) 132. Aus psychoanalytischer Sicht
kann jedoch die sog. äußere Determinante nicht einfach nach dem
Ursache-Wirkungs-Schema angewandt werden. Das Kunstwerk ist ‘etwas anderes’ als
der einfache Reflex der äußeren Welt. Was die Persönlichkeit des Autors
angeht, hat sich die Literaturwissenschaft auf deren bewusste Elemente
beschränkt. Beziehen wir aber das Unbewusste ein, so ist auch der Annahme eines
‘freien Spiels der Phantasie’ zu widersprechen. Auch und gerade die Phantasie
folgt Gesetzmäßigkeiten des Unbewussten. So ist und bleibt für die
Psychoanalyse das Phantasiematerial, die Figuren- und Bilderwelt des Werkes,
der Schlüssel zum Autor, dessen biographische Daten – vor allem solche aus der
frühen Kindheit – das aus dem Werk Erschlossene lediglich bestätigen oder
variieren. (Reh, 79) 133. Die erste bedeutende
Erweiterung des genetischen Aspekts über den klassischen Freudschen Ansatz
hinaus ist die von Charles Mauron entwickelte Psychokritik. Vom Autor her
gesehen ist für Mauron das Werk kein psychisches Symptom, sondern ein Ziel. Um dieses
Ziel in den Griff zu bekommen, geht die Psychokritik nicht von einem einzelnen
Werk, sondern – wenn möglich – vom Gesamtkorpus der Werke aus. Diese werden
einander gleichsam überlagert, wobei ganz bestimmte Motive, deren Gruppierungen
und Metamorphosen sichtbar werden. Das so aufbereitete Material wird unter
psychoanalytischen Aspekten interpretiert. Die Biographie des Dichters dient
lediglich als Gegenprobe für die Richtigkeit dieses Bildes. Sie fügt
gleichzeitig die historische, politische und soziale Situation des Autors
hinzu. Dieses Bild der ‘unbewussten Persönlichkeit’ nennt Mauron den „mythe
personnel“ des Dichters. Er ist gleichsam der psychische Filter, durch den die
seelische Energie hindurch muss. Damit wird er zum Fokus schlechthin aller
persönlichen Erfahrungen. (Reh, 79f.) 134. Mauron bleibt nicht bei den
prototypischen Phantasien stehen, sondern versucht die individuelle Problematik
des Autors zu erfassen und stellt diese in dessen gesellschaftlichen Rahmen. Maurons literaturpsychologischer
Ansatz ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Interpret hinter dem äußeren, dem
Kausalnexus folgenden ‘manifesten’ Handlungsverlauf die ‘latenten’ inneren
Zustände der Charaktere und die ‘psychischen Prozesse’ sichtbar zu machen
versteht, die von der Wandlung der inneren Zustände im Roman ausgelöst werden.
(Reh, 80f.) 135. Dem Problem der künstlerischen
Verschmelzung des latenten individuellen Phantasiematerials mit dem
literarischen Thema ist Peter von Matt nachgegangen. Er stellt fest, dass in
den bisherigen Modellen ein Faktor fehlt, der das individuelle, aus dem Unbewussten
stammende Phantasiematerial, die Ich-Phantasien, wie er sie nennt, umsetzt in
das spezifisch Literarische, das ja formal-ästhetischen Kategorien und sozialen
Regeln folgt. Dieser Faktor ist „das im kreativen Prozeß vorphantasierte Werk“,
die „Opus-Phantasie“. Peter von Matts Ansatz versucht
Antworten auf zwei alte Fragen der Literaturwissenschaft zu geben, einmal auf
die Frage, warum die Weltliteratur immer wieder nach gleichen oder ähnlichen
alten Motiven, Themen oder Mustern greift. Zum anderen ist das Konzept der
Opus-Phantasie zumindest eine mögliche Antwort auf die Frage, wie sich
Ich-Phantasien zum fertigen literarischen Werk verhalten. (Reh, 81f.) 136. Zur Psychoanalyse der literarischen Wirkung und der Leserrezeption.
Die bislang am detailliertesten ausdifferenzierte Rezeptionstheorie hat Norman
N. Holland geliefert. Die psychoanalytische Rezeptionstheorie interessiert sich
für all das, was der Leser bzw. die Leserin unbewusst in das Werk
hineinprojiziert, darüber hinaus dafür, womit bzw. mit wem er oder sie sich im
Text identifiziert und nicht zuletzt dafür, was er oder sie darin abwehrt. Wie die Beziehung von Autor und Werk
so kann auch die von Leser und Werk nicht auf das Bewusst-Kognitive
eingeschränkt werden, das in beiden Beziehungen aus der Sicht der Psychoanalyse
bestenfalls die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs darstellt. (Reh, 82f.) 137. Einen völlig anderen Ansatz zu
einer psychoanalytischen Rezeptionstheorie hat Alfred Lorenzer ausgearbeitet.
Sein Ausgangspunkt ist die methodische Problematik der Literaturpsychologie,
die darin besteht, dass eine im therapeutischen Verfahren erarbeitete Theorie
unabhängig von der Therapieaufgabe, der Änderung des Patientenverhaltens, zur
Grundlage der Auseinandersetzung mit literarischen Texten gemacht wird. Seine
erste Frage ist deshalb die nach der Art der Veränderung, die der literarische
Text im Verhalten des Lesers bewirkt oder bewirken kann. Daraus ergibt sich die
zweite Frage: Was im Text ist es, das eine Verhaltensänderung des Rezipienten
hervorrufen kann? Seine Antwort lautet: Wie der Traum, so repräsentiert auch
der literarische Text einen Lebensentwurf.
Was sich nun bei der Rezeption eines Werkes im Verhalten des Lesers ändert oder
ändern kann, sind dessen problematische Lebensentwürfe, die zu der im Text
angebotenen Lebenspraxis einen Kontrast bilden, die also vom Text her in Frage
gestellt werden. (Reh, 83) 138. Bereits in den ersten
Jahrzehnten der Psychoanalyse haben sich neue tiefenpsychologische Richtungen
gebildet, die dem Freudschen Modell eigene Konzeptionen gegenübergestellt
haben. Für die Literaturpsychologie sind von ihnen das Modell der Individualpsychologie
Alfred Adlers und vor allem das der Komplexen Psychologie C.G. Jungs von
Bedeutung. (Reh, 85) 139. Adler hob gegenüber dem
Arterhaltungstrieb den Selbsterhaltungstrieb hervor, den er als Geltungsstreben
des Ich verstand. Ihm steht das Minderwertigkeitsgefühl gegenüber und zwar in
dem Sinne, daß dieses von jenem kompensiert
wird nach der Formel: Je größer das Minderwertigkeitsgefühl, desto mächtiger
das Geltungsstreben. Den Mechanismus
des Unbewussten, mit dem das Geltungsstreben sich als Kompensation des
Minderwertigkeitsgefühls tarnt, nennt Adler das ‘Arrangement’. Für ihn fallen
z.B. Neurosen schlechthin unter das Arrangement ‘Flucht in die Krankheit’,
durch die das Ich versucht, gleichsam auf Umwegen wieder obenauf zu sein. Adler
tendiert nun dazu, auch im nicht-neurotischen Bereich außergewöhnliche
Leistungen sowie betont moralische Verhaltensweisen der Persönlichkeit, mit
denen sie sich die Anerkennung der Mitwelt zu erwerben trachtet, als
Kompensationen eines versteckten Minderwertigkeitsgefühls zu verstehen.
Letzteres wird häufig durch eine Organminderwertigkeit ausgelöst. (Reh, 85) 140. Methodisch wichtig an Adlers
Kompensationsmodell ist, dass es im Gegensatz zur Freudschen kausalen
Betrachtungsweise, final orientiert
ist. Waren für Freud die unbewussten Phantasien ursächlich, letztlich von der
Kindheitsproblematik, bestimmt, so fragt Adler, wohin unbewusste Phantasien
zielen. Angewandt auf die Dichtung heißt das: die individualpsychologische
Interpretation fragt, wohin die Dichtung zielt. Das Ziel der Individualpsychologie als Therapie ist die Erreichung
des Gemeinschaftsgefühls, das die Persönlichkeit in sich entwickeln muss, will
sie nicht in dem (letztlich neurotischen) Konflikt Geltungsstreben versus
Minderwertigkeitsgefühl verharren. Die Therapie besteht in der
‘Umfinalisierung’ des Geltungsstrebens zum Gemeinschaftsgefühl durch Abbau des
Minderwertigkeitsgefühls, ein Prozess, dem Adler auch bei fiktiven Figuren
nachgeht. Der Beitrag der Individualpsychologie zur Literaturpsychologie besteht
also darin, ausschließlich die Inhalte
der Literatur, d.h. die Charaktere in Epen, Romanen und Dramen, zum Gegenstand
der Analyse zu machen. (Reh, 85f.) 141. Die Archetypenlehre C.G. Jungs. Standen für Freud primär die
Phänomene des Unbewussten im Fokus der Aufmerksamkeit, die aus dem Bewusstsein verdrängt worden waren, so richtete Jung den
Blick auf das Potential des Unbewussten, das sich ins Bewusstsein drängt. Welches Potential des Unbewussten
drängt sich ins Bewusstsein? Nicht dasjenige, was dem individuellen
Erlebnishorizont der Persönlichkeit zugehört, sondern dasjenige, was dem
kollektiven Erfahrungsbereich des Menschen schlechthin entstammt. Mit anderen
Worten: Neben oder hinter dem persönlichen Unbewussten existiert ein
kollektives Unbewusstes. Neben der individuellen Bildersprache in Nacht- und
Tagträumen erscheint eine kollektive Bilderwelt. (Reh, 86) 142. Jung stellte fest, dass
bestimmte Themen, Figurenkonstellationen, Bilder und Motive in den Träumen
seiner Patienten (sowie von Gesunden) nicht auf die persönliche Geschichte und
Erfahrung des Einzelnen zurückgeführt werden können, da sie auffallende
Ähnlichkeiten mit Themen, Figurenkonstellationen, Bildern und Motiven der
Volksmärchen und Mythen, also der kollektiven Schöpfungen aller Völker haben.
Das heißt: Ihr Ursprung – auch in den Träumen moderner Menschen – muss
kollektiver und archaischer Natur sein. Er bezeichnete sie deshalb als
Archetypen oder Urbilder und versteht sie als Konstellationen der sich in den
Generationszyklen wiederholenden Grunderfahrungen der Menschheit. In Analogie
zu Kants apriorischen Anschauungsformen und Denkkategorien sieht er die
Archetypen des kollektiven Unbewussten daher als a priori vorhandene
‘Bedingungen der Erfahrung’. (Reh, 86) 143. Als Ausdruck des kollektiven
Unbewussten zeichnen sich archetypische Bilder durch ihre Autonomie innerhalb des psychischen Geschehens und durch den
Eindruck der Fremdheit aus, den sie
auf das individuelle wie gesellschaftliche Bewusstsein machen. In
archetypischen Bildern drückt sich das dem Einzelnen wie dem ‘Zeitgeist’ noch
Unbekannte, das der bewussten Einstellung in ihrer Einseitigkeit Mangelnde aus.
Damit weisen sie auf ein zu erreichendes telos, das in der Jungschen
Psychotherapie das potentielle ‘Selbst’ als eine coniunctio oppositorum der
Ganzheit der Persönlichkeit ist. Kulturpsychologisch bedeutet dieses telos die
Überwindung der Einseitigkeit einer Kultur, z.B. der materiellen Orientierung
im Denken und des Glaubens an das technisch
Machbare in allen Bereichen, wie sie die westliche Zivilisation
charakterisieren. (Reh, 86f.) 144. Im unbewussten
Phantasiematerial unterscheidet Jung entsprechend zwischen bloßen Zeichen (oder
Symptomen) und Symbolen. Wenn die Bilderwelt in Träumen und Phantasien aus dem persönlichen Unbewussten eine
Manifestation latenter und d.h. aus dem Bewusstsein verdrängter Inhalte ist,
dann versteht er sie als Zeichen (oder Symptome), die auf dieses Verdrängte
verweisen. Da die Bilderwelt des kollektiven
Unbewussten keine Manifestation verdrängter Bewusstseinsinhalte ist,
sondern in ihr ein dem Bewusstsein noch Unbekanntes zum Ausdruck kommt, nennt
Jung ausschließlich sie symbolisch. Symbolisch ist für Jung deshalb vor allem
die Dichtung, die er visionär nennt, d.h. in der dem ‘Zeitgeist’ Gegenbilder
gegenübergestellt werden, wie z.B. in Goethes Faust II. (Reh, 87) 145. Jung findet die Antwort auf die
literaturpsychologische Frage nach der Beziehung von Autor und Werk nicht in
der individuellen (letztlich neurotischen) Problematik der Dichterpersönlichkeit,
sondern im Durchbruch überpersönlicher archetypischer Bilder, die sich ins
Bewusstsein des Autors drängen. Damit ist auch die Funktion des Dichters und seines Werkes
im gesellschaftlichen Prozess definiert. Die Kunst arbeitet nach Jung „stets an
der Erziehung des Zeitgeistes, denn sie führt jene Gestalten heraus, die dem
Zeitgeist am meisten mangeln“. In diesem Sinn versteht Jung den Künstler als
den „Erzieher des Zeitalters“. Das Wort ‘Erziehung’ weist auf den Prozess der
Individuation hin. (Reh, 87f.) 146. „Bevor die Individuation zum
Ziele genommen werden kann, muss das Erziehungsziel der Anpassung an das zur
Existenz notwendige Minimum von Kollektivnormen erreicht sein.“ (Bd. VIII, 478)
Den psychischen Habitus, der bei dieser „Anpassung“ entsteht, nennt Jung die Persona. Dieser Anpassungshabitus, ohne
den kein Zusammenleben in einem Gemeinwesen möglich wäre, führt im einzelnen
Menschen zu einem Kompromiss zwischen seiner Persönlichkeit und den
‘Kollektivnormen’, zu einer Einschränkung der Individualität zugunsten einer
Rolle. Das Problem ist die Gefahr der
unbewussten Identifikation mit einer solchen Rolle. Die Weltliteratur hat diese
Identifikation, in der das Individuum zur bloßen Persona, zur bloßen Maske
wird, seit jeher beschäftigt. (Reh, 88) 147. Je stärker der Einzelne mit
einer Persona identifiziert ist, umso mehr hat er diese Seiten seines Selbst in
den ‘Schatten’ drängen müssen, wo sie einen ständigen psychischen Explosivstoff
bilden. Die Bewusstwerdung des Schattens und die Auseinandersetzung mit ihm ist
deshalb der erste Schritt im Individuationsprozess. Als Schatten bezeichnet Jung alles
Verneinte und Verdrängte, aber auch alles nicht bewusst Gelebte und
Entwickelte. Wie jeder Einzelne seinen
persönlichen Schatten, so hat auch jedes Kollektiv, jede Gesellschaft, jede von
einer Ideologie bestimmte Gruppe, einen kollektiven Schatten. Im Traum und in der dichterischen
Phantasie erscheint der Schatten als dunkle, gleichgeschlechtliche Gestalt, als
Doppelgänger, als unverkennbare Gegenfigur zu allen Vor- und Leitbildern. Die Konfrontation des Protagonisten
mit dem eigenen Schatten ist das Grundthema in Hermann Hesses Demian und Steppenwolf. (Reh, 89) 148. Für Jung ergibt sich aus dem
Konzept des kollektiven Unbewussten, das gegenüber dem Bewusstsein autonom ist,
auch eine Autonomie des ethischen, des geistigen und des religiösen Bereichs,
die nicht wie bei Freud als Epiphänomene, sondern als Phänomene sui generis
verstanden werden. Das ethische, geistige und religiöse ‘Bedürfnis’ des Menschen
ist für Jung ebenso genuin wie der Selbst- und Arterhaltungstrieb, wie Hunger,
Durst und Sexualität. (Reh, 90) 149. Die Syzygie Anima und Animus
ist das andersgeschlechtliche archetypische Gegenbild der bewussten
Persönlichkeit: die Anima die unbewusste weibliche Seite des Mannes, und der
Animus die unbewusste männliche Seite der Frau. Hinter der leiblichen Mutter wird
letztlich das Bild, die Imago des Mütterlichen schlechthin sichtbar: die Mutter
Erde, „Geburt und Grab“. Wie sich die Anima-Imago bis hin zur
Magna Mater, zum Archetyp des stofflichen Prinzips hin amplifizieren lässt, so
auch die Animus-Imago über das Vaterbild bis zum Archetypus des geistigen
Prinzips. (Reh, 90) 150. Das potentielle telos des
Individuationsprozesses nennt Jung das Selbst (im Unterschied zum Ich). Als
coniunctio oppositorum kann es als archetypisches Bild in Gestalt von
Quaternitäts- und Mandalssymbolen erscheinen, die ebenfalls in den mythologischen
und religiösen Bereich hin amplifiziert werden können. (Reh, 91) 151. Aus dem Dargestellten ist
ersichtlich geworden, warum sich die deutsche Literaturwissenschaft gegen die
Archetypenlehre und Typologie C.G. Jungs weniger gesperrt hat als gegen die
klassische Psychoanalyse Sigmund Freuds. Gibt es doch zwischen dem Bild- und
Symbolverständnis der Literaturwissenschaft und dem der Analytischen
Psychologie mehr Berührungspunkte als dem der klassischen Psychoanalyse Freuds.
(Reh, 91) 152. Nach zögernden Annäherungen in
den drei Jahrzehnten vor 1933 bedeuteten die zwölf Jahre des
Nationalsozialismus mit dem Verbot der Psychoanalyse einen radikalen Abbruch
der erst im Entstehen begriffenen Beziehungen zwischen Psychoanalyse und
deutscher Literaturwissenschaft. Diese wurden erst nach 1968 wieder
aufgenommen, als mit der internationalen Studentenbewegung die Einseitigkeit
der nach 1945 vorherrschenden werkimmanenten Interpretation durch Öffnung auf
Bezugswissenschaften wie Soziologie, Kommunikationswissenschaft u.a. überwunden
wurde. Damit kam auch die Psychoanalyse ins Blickfeld. (Reh, 92) |