6.02 Die wichtigsten Ansätze
1. Zu den möglichen Begründungen für
das Auftreten der soziologischen Methode, die – Stand 1970 – noch im Werden
ist, gehören: Erstens
ist das Verfahren motiviert durch die sich verfestigende Erkenntnis von der
Bedeutung der wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse. Zweitens
entspricht dieses Verfahren dem zunehmenden Bewusstseins von „Zusammenhang“,
der seine schlagendste Notwendigkeit auf dem ökonomischen Sektor dokumentiert
und auf die anderen gesellschaftlichen Tätigkeiten ausdehnt. Drittens
ermöglicht die im soziologischen Verfahren verwirklichte
dialektisch-materialistische Denkart einen rationaleren Umgang mit Literatur
als die bisherigen Verfahren. Eine Nähe zur positivistischen Methode ist
gegeben: Das Abweisen jeder Art von Transzendenz im literarischen Kunstwerk,
das Negieren des Dichters als gottähnlichen Schöpfer, und damit ein
Unterstellen der Literatur unter eben dieselben Gesetze, denen die übrige
empirische Welt untersteht. Es ist die Rationalität, die interessiert. Viertens
geht in die soziologische Methode die sozialkritische Tendenz unserer Zeit ein.
Ihr ist inhaltlich immanent die Perspektive auf das Aufheben von „Entfremdung“
und das Überwinden von erfahrener „Verdinglichung“. Die Sozialkritik ist
fundiert auf den Forderungen nach einer „klassenlosen Gesellschaft“, also nach
dem Abbau von Herrschaftsverhältnissen jeder Art und dem Durchsetzen einer
ökonomisch begründeten Gerechtigkeit und Gleichheit. Es ist die von Marx
angestrebte „menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit“. (Maren-Grisebach, 80f.) Die
soziologische Methode im eigentlichen
Sinn wird hier also gleichgesetzt mit der marxistischen Methode; als
eigentliche Literatursoziologie gilt die marxistische, d.h. dieser oder jener
Version des Marxismus verpflichtete Literatursoziologie. Das führt zur
Abgrenzung von der positivistischen, bloß ‘empirisch’
vorgehenden Literatursoziologie: Eine rein empirisch konstatierende
Soziologie der Literatur mit dem Ziel, die Strukturen der vorhandenen
Beziehungen besser aufzudecken, entspräche nur einem Mehr an operationalen
Fertigkeiten und selbstgenügsamen Erkenntnissen. Die relevanten Konsequenzen
hingegen liegen im Mehr an Entscheidungen, die jeweils im Abschluß an die
historisch-soziale Situation zu treffen sind und die weiterführen zu
Orientierungen in der jeweiligen gesellschaftlichen Praxis. Die Einbeziehung des
Historisch-Gesellschaftlichen wird zugleich als Aufschluss darüber betrieben,
was menschliche Gesellschaft in der jeweiligen Situation sein könnte und sein sollte. Der Wissenschaft wird ein
Sollensmoment beigemessen im Unterschied zu früheren „objektiven“
Wissenschaften. (Maren-Grisebach, 80f.) 2. Das soziologische Verfahren im
engeren Sinn, das mit einem marxistischen Ansatz gleichgesetzt wird, wird
abgrenzt von der Soziologie der Literatur.
In dieser wird die Literatur lediglich zum Material
soziologischer Forschung. Nach Wellek/Warren kann man erstens
fragen nach der „Soziologie des Dichters“, also nach der Art dieses „Berufes“,
nach der wirtschaftlichen Lage der Autoren, der „gesellschaftlichen Herkunft
und Stellung“ – Fragen, die sich aus der Biographie des Autors und der Sammlung
sozio-ökonomischer Fakten beantworten lassen. Zweitens könne man fragen nach
dem „gesellschaftlichen Gehalt“, wobei auch literarische Dokumente von Belang
werden, die nicht zur „Literatur“ gehören. Diese Gruppierung nach
gesellschaftlichem Gehalt ist eine Arbeit der erweiterten Motivforschung, die
sich mit denjenigen Werken befasst, in denen gesellschaftliche Ideen,
Wunschvorstellungen oder Problemfragen bedeutend sind. Drittens schließlich
wird empfohlen, den „Einfluß der Literatur auf die Gesellschaft“ zu
untersuchen. Einem derartigen Arbeitsprogramm
ließe sich noch das Thema „Soziologie des Buches“ hinzufügen. Alle vier
Forschungsmöglichkeiten stehen eher dem Soziologen als dem
Literaturwissenschaftler zu, sie isolieren das soziale Element, so dass daneben
eine selbständige Disziplin „Literaturwissenschaft“ mit einem nur ihr eigenen
Gegenstand übrigbleibt. Hans Norbert Fügen etwa teilt in Die Hauptrichtungen der Literatursoziologie
und ihre Methoden (1964) die Literaturwissenschaft ein in
Literaturgeschichte und Literaturkritik, zu der er Interpretation und
Betrachtung der Literatur als ästhetisches Phänomen rechnet. Daneben gäbe es
die „Literatursoziologie“, die die Literatur als „soziales Phänomen“ behandle,
die mithin nur auszusondernde Teilaspekte zum Gegenstand habe und die Dichtung
als Dichtung nicht berührt. (Maren-Grisebach, 82f.) 3. Die eigentliche
Literatursoziologie und mit ihr die (eigentliche) „soziologische Methode“
richtet sich auf das Gesamtphänomen Literatur und darüber hinaus auf das
Gesamtphänomen Gesellschaft, in der Literatur nur als ein Moment des
Zusammenhangs erscheint. Die Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft
werden nicht abgesondert, um dann doch einen Rest, das Wesentliche,
zurückzubehalten, sondern alle Aspekte aller literarischen Produkte werden mit
Hilfe soziologischer Kategorien erfasst und in den sozialen Zusammenhang
gestellt. Biographie, Herkunft und Stellung des Dichters, Entstehung des
Werkes, Gehalt, Sprachform und Stil, Wert und Wirkung. Und dies nicht aus
Spezial-Interesse für das Soziologische an der Literatur, oder weil Literatur
auch so gesehen werden kann, sondern weil Literatur wesentlich Ausdruck eines
gesellschaftlich lebenden Individuums ist. Das Gesellschaftliche ist in ihr
notwendig mitgegeben. (Maren-Grisebach, 83) 4. Gegen die Behauptung, dass
gesellschaftliche Begriffe für literarische Kunst inadäquat seien und nur
Heteronomes an die Kunst herantrügen, niemals das Eigentliche von Dichtung
erreichten, hat Adorno gefordert: „Das Verfahren muß, nach der Sprache der Philosophie,
immanent sein. Gesellschaftliche Begriffe sollen nicht von außen an die Gebilde
herangetragen, sondern geschöpft werden aus der genauen Anschauung von diesen
selbst.“ (Adorno) (Maren-Grisebach, 83) 5. Der Marxismus mit allen seinen
weiterentwickelten Formen bildet die historische Grundlage für ein
soziologisches Verfahren. Dazu gehört philosophischerseits die
dialektisch-materialistische Geschichtsauffassung und die Prävalenz des
Rationalen; weiter die Theorie des Zusammenhangs aller reinen Einzelphänomene,
die Theorie des materialistischen Monismus. Soziologischerseits gehören dazu
die von Marx-Engels und seinen Nachfolgern erarbeiteten Gesellschaftstheorien
mit ihren ökonomischen Implikationen. (Maren-Grisebach, 84) 6. Gesellschaftlichkeit des Menschen
als ein leitendes Moment dieser Methode impliziert Geschichtlichkeit. Demnach
führt es zu falschen Ergebnissen, wenn Person oder Werk des Dichters von diesen
Faktoren isoliert würden. Es gibt kein zeit- und raumenthobenes An sich,
„Anlage, Talent etc. sind zwar angeboren, wie sie jedoch sich entfalten oder
verkümmern, sich ausbilden oder verzerren, hängt von den Wechselbeziehungen des
Schriftstellers mit dem Leben, mit seiner Umgebung, mit seinen Mitmenschen ab.“
(Lukács 1958, 8) Heutzutage werden zum soziologischen
Ansatz, der die historisch-soziale Bindung des Autors berücksichtigt, auch jene
des Betrachters (Kritikers, Wissenschaftlers) hinzugenommen. 7. Soziologisch wird interpretiert
(>Ziele, Perspektive) sowohl mit den bewussten Absichten, dem Wissen und der erklärten Theorie des
Autors, als auch mit den ihm unbewusst gebliebenen
Zusammenhangslinien zum gesellschaftlichen Prozess. Soziologisch vorgehen heißt
daher häufig: hinter dem Rücken des Autors vorgehen. Sein Werk von außen als
Objekt in anderen Strukturen sehen als es sich von innen, als Subjekt, sehen
würde. (Maren-Grisebach, 85f.) 8. Drei Beispiele: a) Georg Lukács deutet im Anschluss
an Engels die Romane Balzacs als Werke mit progressiven Sozialinhalten, obwohl
Balzac in seinen ihm bewussten Stellungnahmen den Klassenstandpunkt der
reaktionären Aristokratie vertrat. Balzac habe „wider Willen, Bewußtsein und
Absicht“ die „treibenden Kräfte der gesellschaftlichen Entwicklung“ zur
Erscheinung gebracht. Um diese Analyse durchführen zu können, muss Lukács den
Text in Beziehung setzen zu den politischen Ansichten Balzacs, zur sozialen
Lage der Zeit und dann zum Gesamtverlauf der gesellschaftlichen Entwicklung bis
hin seiner eigenen Gleichzeitigkeit. Nur so ist der Widerspruch
reaktionär/progressiv zu beweisen. b) Hans-Heinrich Reuter
interpretiert Fontanes Erzählung Schach
von Wuthenow als Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse um 1806
(Zeitpunkt des Erzählten) und der gesellschaftlichen Verhältnisse um 1880 (Zeit
der Niederschrift). Er sieht in der handlungsauslösenden Idee der Ehre und der
Gegenidee der Lächerlichkeit für die Gesellschaftsregeln beider Zeiten typische
Überbauphänomene, so dass die Erzählung eine, jene gesellschaftliche Lage
repräsentierende Funktion und, da sie diese Lage negativ kritisiert, eine
historisch progressive Funktion erhält. Fontane selbst hingegen sieht wohl die
preußische Zuspitzung dieser Ideen, aber erklärt zugleich den Wunsch, die Ehre
eines einzelnen zu schätzen als allgemein menschlich. Erst hinter dem Rücken
Fontanes kann Ehre und Lächerlichkeit durch Aufdecken anderer sozialer
Richtlinien als von ihrer „kolossalen Rolle“ entbunden und damit die Erzählung
als sozialhistorisch fixiert und als
fortschrittlich erkannt werden. c) Franz Kafka hat nicht viel über
Kapitalismus und die mit diesem zusammenhängende ‘Arbeitsteilung’ und
‘Entfremdung’ reflektiert. In seinem Amerika-Roman
hat er sich erschreckend wenig an die von ihm in anderer Hinsicht rezipierte
Vorlage gehalten, die soziologisch genau den kapitalistischen Wirtschaftsaufbau
als Ursache des Grauens zeigt. Für ihn waren es allgemein menschliche Grauen.
Demgegenüber haben soziologische Interpretationen in Kafkas Werk eine sinnliche
Umsetzung des Unmenschlichwerdens durch kapitalistische Herrschaftstechniken,
die Entfremdung des Menschen vom Menschen und der Isolation der einzelnen in
der Konkurrenzwirtschaft und Arbeitsteilung erkannt. Wider Kafkas eigenes
Wissen, wider seine eigene Absicht, hinterrücks. (Maren-Grisebach, 86f.) 9. Der Vorwurf gegen die
soziologische Methode, sie halte sich mit ihren Prinzipien vorwiegend an die
Inhalte von Literatur, ist unberechtigt. Behält man die traditionellen Begriffe
„Form“ und „Inhalt“ bei, so ist immer von einem wechselseitigen Ineinander und
von einer gegenseitigen Abhängigkeit auszugehen. Da das Inhaltliche aber
leichter zu greifen, waren anfangs diese Betrachtungen kompakter, auch im
Gefolge des „Inhaltismus“, der bei der Frage sozialistischer Kunst den Vorrang
hatte; aber schon die ausgiebigen Debatten um den Realismus zeigen die
Einbeziehung des Stils oder der Form. Lukács hat sich fortwährend um eine
Soziologie der literarischen Formen bemüht. „Neue Stile, neue
Darstellungsweisen entstehen nie aus einer immanenten Dialektik der
künstlerischen Formen, wenn sie auch stets an die vergangenen Formen und Stile
anknüpfen. Jeder neue Stil entsteht mit gesellschaftlich-geschichtlicher
Notwendigkeit aus dem Leben, ist das notwendige Ergebnis der gesellschaftlichen
Entwicklung.“ (Lukács 1971, 111) Stile und Formen können genauso wie
Inhalte soziologische Erklärung und Deutung erfahren. Eine Soziologie der
literarischen Gattungen ist möglich. (Maren-Grisebach, 87) 10. Ist mit der Erklärung aus
gesellschaftlicher Notwendigkeit auch die Berechtigung des so Erklärten
erwiesen? „Die soziale Notwendigkeit eines bestimmten Stils zu begreifen, ist
etwas anderes, als die künstlerischen Folgen dieses Stils ästhetisch zu bewerten.“
(Lukács 1971, 112) Das Stellungnehmen, der ganze
Arbeitsbereich des Wertens, der bei den meisten anderen Methoden entweder ganz
ausgeklammert ist oder nur zufällig gestreift wird, ist der soziologischen
Methode immanent. Werten ist eine bewusst integrierte Zielvorstellung, wenn sie
auch nicht in jedem einzelnen Arbeitsschritt realisiert wird. Als Ausgangspunkt dienen an
„Gesellschaft“ orientierte Wertvorstellungen, die dann sowohl Inhalte als auch
ästhetische Momente der Literatur betreffen können. Soziale Bedingungen sind
bis hinein in die Sphäre des nur in idealistischer Weise abgetrennten
Ästhetischen bestimmend; folglich kann auch das Ästhetische beurteilt werden. Die Literaturwissenschaft muss die
Freiheit haben, Wertungen mit zu meinen, da sie in einen Gesamtkontext
eingegliedert ist, der von sich aus mit Wertungen durchsetzt ist.
(Maren-Grisebach, 87ff.) 11.
Fügen will, um Wissenschaftlichkeit für die soziologische Methode zu retten,
das Werten vom Beschreiben trennen, er will der Literatursoziologie nur
„Werthaltungen als Forschungsobjekt“ zugestehen. Das heißt, das
literatursoziologisch nur beschrieben und eingeordnet werden darf, was die
einzelnen Dichter an Wertvorstellungen hatten, der Darstellende darf sich aber
keinerlei Entscheidungskompetenz über diese Wertvorstellungen anmaßen,
irgendeine Werthaltung einzunehmen sei wissenschaftsfremd. (Maren-Grisebach,
88) 12. Wellek/Warren erheben folgenden
Vorwurf: „Marxistische Literaturkritiker untersuchen nicht nur diese
Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft; [...] Sie üben eine
auswertende, ‘richterliche’ Kritik, die sich auf nichtliterarische, politische
und ethische Kriterien stützt. [...] Sie studieren nicht nur die gegebene
Literatur und Gesellschaft, sondern sie sind Propheten der Zukunft, Mahner,
Propagandisten; und sie haben Schwierigkeiten, diese beiden Funktionen
voneinander getrennt zu halten.“ (Wellek) (Maren-Grisebach, 89) 13. In der Literaturwissenschaft
müssen Kenntnisse sowohl historisch-politischer Art als auch ökonomischer und
sozialer für den jeweils betreffenden Zeitraum des Dichters, der
Wirkungsgeschichte seines Werkes und den eigenen erworben werden. Der
Literaturwissenschaftler hat idealiter zugleich Historiker und Soziologe zu
sein. Das ist von einem einzelnen nicht mehr zu leisten; so dass auch vom
Objektbereich her Kollektiv- oder Gruppenarbeiten gerechtfertigt sind. Eine
Umstrukturierung der Arbeitspraxis ist notwendig geworden. (Maren-Grisebach,
89) 14. Wird als Ziel das Erkennen des
Zusammenhangs von Literatur und Gesellschaft verfolgt, so entsteht das Problem:
Wie sind die Momente des Zusammenhangs von einander abzuheben? Wo verlaufen die
Definitionsgrenzen? Der Ansatz der positivistischen
Milieutheorie besagt: Als „Gesellschaft“ kann man das bezeichnen, was den
Schriftsteller direkt umgibt, seine eigene Klassenlage, seine für ihn gültigen
ökonomischen und sozialen Verhältnisse. Als „Literatur“ gilt dann nur dies eine
Werk, das zur Diskussion steht, als Produkt eines einzelnen Bewusstseins. Beide
Momente sind auf das Individuum bezogen. Der marxistische Ansatz geht
demgegenüber vom einzelnen Individuum weg, sieht es als im Sinne von Marx als
ein „ensemble der gesellschaftlichen Kräfte“ und setzt statt der
Mikrogesellschaft die gesamtgesellschaftliche Struktur, in der dann das
jeweilige Milieu nur als ein Faktor erscheint. Die literaturwissenschaftliche
Arbeit hat dann auch das bloßzulegen, was nicht zur unmittelbaren sozialen
Umgebung des Autors gehört, sondern was die gesamten Fakten des
sozio-ökonomischen Sektors umfasst, die Produktionsverhältnisse und die Form
der Produktivkräfte („Basis“). In gleicher Weise ausgeweitet wird der Begriff
des individuellen Bewusstseins und sprachlich gefasst als „Überbau“. Realiter
ist ein dynamisches Ineinanderübergehen zu konstatieren. (Maren-Grisebach,
89f.) 15. Darüber hinaus entsteht
folgendes Problem: Wie wird die Art und Weise des Zusammenhangs von Literatur
und Gesellschaft gesehen? Von welcher Art des Zusammenhangs soll man bei der
praktischen Arbeit ausgehen? Das Zentralproblem der Philosophie lautet:
Ist die Materie (Sein) oder das Bewusstsein das Primäre? Mit der für die
soziologische Methode gegebenen Voraussetzung des Materialismus ist die
Priorität der Materie, das ist spezifiziert: des materiellen Seins und weiter
des gesellschaftlichen Seins impliziert. Das Fundierungsverhältnis ist
festgelegt: eine objektiv gegebene Herrschaftsstruktur von unten nach oben.
Durch das dialektische Element soll aber verhindert werden, dass nur eine
einseitige Bestimmungsrichtung angenommen wird, wie sie in einer bloßen
Kausalitätsbeziehung vorhanden wäre: Ökonomie = Ursache, Literatur = Wirkung.
Stattdessen gilt: Wechselwirkung mit Priorität der Basis der materiellen
Bedürfnisse. Eine berühmte Briefpassage von
Engels soll als theoretischer Beleg genügen: „Die politische, rechtliche,
philosophische, religiöse, literarische, künstlerische usw. Entwicklung beruht
auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auch auf die
ökonomische Basis. Es ist nicht so, dass die ökonomische Lage Ursache, allein
aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung, sondern es ist Wechselwirkung
auf der Grundlage der in sich letzter Instanz stets sich durchsetzenden
ökonomischen Notwendigkeit.“ Statt Kausalität also ist
Bedingtheit anzusetzen, um damit dem komplizierten Wechselverhältnis auf die
Spur zu kommen. Bedingtheit ist ein Zusammenhangsmodus, der nicht eindeutig
empirisch nachzuweisen ist, der nicht dem positivistischen Wissenschaftsideal
von Nachprüfbarkeit entspricht, wie es Determiniertheit oder Kausalität tun. Im Bedingtheitszusammenhang ist die
Möglichkeit gegeben, dass im Bedingten, der Literatur, etwas Neues auftaucht.
Bedingtheit konstituiert ein Moment von
Freiheit im Überbau, ohne damit die idealistische Selbständigkeit des
Bewusstseins wieder einzuführen. Als Formel: Die sozio-ökonomischen Fakten sind
fundierend, bestimmen aber nicht vollkommen. (Maren-Grisebach, 89ff.) 16. Zu Beginn der geschichtlich
notwendigen Kontroverse gegen eine idealistische Bewusstseinsphilosophie und
einen radikalen Individualismus ist der subjektive
Faktor zu kurz gekommen. Heute wird er wieder stärker akzentuiert. Der
„subjektive Faktor“, das soll heißen: die Tätigkeit des Bewusstseins im Subjekt
gegenüber dem materiell bedingenden Sein sowie die Tätigkeit des handelnden
Individuums als Subjekt gegenüber der kollektiv bedingenden Gesellschaft. Schon
Engels rückte von einer anfänglichen Überbetonung des Seins-Faktors ab. Der zugestandene subjektive Faktor
bedeutet für das Verhalten gegenüber der Literatur, dass nicht Alles rückführbar auf
Basis-Determinanten ist, dass im Werk oder durch das Werk hindurch im Leben des
Autors Elemente erkannt werden können, die neu
sind. Die theoretisch zugebilligte „relative Selbständigkeit“ verhindert ein
krampfhaftes Verlängern aller Einzelheiten in den sozialen Untergrund.
(Maren-Grisebach, 92f.) 17. Die rationalen Erkenntnisse, die
diese Methode zeitigt, werden nicht einseitig am Ideal der Objektivität
gemessen; dieses gehört einer idealistischen Erkenntnistheorie an und wird
abgelöst durch eine dialektische Wissenschaftlichkeit, die zwischen Objekt und
Subjekt verbindet. Der Untersuchende soll das Recht des Subjekts geltend
machen, womit er gleichzeitig die Gegenwärtigkeit des Objekts fordert, ihm also
nutzt. Er soll sowohl den geschichtlich-gesellschaftlichen Ort des
Untersuchenden als auch den geschichtlich-gesellschaftlichen Ort des Werkes
berücksichtigen. Erst dieses Aneinanderbinden überwindet die tote Objektivität.
Damit werden Aktualität und Praxisbezogenheit ermöglicht. Die Wissenschaft
ist einbaubar in übergreifende Lebensbeziehungen. Diese Methode der Wissenschaft ist
tendenziell auf Handeln ausgerichtet, und damit wird ihr ein Nutzen und Zweck
außerhalb ihrer selbst zugeordnet. Mit anderen Methoden diente man akzentuiert
der Literatur. Jetzt ist das „Wofür“ und „Wozu“ in die Gesellschaft verlegt.
(Maren-Grisebach, 93ff.) 18. Marx rettet die Hegelsche
Dialektik als den Kern seiner Methode, indem er sie ‘vom Kopf auf die Füße’
stellt. In seinen frühen Arbeiten hat Marx das dialektische Denken Hegels von
einem neuen, ganz anderen Ausgangspunkt her aufgenommen: dem
sinnlich-gegenständlichen Menschen als in der Welt vorhandenen. Sich an der Natur abzuarbeiten,
gegenständlich tätig zu sein, zu arbeiten, gehört wesenhaft zum Menschen. Sein
Produzieren, das reale Setzen einer durch seine Tätigkeit veränderten Welt, die
zu einer Welt von Gegenständen für ihn wird, wird durch das reale Produkt
bestätigt. Indem der Mensch aber seine
natürlichen Bedürfnisse durch sein gegenständliches Wirken im Naturzusammenhang
ausdrückt, ist er immer schon in einem gesellschaftlichen Prozess. Der
Mitmensch gehört wesentlich in diesen Prozess hinein, denn als menschliches Naturwesen gehört er zur
Gattung. Die Dialektik öffnet sich dem
wirklichen geschichtlichen Prozess der Entwicklung der menschlichen Arbeit als
gesellschaftlich vermittelte, nur in bestimmter historischer Situation
existierender. Marx ging es jedoch nicht darum zu
erkennen, was der Mensch ‘an sich’ ist. Die scheinbar allgemein-anthropologischen
Kategorien seiner frühen Schriften enthalten mit der Entdeckung der Arbeit als
Grund und Mittel des menschlichen Daseins in der Welt den Ansatz für das
konkrete, als kritische Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft
und Ökonomie auftretende Interesse von Wissenschaft, die sich nicht im Begreifen der Idee, sondern der Geschichte als der vom Menschen selbst
produzierten, in Begriffen der Ökonomie analysierten Welt zu bewähren hat. Entscheidend bleibt bei Marx (wie
bei Hegel) die Negativität als
bewegendes Moment: hier in der Klassengesellschaft als totaler Entfremdung des
arbeitenden Menschen von sich und seiner Arbeit, bei gleichzeitiger totaler
Entwicklung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus, die auf eine ebenso
totale, Entfremdung und Klassengesellschaft durch die Revolution des
Proletariats aufhebende Veränderung des gegenwärtigen gesellschaftlichen
Zustands zielt. (Hüppauf u.a., 92ff.) 19. Marx wirft den bürgerlichen Ökonomen vor, dass sie ihr eigenes Zeitalter
wie das Ende der Geschichte und die zeitgenössischen ökonomischen Gesetze als
ewig und unveränderlich behandeln. Diese Theoretiker beschreiben die
bürgerliche Gesellschaft nicht als eine Phase in einem offenen historischen
Prozess, sondern als abgeschlossenen, endgültigen Zustand. Daher versuchen sie,
das gesellschaftliche und ökonomische Leben aus ebenso objektiven und
unveränderlichen Gesetzen zu erklären wie die Naturwissenschaften die
ungeschichtliche Welt. Aus gesellschaftlichen Prozessen werden
außerhistorische, vom menschlichen Eingreifen unabhängige Gesetze. Durch diese Bindung an ein
naturwissenschaftliches Erkenntnisideal bleiben die bürgerlichen
Wissenschaftler aber gerade in den „besonderen“ Formen ihrer Gesellschaft
befangen, deren geschichtliches Wesen sie nicht erkennen können. So werden die
Analysen bürgerlicher Wissenschaft zu einer Art Spiegelung der
gesellschaftlichen Oberfläche, ohne die innere historische Bewegung zu
erfassen. Eine notwendige Folge dieses naturwissenschaftlichen Erkenntnisideals
ist die Zersplitterung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in verbindungslose
Elemente, die nach ihrer je eigenen Gesetzlichkeit untersucht werden, deren
Abhängigkeit voneinander aber nicht mehr erkannt wird. Die scheinbar
voraussetzungslose, naturwissenschaftlich exakt analysierende bürgerliche
Wissenschaft ist damit nichts anderes als der Reflex der eigenen
gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das falsche Bewusstsein, das die
Oberfläche dieser fertigen Verhältnisse reproduziert und deren eigentlichen
Sinn verdeckt, das den Schein der Wirklichkeit für diese selbst nimmt, nennt
Marx Ideologie. Ideologie ist in der
kapitalistischen Gesellschaft der notwendige begriffliche Ausdruck der
gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie dem bürgerlichen Bewusstsein
erscheinen. In der bürgerlichen Wissenschaft
wirkt eine ihr selber unbewusste Parteilichkeit, ein Klassenstandpunkt, der sie daran hindert, die Verhältnisse in ihrer
geschichtlichen Totalität und
Bewegung zu erkennen. So wird die bürgerliche Klasse und deren Wissenschaft mit
ihrem ahistorischen, absoluten Wahrheitsbegriff zum Hemmschuh für jede
gesellschaftliche Entwicklung. Die bürgerliche Theorie der Gesellschaft hatte
solange ihre Berechtigung, wie sie als Kampf gegen eine ältere, die feudale
Gesellschaft diente. Sie wird reaktionär und inhuman, sobald die Bourgeoisie
sich als herrschende Klasse etabliert hat und ihr Interesse allein darauf
richtet, ihre Machtstellung zu behalten. Die gesellschaftliche Wirklichkeit
als Totalität in einer historischen Bewegung zu erfassen, ermöglicht es, aus
der besonderen Form der bürgerlichen
Gesellschaft Erkenntnisse zu gewinnen, die über diese hinausreichen und die
Geschichte zur Zukunft hin öffnen (Hüppauf u.a., 100ff.) 20. Die bürgerliche Wissenschaft
hatte auf ihrem Höhepunkt selber bereits den ersten Schritt dazu getan, ihre
eigene Epoche zu verstehen und sich selbst durchsichtig zu werden. Vor allem
der englische Ökonom Ricardo (1772-1823) und der deutsche Philosoph Hegel
(1770-1831) hatten die Gesetze der Wirtschaft und Gesellschaft bis zu dem Punkt
völlig klar erkannt und beschrieben, an dem ihre Bindung an das eigene
Klasseninteresse eine tiefere Analyse verhindern musste. Die Dialektik, wie Hegel sie als das
Bewegungsgesetz der historischen Welt beschrieben und angewandt hat, bietet die
Möglichkeit, die Widersprüche in der Gesellschaft nicht mehr isoliert und damit
unverstanden nebeneinander zu stellen, sondern sie als Grundlage und Motor der
geschichtlichen Entwicklung zu erkennen. Marx nimmt Hegels Dialektik auf,
kritisiert Hegels System jedoch als idealistisch und spekulativ. Die Folge der
Reduktion der geschichtlichen Entwicklung auf eine solche des Geistes und des
Begriffs ist eine auf die Vergangenheit beschränkte Theorie, die alle
kritischen und auf die Zukunft gerichteten Aufgaben der Wissenschaft im
bürgerlichen Zeitalter unterschlägt. Erst Marx’ Erkenntnis der
Abhängigkeit jeder „reinen“ Theorie von der „gesellschaftlichen Produktion und
Reproduktion des materiellen Lebens“ zerstört den ideologischen Schein und
führt zu einer materialistischen
Dialektik, in der die Widersprüche in der Theorie dadurch aufgelöst werden,
dass sie in der ihr zugrundeliegenden Wirklichkeit erkannt und aufgehoben
werden. (Hüppauf u.a., 103ff.) 21. Im Zentrum der Kritik des jungen
Marx steht die Selbstentfremdung des
Menschen als Folge der Eigentumsverhältnisse in der bürgerlichen Gesellschaft.
Hegels Gedanke des durch die Arbeit zu sich selbst kommenden Bewusstseins wird
von Marx konkretisiert und in die politisch-soziale Welt des körperlichen
Menschen übertragen. Die Entäußerung und Vergegenständlichung
des Arbeiters führt unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, die
auf Arbeitsteilung, Kapital, Privateigentum usw. beruht, so dass der Arbeiter
nicht für sich, sondern für den Kapitalbesitzer produziert, zu einer
Entfremdung des Arbeiters von den Produkten seiner Arbeit. Die Verwertung der Sachenwelt und die Entwertung
der Menschenwelt muss in der
kapitalistischen Gesellschaft ständig anwachsen und ihre Offensichtlichkeit
immer offensichtlicher machen. In der bürgerlichen Gesellschaft
entsteht eine Klasse, die allein durch ihr Dasein auf ihre Überwindung
hinwirkt: das Proletariat. Die totale
Entfremdung und Verelendung des Proletariats ist zugleich die Voraussetzung und
der erste Schritt für die Überwindung dieser Klassengesellschaft. Die totale
Selbstentfremdung des Proletariats führt zur Theorie, in der sie aufgehoben
wird, und die Theorie drängt zur Verwirklichung und realen Überwindung der
Selbstentfremdung, indem sie „die Massen ergreift“ und „zur materiellen Gewalt“
wird. Philosophie geht damit als bewusster Ausdruck der objektiven Widersprüche
selber in die Praxis gesellschaftlicher Veränderung über. (Hüppauf u.a.,
107ff.) 22. Die unmittelbare Hegel-Nachfolge
der ‘Pariser Manuskripte’ (1844) wird in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844) und dann endgültig
in der Heiligen Familie (1845) zur
„streng materialistischen Geschichtsauffassung“ gewandelt. Marx analysiert die konkrete
Situation des Arbeiters in der kapitalistischen Wirtschaft, der nicht seine,
sondern die Ware eines anderen produziert, der seine Arbeitskraft verkauft und
doch nicht dafür bezahlt, sondern ausgebeutet wird, der die notwendigen
Produktionsmittel nicht selber besitzt, der durch den produzierten Mehrwert ein
Kapital schafft, das ihn versklavt, der durch die gesellschaftliche
Arbeitsteilung seine Produktivkraft vervielfältigt und trotzdem verelendet. In
diese für die bürgerliche Produktionsweise
spezifischen Bedingungen integriert Marx die Kategorien der traditionellen
Ökonomie und führt diese damit über sich selbst hinaus. Diese kritische
Ökonomie macht die verdinglichten Subjekte und ihre ebenso verdinglichten
Beziehungen untereinander in der Form der ökonomischen Kategorien sichtbar.
(Hüppauf u.a., 109ff.) 23. Im Zentrum der Kritik der politischen Ökonomie steht
das Produkt gesellschaftlicher Arbeit, das in der bürgerlichen Gesellschaft zur
„Ware“ wird. Den Warencharakter
gewinnen die Arbeitsprodukte dadurch, dass sie nicht für den persönlichen Gebrauch
des Herstellers, sondern für den Tausch
gegen andere Produkte gemacht werden, und in diesem Tausch eine besondere
Eigenschaft annehmen: den „Wert“. Der Warenwert
ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses: die zur Produktion einer
Ware im Durchschnitt notwendige Arbeitszeit bestimmt den Wert der Ware. Unter den Bedingungen der
bürgerlichen, also allein auf den Tausch gerichteten Produktion
vergegenständlicht sich die gesellschaftliche Arbeit notwendig zur Ware. So
erscheinen den Menschen die Verhältnisse, die sie in der gesellschaftlichen
Produktion ihres Lebens eingehen, in der bürgerlichen Tauschgesellschaft als
Verhältnisse zwischen Waren. Die verselbständigte Warenwelt, die in der
bürgerlichen Wissenschaft nicht durchschaut, sondern stets nur ideologisch
reproduziert werden kann, beherrscht die Menschen dieser Gesellschaft ebenso
wie den Wilden sein Fetisch. Marx zeigt mit seiner Kritik, wie sich die
bürgerliche Ökonomie mit einer dinglichen
Hülle beschäftigt, unter der sich aber das Verhältnis produzierender Menschen
versteckt. Durch das Aufdecken des Warenfetischismus treibt Marx die
traditionelle ökonomische Theorie über sich selbst hinaus und hebt die ihr
zugrundeliegenden Widersprüche ins Bewusstsein. Die Kategorien der
traditionellen Ökonomie entwickeln, sobald sie aus ihren ahistorischen,
verdinglichten Form und ihren eigenen Widersprüchen gelöst werden, eine Kritik
der bestehenden Verhältnisse und sind damit zugleich die Konkretisation und die
Fundierung einer auf die Praxis gerichteten Philosophie. Die als Produkt und Ausdruck der
historischen Praxis erkannte Ökonomie kann nicht durch die bloße Reflexion,
sondern allein durch die konkrete gesellschaftliche Tat überwunden werden; und
so geht eine kritische Gesellschaftstheorie, deren Substrat die Ökonomie ist,
in revolutionäre Praxis über. (Hüppauf u.a., 111ff.) 24. Marx konkretisiert in seiner
ökonomischen Theorie auch das Bewegungsgesetz der Geschichte, die Dialektik.
Sie wirkt als Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen,
in diesen als Widerspruch von Eigentumsverhältnissen, also zwischen besitzender
und proletarischer Klasse. Die Produktivkräfte (menschliche Arbeitskraft,
Technik, Wissenschaft, wirtschaftliche Organisationsformen), also die Mittel und
die Art und Weise menschlichen Einwirkens auf die Natur für die
Güterproduktion, entwickeln sich innerhalb bestimmter Produktionsverhältnisse
(Eigentums-, Verteilungs-, Kooperationsverhältnisse) zu immer größerer
Perfektion, bis die statischen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse (in
erster Linie die Besitzverhältnisse) aus Entwicklungsformen zu Fesseln für ihre
weitere Entwicklung werden und die damit entstehenden Spannungen zur
revolutionären Umwälzung der Produktionsverhältnisse führen. Die mit naturgesetzlicher
Exaktheit aufeinander bezogenen Begriffe Produktivkräfte
– Produktionsverhältnisse, Basis ––Überbau,
soziale Revolution bringen
Gesellschaft und Geschichte auf eine abstrakte Definition: Fortschritt als
lineare Entwicklung der Produktionsverhältnisse durch Kollision mit den
Produktivkräften. Über die Basis, bestehend aus dem
Zusammenwirken von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, erheben sich
in einer Art Spiegelung Staat und Recht als Überbau, denen wiederum die Formen
des Bewusstseins entsprechen, wie sie in Religion, Philosophie, Kunst usw.
ausgedrückt sind: (>Kritik) auf
dieses simple Bild zusammengeschrumpft erscheint Marx’ Geschichtskonzept
plötzlich selbst als das Produkt einer totalen Verdinglichung und ebenso
fetischistisch wie die Platitüden bürgerlicher Vulgärökonomen, gegen die er
polemisiert. Menschliche Geschichte wäre dann allein durch das Zusammenspiel
objektiver ökonomischer Gesetze „erklärt“. Im Zusammenhang der Marxschen
Theorie ergibt sich aber ein wesentlich anderes, differenzierteres Bild, das
den abstrakten Schematismus durch eine von konkretem gesellschaftlichem Leben
gefüllte Dialektik ersetzt. Die Produktivkräfte scheinen eine elementare
Schicht zu bilden, auf deren Entwicklung die Bewegung im gesamten ökonomisch-gesellschaftlichen
Bereich überhaupt zurückzuführen ist. Aber die Produktivkräfte sind selber
gesellschaftlich und in hohem Grade von Bewusstsein abhängig. Denn die
materielle Produktion entsteht nicht allein durch die Beziehung zwischen Mensch
und Natur, sondern erst durch die Verhältnisse, die die Menschen untereinander
eingehen. In der historischen Phase des
Kapitalismus ist nun die Arbeiterklasse selber eine, und zwar die größte,
Produktivkraft, denn sie wirkt darauf hin, die gegenwärtigen Besitz- und
Verteilungsverhältnisse, die zu Fesseln für die Entwicklung der Produktion
geworden sind, umzuwälzen. Der Widerspruch zwischen Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen ist die eine, objektiv ökonomische Seite eines
gesamtgesellschaftlichen Prozesses, der auf seiner anderen Seite den aktiven
politischen Kampf der gesellschaftlichen Klassen voraussetzt. Die Veränderungen
der Geschichte geschehen nicht aufgrund einer rein ökonomischen Gesetzlichkeit,
sondern weil die kapitalistische Produktionsweise auf dem Gegensatz zweier
Gesellschaftsklassen: der Arbeiter und der Kapitaleigner, beruht. Marx nennt auch das Subjekt für die
Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft: das Proletariat. Indem seine
Geschichtsphilosophie gleichzeitig politische Theorie und Anweisung für diese
Klasse und ihre Revolution ist, wird sie selber zu einem Teil der revolutionären
Praxis. (Hüppauf u.a., 113ff.) 25. Ein anschauliches Begriffspaar
wie Basis-Überbau ist nur ein vereinfachendes Bild für die in der Komplexität
historischer Prozesse wirkende Dialektik. In der dialektischen Vermittlung
werden aus Beziehungen zwischen isolierten Dingen wieder historische Prozesse;
das Basis-Überbau-Schema aber trägt die Gefahr in sich, diesen Fortschritt
rückgängig zu machen, indem es sich von einem vereinfachenden Bild zu einer
Aussage über gesellschaftliche Verhältnisse verselbständigt. Aus der Bewegung
der realen Geschichte wird dann eine ‘Wechselwirkung’ zwischen zwei Schichten.
Erst in diesem Schema abstrahierter Begrifflichkeiten taucht die Frage nach
einer Hierarchie auf, beginnt die Suche nach dem Ursprünglichen, in dem der
historische Prozess dann doch verankert werden könnte. (>Kritik) Materialistische Dialektik verliert ihren revolutionären
Charakter, sobald sie die Bewegung der Geschichte verlässt und in einem
voraussetzungslosen Ersten, das außerhalb oder vor dem Beginn des
gesellschaftlichen Lebens liegt, einen Ursprung fixiert, auch wenn er in den
Verkleidungen der „letzten Instanz“ erscheint. Damit wird in die historisch konkrete Dialektik durch die Hintertür
das ungeschichtlich abstrakte
Kausalitätsprinzip eingeführt, das die Ursache jeder Bewegung in einer letzten
ökonomischen Instanz zu finden meint. Das Basis-Überbau-Verhältnis bekommt so
Züge einer verdinglichten bürgerlichen Theorie. (Hüppauf, u.a., 118ff.) 26. Die ökonomischen Theorien der
herrschenden bürgerlichen Klasse reproduzieren die reale Verdinglichung in der
Theorie. Sie sind dadurch gleichzeitig Ausdruck des falschen, an einen
Klassenstandpunkt gebundenen Bewusstseins, das die konkreten Zusammenhänge in
der gesellschaftlichen Totalität nicht erkennt. Die Theorie der
kapitalistischen Gesellschaft muss solange ideologisch bleiben, wie sie den
bürgerlichen Klassenstandpunkt nicht verlässt und die Ökonomie als Substrat
aller gesellschaftlicher Erscheinungen begreift. Die Bewusstseinsformen stehen
nicht einem objektiven Sein gegenüber,
sondern bringen dieses auf ihre besondere Weise und in mehr oder weniger
verzerrter Form zu seinem begrifflichen Ausdruck und sind selbst reale Teile
des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs. Die Voraussetzungen für eine
Ideologiebildung sind die dem Subjekt undurchsichtigen Mechanismen und
Machtverhältnisse seiner Gesellschaft. Aber nicht jedes Produkt geistiger
Arbeit lässt sich auch als Ideologie verstehen. Ideologie tritt mit dem
Anspruch einer Selbständigkeit und Unabhängigkeit von der
gesellschaftlich-materiellen Wirklichkeit auf: sie will Wahrheit über den Menschen und über das Wesen der Dinge liefern, und sie gehört
in die Epoche der bürgerlichen Tauschgesellschaft. Deren Krise führt notwendig
in eine Krise der Ideologiebildung. Ideologie, selbst wenn sie eine –
immer nur partielle – Kritik enthält, ist ein Hemmnis für gesellschaftliche
Veränderung; die Überzeugung, es genüge, das Bewusstsein zu verändern, um eine
Wirkung auf die gesellschaftliche Realität auszuüben, ist nur ein Beispiel
dafür. Die Ideologiekritik an Moral, Religion, Kunst usw. ist eine notwendige
Voraussetzung für jede praktische Veränderung. (Hüppauf u.a., 120f.) 27. Viele der marxistischen Autoren,
die sich über Literatur geäußert und marxistische Literaturtheorie und
Literaturwissenschaft mit begründet haben, waren weder (ausschließlich)
Literaturwissenschaftler noch reine Theoretiker. Das gilt für Marx, Engels und
Lenin, deren zumeist eher beiläufige oder aus der politischen Praxis
erwachsende Äußerungen zur Kunst und Kultur folgenreich werden sollten; es gilt
aber auch für Franz Mehring (1846-1919), Georgij W. Plechanow (1857-1918),
Georg Lukács (1885-1971), seit Ende der zwanziger Jahre sicher der
international wirksamste marxistische Literaturhistoriker und Begründer einer
dialektischen Literaturtheorie. Ferner sind zu nennen: Leo Trotzkij, Ernst
Fischer, Roger Garaudy, Johannes R. Becher. Ihnen stehen die reinen Theoretiker
gegenüber wie Walter Benjamin (1892-1940), Max Horkheimer (1895- ), Theodor W. Adorno (1903-1969). Der marxistische Standpunkt verlangt
gleichsam a priori eine neue Qualität des Zusammenwirkens von Geschichts-,
Gesellschafts- und Erkenntnistheorie, von Einzelwissenschaft, politischem
Standpunkt und politischem Handeln, von Theorie und Praxis. Marxistische
Literaturtheorie beginnt statt mit dem Studium von Texten mit der Frage nach
der gesellschaftlichen Funktion von Literatur, ihrer Produzenten (und
Interpreten) in einer spezifischen Situation.
(Hüppauf u.a., 122ff.) 28. Marxistische
Literaturwissenschaft hat ihren Gegenstand als dialektisches Moment im gesamtgesellschaftlichen Prozeß zu
begreifen. Als Produkt des Bewusstseins gehört Literatur zunächst dem
(ideologischen) Überbau an, der
freilich nicht nur passiv auf ökonomische Zwänge reagiert. Marxistische Literaturwissenschaft,
Kultur- und Literaturtheorie hat sich vor allem der Epoche des Kapitalismus
seit dem 18. Jahrhundert gewidmet, deren Literatur als Moment in die
kapitalistische Totalität eingeht, ohne widerstandslos in ihr aufzugehen. Dass
eine materialistische Analyse dieser Zusammenhänge nicht möglich ist, ohne die
Entwicklung der kulturellen Apparate und
Produktionsmittel zu berücksichtigen, hat etwa Walter Benjamin bewusst
gemacht; dass diese Analyse Kultur unter der Herrschaft des Tauschprinzips und
der Warenform als „Universalkategorie des gesamten gesellschaftlichen Seins“
(Lukács) erfassen muss, haben Horkheimer und Adorno aufgewiesen. Benjamin hat gezeigt, dass das
„Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ durch
Fotografie, Film (und Fernsehen) zwar die „Aura“ des einmaligen, hier und jetzt
entstandenen und überlieferten Originals verliert, dass damit aber auch die
individualistisch-bürgerliche von einer kritischen Rezeption durch die „Masse“
abgelöst werden könnte, ja dass aus passiven Lesern und Rezipienten
revolutionäre Produzenten zu werden vermögen. Im Spätkapitalismus werden jedoch
die Medien aus Mittel der Emanzipation
zu Werkzeugen systemstabilisierender Manipulation. Literatur muss als aktueller oder
potentieller Ideologieträger und
Vermittler falschen Bewusstseins untersucht werden, und sei es, weil die
universelle Warenform der Kulturindustrie emanzipatorisches Potential
zerschlägt, ohne damit die Dialektik zwischen diesem und seiner
kapitalistischen Verwertung endgültig aufzuheben. Als Positionen stehen sich u.a.
gegenüber: Lenins rigorose Forderung nach kämpferisch-inhaltlicher
Parteilichkeit und Adornos Auffassung, dass sich der „Protest“ gegen den
gesellschaftlichen Zustand im ästhetischen Gebilde manifestiert, das „keinem
Herteronomen sich beugt“. Bloch sieht die sinnlich-ästhetischen Kräfte als
utopischen Vor-Schein einer befreiten Gesellschaft. (Hüppauf u.a., 124ff.) 29. Selbstverständlich wird
Literatur auch von marxistischen Literaturwissenschaftlern als Text oder
Textgruppe studiert; der Blick geht dabei primär nicht von der
gesellschaftlichen Totalität zur Literatur, sondern versucht, deren Formen und
Inhalte geschichtlich zu erklären. Auch eine solche Literaturgeschichte
gerät freilich in Gefahr, der positivistischen Rekonstruktion dadurch zu
verfallen, dass sie es bei der erstarrten Historisierung der Texte bewenden
lässt und die Subjekt-Objekt-Kommunikation von Gegenwart und Vergangenheit
unterschlägt. Hier berühren sich Marxismus und kritische Hermeneutik. Lukács hat man vorgeworfen, dass er
sich auf das Verhältnis von Text und „Wirklichkeit“ beschränke und es zudem
enthistorisiere, indem er aus dem „Großen Realismus“ (Goethe, Balzac, Tolstoi)
des 19. Jahrhunderts normative Kriterien ableite und an ihnen insbesondere die
spätkapitalistische, aber auch die sozialistische Literatur messe. (>Kritik) Lukács erhöht Geschichtliches zu
ontologischen Normen eines ästhetischen Realismus. Adorno stellt sich demgegenüber das
Verhältnis von Text und Gesellschaft nicht als „Widerspiegelung“, sondern als
„bestimmte Negation“ dar, deren Eigenart an der Leistung des historischen
Gebildes abgelesen werden muss. Die Differenz hat ihren Grund in den
unterschiedlichen erkenntnistheoretisch-philosophischen Ansätzen des späteren
Lukács und Adornos. Lukács sieht die „Universalität der Widerspiegelung der Wirklichkeit als Grundlage aller
Wechselbeziehungen des Menschen mit seiner Umwelt“ an. Die geforderte
ästhetische „Einheit von Wesen und Erscheinung“ soll das Kunstwerk als
„selbständige Totalität“ gegenüber
einer zerrissenen kapitalistischen Wirklichkeit erscheinen lassen, so daß eine
ästhetisch vollendete Rettung des Menschen erreicht wird. Nach Adorno hat sich dialektisches
kritisches Denken in einer Gesellschaft zu behaupten, die – in Ost und West –
zu einem totalen Herrschafts- und Funktionszusammenhang geworden ist. Dialektik
ist fundiert im radikalen Selbstwiderspruch einer solchen Gesellschaft. Denken
ist selbst Moment dieser „totalen“ Gesellschaft und muss sich dennoch als
begreifende Opposition negativ zu ihr verhalten. Entsprechendes gilt auch für
die Kunst. Während für Lukács Autoren wie
Gorki, Th und H. Mann, Scholochow oder Solschenizyn gültige neuere Literatur
geschaffen haben, findet Adorno „authentische Kunstwerke“ bei Kafka, Proust,
Beckett – für Lukács Beispiele hilfloser Dekadenz. Wie Literatur in einer
bestimmten Situation zu interpretieren und zu bewerten ist, hängt also auch
davon ab, wie das Verhältnis der Literatur zur gesellschaftlichen Wirklichkeit
gesehen wird. Zu den konkreten Aufgaben einer
marxistischen Literaturwissenschaft gehören nach Gansberg: die
ideologiekritische Aufarbeitung der eigenen Wissenschaftstradition ebenso wie
die materialistische Analyse des Produktions- und Verwertungszusammenhangs von
Literaturwissenschaft selbst, ihrer Funktionen und ihres institutionellen
Rahmens in Universitäten, Schulen und Massenmedien. Die
marxistische Literaturwissenschaft und Literaturtheorie gibt es nicht, sondern
im einzelnen kontroverse Ansätze auf der Basis divergierender Fassungen
marxistischer Theorie. Eine „einheitliche“ marxistische Literaturwissenschaft
kann es auch nicht geben, wenn sich marxistische Theorien als
historisch-dialektische innerhalb der konkreten gesellschaftlichen Totalität
verstehen und kritisch reflektieren. Wie die Theorie, so bleibt
Literaturwissenschaft nur dann marxistisch, wenn sie das spekulative Moment eines
Denkens nicht verdrängt, ds sich von unmittelbaren Daten oder empirischen
Methoden nicht verkürzen lassen darf, ohne deren Informationsgehalt
unaufgehoben zu verachten. (Hüppauf u.a., 128ff.) 30. Wie Karl Marx durch die
materialistische Geschichtsphilosophie die idealistische Philosophie Hegels
umkehrte (vom Kopf auf die Füße stellte, wie er glaubte), so lässt sich auch
die marxistische Literaturtheorie als eine Umkehrung der idealistischen (‘geistesgeschichtlichen’)
Literaturauffassung, die im wesentlichen auf Hegel zurückgeht, ansehen. Die
Gemeinsamkeiten sind erheblich: Hier wie dort wird Literatur nicht als ein
isoliertes geistiges Phänomen betrachtet, sondern in einen Zusammenhang
gebracht, der alle Erscheinungen des geistigen Lebens umfasst und jeweils
repräsentativ ist für den Entwicklungsstand der Geschichte überhaupt. Hier wie
dort wird also Literatur der Totalität der Geschichte zugeordnet, und
Literaturwissenschaft ist nichts anderes als Teil der umfassenden Geschichtswissenschaft. Hier wie dort
erscheint die Geschichte als eine dem dialektischen Prinzip unterworfene,
notwendig fortschreitende Bewegung. Doch die Unterschiede sind nicht weniger
erheblich: Geschichtswissenschaft wird in dem einen Fall als
Geisteswissenschaft, in dem anderen als Gesellschaftswissenschaft definiert;
werden hier politisch-soziale Verhältnisse mit ihren materiellen Bedingungen
zum Parameter des Geschichtsprozesses, so wird dort der Geist (das Bewusstsein)
als das in erster und letzter Instanz Bestimmende dieses Prozesses angesehen.
(Oellers, 191) 31. Die marxistische
Literaturwissenschaft wahrt in der Regel den unmittelbaren Zusammenhang mit
ihren geschichtsphilosophischen Grundlagen. Die Philosophie des Marxismus ist
der dialektische und historische
Materialismus; dieser bildet zusammen mit der politischen Ökonomie und dem
wissenschaftlichen Sozialismus eine untrennbare Einheit. Marx hat im Vorwort seines Werks Zur Kritik der politischen Ökonomie
(1859) die Hauptgedanken des historischen Materialismus zusammenfassend dargelegt.
Nicht das Bewusstsein (der Geist) der Menschen bestimme ihr Sein, sondern
umgekehrt: das gesellschaftliche Sein bestimme das Bewusstsein, d.h. alle
Weisen des geistigen Lebens seien abhängig von gesellschaftlichen
Verhältnissen, die sich als notwendige Produktionsverhältnisse darstellen, die
sich also dem Willen (Bewusstsein) des Menschen entziehen. Das bedeutet nicht,
dass Ideen ohne Einfluss auf den Gang der Geschichte sind, sondern nur, dass
hinter ihnen materielle Triebkräfte wirksam sind. Das Basis-Überbau-Grundmodell behält seine Gültigkeit, auch wenn aus
ihm kein Ursache/Wirkungs-Schema ableitbar ist. (Oellers, 191f.) 32. Der historische Materialismus
hat es mit der Geschichte der gesellschaftlichen Verhältnisse, durch die
Menschen bestimmt werden, zu tun; diese Verhältnisse werden ständig verändert,
weil sich die materiellen Bedingungen des Lebens ändern; die Veränderungen
pflegen gewaltsam vor sich zu gehen, weil beharrende und fortschrittliche
Kräfte in Widerstreit treten; diese Kräfte repräsentieren in der Regel soziale
Klassen. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von
Klassenkämpfen“ – so beginnt das Manifest
der Kommunistischen Partei (1848). In der Urgesellschaft war eine
Teilung in Klassen nicht möglich, weil die Unentwickeltheit der Arbeitsmittel
den Einzelnen auf Alle angewiesen sein ließ: Das Gemeineigentum und die
gemeinschaftliche Produktion waren Voraussetzungen zum Überleben. Der Klassenkampf
begann in der antiken Sklavenhaltergesellschaft, die sich in Herren und
Sklaven, Besitzende und Besitzlose teilte – eine Folge der Entwicklung der Produktivkräfte und der damit
verbundenen erhöhten Arbeitsproduktivität: Die Schaffung neuer Produktionsmittel (Werkzeuge) förderte
die Produktivkräfte, also die mit diesen Produktionsmitteln tätigen Menschen,
so dass der Wert der geleisteten Arbeit wuchs; die Produktivkraft Mensch schuf
ein größeres Produkt, als der Mensch herstellen musste, um leben zu können; das
über das Lebensnotwendige hinaus Produzierte konnte, auf dem Wege des Tauschs,
in Eigentum verwandelt werden. Das Eigentum an Produktionsmitteln erlaubte es,
andere Menschen für sich arbeiten zu lassen; der Verkauf ihrer Arbeitskraft
sicherte diesen den Unterhalt; die Steigerung der Produktivität vermehrte den
Reichtum derer, denen die Produktionsmittel gehörten. So bildeten sich die Klassen der Ausbeuter und der
Ausgebeuteten heraus. Der Begriff der Klasse bezeichnet
eine Gruppe von Menschen, die durch die gleiche Beziehung zur Organisation der
Arbeit, d.h. durch die gleiche Position im System der Produktion festgelegt
sind. Dabei sind die Hauptklassen stets Klassenfeinde: Der Unterdrückte wehrt
sich gegen den Unterdrücker. Die Herausbildung der antagonistischen
Hauptklassen vollzog sich in einem allmählichen historischen Prozess, der über
die antike und die mittelalterliche Ständegesellschaft zur modernen
kapitalistischen Gesellschaft führte, in der sich die Klasse der Bourgeoisie
und die des Proletariats unversöhnlich gegenüberstehen. Die bestehenden Produktionsverhältnisse sind dadurch
gekennzeichnet, dass die Klasse derer, die im Besitz der Produktionsmittel
sind, die mittellose Klasse der Lohnarbeiter ausbeutet. Doch die Verhältnisse,
die sowohl die Eigentumsverhältnisse wie den Entwicklungsstand der
Produktivkräfte kennzeichnen, können nicht konstant bleiben, weil sich die
Produktionsmittel auf Grund des technischen Fortschritts fortwährend ändern,
die Produktivkräfte also neu bestimmen und dadurch auf die
Produktionsverhältnisse einwirken. Eine höhere Gesellschaft wird, wenn ihre
Bedingungen „im Schoße der alten
Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind“, zwangsläufig verwirklicht; das
kann auf dem Wege der Revolution geschehen. Für die moderne kapitalistische Welt
bringt der Fortgang der Geschichte die Auflösung: die Abschaffung des
Privateigentums und damit die Schaffung eines die Interessen der Arbeiter
vertretenden Sozialismus als einer
Vorstufe der klassenlosen Gesellschaft im vollendeten Kommunismus. Der proletarische Klassenkampf, der zum Sieg über die
Bourgeoisie führen werde, wird als historische Notwendigkeit angesehen und sei
daher, wo die Kampfmittel (politischer, organisatorischer und ideologischer
Art) es erlauben, mit Nachdruck zu führen. (Oellers, 192ff.) 33. Das Ziel heißt:
Selbstverwirklichung des Menschen durch die unmittelbare Erfahrung seiner
gesellschaftlich sinnvollen Tätigkeit, mit der er Gegenstände produziert, die
ihm selbst gehören, die Teil seiner selbst sind. Es geht um die Aufhebung einer
durch den Arbeitsteilungsprozess begünstigten Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit, d.h. von sich selbst.
Die Einheit von Natur, Person und Gesellschaft soll wiederhergestellt werden.
Damit das Ziel erreicht werden kann, müssen diejenigen, denen die historische
Aufgabe der Verwirklichung gestellt ist, zur Erkenntnis der gesellschaftlichen
Realität und zur Einsicht in die Notwendigkeit ihrer Veränderung gebracht
werden. Eine Klassengesellschaft wie die
kapitalistische ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass sie durch Ideologie Erkenntnisse vereitelt: sie
verfestigt durch ein sich selbst rechtfertigendes System von politischen,
moralischen, philosophischen, künstlerischen Anschauungen falsches Bewusstsein,
das über die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse hinwegtäuscht,
obwohl es Ausdruck dieser Verhältnisse ist. Ideologie ist nicht allein das
falsche Bewusstsein Einzelner, sondern eine Art ‘Zeitgeist’, der aus
materiellen Bedingungen erwächst und diese, indem er sich anscheinend über sie
erhebt, zu rechtfertigen unternimmt. Nur eine Änderung der ökonomischen
Verhältnisse kann hier Abhilfe, d.h. den Abbau von Ideologie bringen. Der Klassenkampf wird also in erster Linie
ökonomisch begründet werden müssen, und zwar besonders von denen, die erkannt
haben, dass gesellschaftliche Arbeit nicht unbedingt zu einem fremdem
Gegenstand, zur Ware, führen muss, dass der Warenfetischismus
der bürgerlichen Welt kein unabweisbares Verhängnis ist. Diese Erkenntnis
freilich setzt bewusstseinsbildende Erfahrung mit der ‘Wahrheit’ voraus. Diese
Erfahrung kann aus dem Spannungspotential zwischen Produktivkräften gewonnen
werden; sie kann aber ebenso gut auch durch andernorts bereits fortgeschrittene
gesellschaftliche Verhältnisse vermittelt werden. Bei der Frage, auf welche Weise
Machtstrukturen und kapitalistisch-imperialistische Machenschaften
durchschaubar gemacht werden können, richtet sich der Blick auf jene, die seit
alters her als Interpreten der Welt gelten: auf die des Gedankens und des Wortes
Mächtigen; zu ihnen zählen auch die Schriftsteller. (Oellers, 194f.) 34. Literatur ist ein
Überbauphänomen; sie gehört zur Gesamtheit jener ‘gesellschaftlichen Ideen’,
die für eine bestimmte Gesellschaftsform charakteristisch sind, die auf den
jeweiligen materiellen (ökonomischen) Verhältnissen basiert. Zwischen Basis und
Überbau bestehen notwendige Wechselverhältnisse, dialektische Beziehungen, die – wie die Weiterentwicklung von
Produktionsmitteln – zu den Voraussetzungen des geschichtlichen Fortschritts
gehören. Literatur spiegelt und befördert den historischen Fortschritt. (Oellers, 195) 35. Ein Hauptziel zeigt sich in der Reaktion von Marx und Engels auf Lassalles Ritterdrama Franz von
Sickingen: der Nachweis, dass bestimmte
literarische Texte auf einer unzulänglichen, d.h. vormarxistischen
Geschichtsauffassung beruhen. Das Drama war als Revolutionsdrama
gedacht, es sollte Licht auf die gescheiterte Revolution von 1848 werfen: Das
große Wollen scheitert an der Unzulänglichkeit der Einzelnen. Marx und Engels
haben an Lassalles Geschichtsauffassung und also an seinem Drama massive Kritik
geübt: Das Scheitern der Revolution sei
nicht auf Sickingens Klugheit zurückzuführen, sondern auf den Umstand,
daß dieser von der Geschichte bereits der notwendig untergehenden Klasse
zugewiesen worden sei. Lassalle habe sich, so kritisiert Engels, zu sehr von
Schillers Idealismus verleiten lassen; es fehle die eindeutige realistische
Sicht der Dinge. Privatschicksale müssen in ihrem
Bezug zur ‘objektiven’ (Klassen-)Wirklichkeit dargestellt werden, wenn sie sich
dadurch auszeichnen wollen, realistisch
zu sein.(Oellers, 195f.) 36. Realistisch zu sein, lautet eine
Forderung der Marxisten an die Literatur. Diese Forderung erscheint aber nur
erfüllbar, wenn der Schriftsteller „aus der tiefen Erkenntnis der
weltgeschichtlichen Umwandlungen der Gesellschaft seine Kraft schöpft“. (Lukács
.., 100). Der Schriftsteller ist Kenner der Geschichte, sofern er seine Aufgabe
erfüllt, klassenbewusst zu handeln. Aber er registriert nicht nur, was war,
sondern stellt auch dar, was ist, was sein wird und sein soll; um die
Rückkoppelung zur gesellschaftlichen Praxis, von der er ausging, stets bemüht;
diese deutend und korrigierend. Realistische Literatur spiegelt
nicht nur die Dinge und Verhältnisse wider, wie sie erscheinen, sondern
enthüllt auch ihr Wesen. Dabei steckt die materialistische Weltanschauung den
Rahmen ab, in dem der Schriftsteller agieren soll. (Oellers, 194) 37. Zum Konzept des sozialistischen Realismus innerhalb des vormals ‘real existierenden’
Sozialismus: Der sozialistische Realismus spiegelt die Errungenschaften des
Sozialismus wider und verdeutlicht seine Tendenzen; wo er im Vorgriff auf das
Zukünftige utopisch wird, behält seine Darstellung, sofern sie der
marxistischen Geschichtsauffassung entspricht, Gültigkeit: Die konkrete Utopie kann eine besonders
entwickelte Stufe realistischer Kunst bedeuten; sie beweist sich als Zeugnis
eines beharrlichen Geschichtsoptimismus. Dass sie nur im konstruierten Modell
erscheinen kann, zeigt, wie das Individuelle gegenüber dem Typischen zurücktritt. Der sozialistische Mensch ist
‘vergesellschaftet’: das zu sein, erkennt er als sinnvoll an; diese Einsicht zu
bestärken, ist die Hilfe der Kunst geeignet. Der Schriftsteller sollte
vergewissert sein: Jeder Geschichtsmoment ist, da er notwendig ist, im Typischen
erfassbar. (Oellers, 196f.) 38. Die realistische Schreibweise
erfordert einen klassen- und geschichtsbewussten Schriftsteller; sie fordert
dessen Parteinahme für die Politik des Fortschritts. Die Literatur muss offen parteilich sein. Wer sich zu einer
politischen Partei bekennt, sollte auch, so sah es Lenin, von ihr in Dienst
genommen werden können; er wird also, bei Bedarf, Parteiliteratur liefern. Für
die marxistischen Literaturtheoretiker ist nicht zweifelhaft, dass die
kommunistische Partei entscheidenden Einfluss auf die in ihrem Einflussbereich
stehende Literatur ausüben muss. (Oellers, 197) 39. Ein weiteres Charakteristikum
der sozialistisch-realistischen parteilichen Literatur ist die Volksverbundenheit oder Volkstümlichkeit. Es geht dabei nicht um
eine möglichst große Verbreitung von solcher Literatur, die dem Volk gefällt,
es geht auch nicht vorrangig um ‘Demokratisierung’ von Literatur, sondern um
gezielte Aufklärung des Volkes im Klassenkampf. Die Arbeiterklasse braucht proletarische Literatur, was nicht
bedeutet: Literatur von Arbeitern, sondern: Literatur für Arbeiter. (Oellers,
198f.) 40. Es geht darum, Spuren des
Fortschritts in der Literatur der Vergangenheit zu entdecken: des Fortschritts
auf dem Wege zu einer humanen, klassenüberwindenden Gesellschaft. Der
Fortschritt ist in der Regel gekennzeichnet durch die Rebellion gegen
Bestehendes, den versuchten Ausbruch aus gesellschaftlichen Zwängen; er beweist
sich aber auch in der realistischen Schilderung der bestehenden Verhältnisse,
denn diese lassen keine vorbehaltlose Affirmation zu. (Oellers, 200) 41. In der
literaturwissenschaftlichen Arbeit geht es in erster Linie und hauptsächlich um
die Demonstration der These, dass ästhetische Phänomene gesellschaftliche
Phänomene sind, dass sie materiell fundiert sind. Es müsste gelingen, das
Poetische in seiner Wirkung zu beschreiben, diese Wirkung auf ihre Ursachen
zurückzuführen und schließlich das Vorhandensein des Poetischen aus seinen
Bedingungen zu erklären. Die marxistische Literaturtheorie hat sich seit alters
her gegen ‘bürgerliche’ Versuche gewandt, durch formale Untersuchungen das
Auszeichnende von Literatur in den Blick zu bekommen. (Oellers, 200) 42. Die Aufgabe, die einem
marxistischen Literaturwissenschaftler gestellt ist, unterscheidet sich
prinzipiell nicht von der, die einem marxistischen Schriftsteller gestellt ist:
Erscheinungen, die für die Entwicklung der Gesellschaft von Bedeutung sind, zu
erkennen, zu beschreiben und zu bewerten. Das bedeutet im einzelnen: Der
Literaturwissenschaftler versteht sich nicht als Vertreter einer selbständigen
Disziplin, sondern als Gesellschaftswissenschaftler, dessen Tätigkeit der
Grundlage des historischen und dialektischen Materialismus bedarf; er
betrachtet Literatur als Produkt gesellschaftlicher Arbeit, durch die
bestehende Verhältnisse charakterisiert werden; er deckt den Klassencharakter
von Literatur auf; er analysiert Literatur und beurteilt sie gemäß der ihm
selbstverständlichen, da weltanschaulich verwurzelten Parteilichkeit; er sucht
die Wahrheit im Gewande der Schönheit; er beschreibt dieses Gewand; er treibt
Wissenschaftskritik; dabei entlarvt er die bürgerliche Literaturwissenschaft
als klassisch ideologisch; er durchschaut sich selbst. (Oellers, 205) 43. Im Gegensatz zu jeder bloß
soziologischen Betrachtungsweise, die in der jeweiligen Klassenstruktur die
letztmögliche Erklärungsschicht sieht, geht der Marxismus noch einen Schritt
weiter und stellt selbst die Klassenstruktur als etwas Abgeleitetes hin, der
noch tiefer gehende Triebkräfte zugrunde liegen. Für ihn ist auch die
Klassenstruktur nichts Naturgegebenes, sondern geht als notwendige Folge aus
der ökonomisch-politischen Entwicklung hervor, deren sich ständig verändernde
Arbeits- und Produktionsbedingungen unentwegt neue soziale Schichtungen
hervorbringen. Und damit wird auch die Kultur dieser sich in rastloser Bewegung
befindlichen Klassen- und Gruppengebilde dem Wandel der ökonomischen
Voraussetzungen unterworfen, ja zum ideologischen Überbau eines im Wirtschaftsgefüge
angelegten Klassenkampfes erhoben, durch den jede künstlerische Äußerung – ob
nun bewusst oder unbewusst – zwangsläufig eine politische Färbung annimmt. Es
gibt daher nichts in diesem System, was sich autonom betrachten ließe.
(Hermand, 105f.) 44. Für die Basis dieses Systems,
die sozialwirtschaftlichen Voraussetzungen hat Marx in seinem Kapital (1867-94) das grundlegende Werk
geschaffen. Auf ästhetischem Sektor dauerte es dagegen viel länger, bis man zu
einer wahrhaft marxistischen Anschauungsweise vorstieß. Was Marx und Engels auf
diesem Gebiet publiziert und geäußert haben, hat einen äußerst fragmentarischen
Charakter. Die ersten Ansätze zu einer marxistischen Ästhetik, wie man sie im
späten 19. Jahrhundert findet, sind nicht an ein bestimmtes System gebunden und
zudem einer ständigen Parteikorrektur unterworfen.. (Hermand, 106) 45. Im deutschen Bereich wäre dabei
vor allem auf Franz Mehring hinzuweisen. Zum eigentlichen Marxisten wurde er in
der Zeit der „Sozialistengesetze“ (1878-90). Mit seiner Lessing-Legende wagte es Mehring 1896, einen Frontalangriff gegen
die gesamte hohenzollernhörige Germanistik zu unternehmen. (>B 5: Kritik) Mehring
unterschied immer wieder zwischen Kunst und sozialer Aktion, dem bloß
Ästhetischen und dem bloß Politischen, anstatt die enge Interrelation dieser
beiden Gebiete ins Auge zu fassen. Er bewegte sich weitgehend in den Bahnen des
bürgerlichen Klassikerkults. Auch er glaubt, dass sich jede wahrhaft große
Kunst nur in ruhigen Epochen entwickeln kann, während in Zeiten des
Klassenkampfes alle literarischen Äußerungen notwendig einen tendenziösen und
damit unkünstlerischen Charakter bekommen. (Hermand, 107) 46. Der entschiedenste Vertreter der
„marxistischen“ Ästhetik war um die Jahrhundertwende der Russe G.W. Plechanow,
der im Gegensatz zu Mehring alle „idealistischen“ Systeme der Ästhetik einer
scharfen Kritik unterzog. Bei ihm wird die Kunst rein als „Widerspiegelung“ der
ökonomisch-gesellschaftlichen Grundstruktur interpretiert. Darüber hinaus ist
jedoch für ihn in jedem Menschen ein geradezu „instinkthafter“ Trieb nach dem
Schönen vorhanden, der etwas Absolutes hat und keiner Kausalität unterliegt.
Plechanow wandte sich deshalb gegen jede Propaganda- und Tendenzkunst, die sich
im Bereich der politischen Rhetorik erschöpft, und räumte trotz seiner
marxistischen Überzeugung dem künstlerischen Schaffen einen gewissen Eigenwert
ein, was ihn zwangsläufig in einen steigenden Gegensatz zum Bolschewismus
brachte. (Hermand, 108) 47. Während Georg Lukács’ Theorie des Romans (1916) sich noch ganz
in hegelianischen Bahnen bewegt, wurde sein Buch über Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) zum klassischen Dokument
der sogenannten „Linksabweichler“.
(Hermand, 109) 48. Ein wirkliches System erhielt
die marxistische Ästhetik erst nach 1932, als man in der Sowjetunion dazu
überging, alle modernistischen Richtungen als „formalistisch“ oder
„bürgerlich-dekadent“ abzustempeln. Das Prinzip der absoluten „Parteilichkeit“
siegte. Als das Motto dieser neuen Richtung wurde 1934 die Phrase vom
„sozialistischen Realismus“ geprägt, die sich schnell zu einem allumfassenden
Begriff entwickelte, mit der man die gesamte Kulturpolitik einem strengen
Schematismus unterwarf. Fast alle marxistischen Kulturtheoretiker der dreißiger
und frühen vierziger Jahre huldigten einer absoluten Inhaltsästhetik, für die
Parteilichkeit und sozialistischer Realismus die obersten Kriterien sind. Es
gibt kaum einen Vertreter dieser Richtung, bei dem das Künstlerische nicht auf
Lenins Prinzip der „zwei Kulturen“ zurückgeführt wird, nach dem es zu allen
Zeiten eine Kunst der Ausgebeuteten und eine Kunst der Ausbeuter gegeben habe
und somit jedes Kunstwerk ein Dokument des Klassenkampfes sei. Auf der einen
Seite konstatiert man dabei meist realistisch-aggressive, auf der anderen
formalistisch-verschleiernde Tendenzen. Auf diese Weise wurde auch die Kunst zu
einem integrierenden Bestandteil des „dialektischen Materialismus“. (>B 2: Literaturtheoretische Grundannahmen)
Kunst ist nach dieser Theorie lediglich eine direkte oder indirekte Aussage
über den jeweiligen Zustand der betreffenden Klassengesellschaft, also eine
Illustration der ökonomisch-sozialen Entwicklungsprozesse, die weder einen
ästhetischen Eigenwert besitzt noch im Sinne eines persönlichen Betroffenseins
erfasst werden kann, sondern sich vornehmlich im Bereich des Didaktischen oder
Dokumentarischen bewegt. (Hermand, 109ff.) 49. Lukács vollzog zwar im Moskauer
Exil diese Wendung durchaus mit, verband sein Realismuskonzept jedoch stärker
mit dem bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts. Es gibt daher für ihn
nicht nur einen Sozialismus der Gesinnung, sondern auch einen Kunstbegriff, der
sogar den „spätbürgerlichen“ Realisten Thomas Mann mit einschließt. Doch
selbstverständlich kommt dieses humanistisch-idealistische Engagement in der
„stalinistischen“ Ära nur zwischen den Zeilen zum Ausdruck. (Hermand, 111) 50. Nach 1945 verwandelten sich fast
gesamt Osteuropa und selbst China in kommunistische Staaten. Lukács wurde nun
zum großen Anreger einer marxistisch orientierten Kunstbetrachtung. In seinen
Werken dieser Periode spiegelt sich, wenn auch noch in versteckter Form, das
allmähliche Aufweichen der stalinistischen Ära. So spricht er wiederholt von
einer „Parteilichkeit der Objektivität“. An einem marxistischen Konzept hält er
jedoch absolut fest: der Widerspiegelungstheorie. In jedem Kunstwerk
manifestiert sich für ihn „eine der Wirklichkeit selbst innewohnende Kraft“
(Lukács 1955, 202), die in der ökonomisch-sozialen Grundstruktur verankert ist.
Was zwischen den Extremen des Naturalismus und des Formalismus liegt, definiert
er als einen „Realismus“, dessen höchstes Ziel die Herausarbeitung typischer
Charaktere in typischen Situationen sei. (Hermand, 112f.) 51. Bis zum Jahre 1956, als sich
Lukács durch seine Beteiligung am ungarischen Aufstand bei den orthodoxen
Kreisen in Misskredit brachte, wirkt die osteuropäische, vor allem die
ostdeutsche Literaturwissenschaft wie eine große Lukács-Schule. Mit der nach
dem XX. Parteitag einsetzenden Entstalinisierung wurde das Spektrum der
Theorien wieder reichhaltiger. So wendet sich Ernst Fischers Buch Von der Notwendigkeit der Kunst (1959)
gegen jede schematische Vereinfachung, die gegen die fortschreitende
Differenzierung des modernen Weltbildes verstößt. Sein höchstes Wertkriterium
einer wahrhaft „sozialistischen Kunst“ ist daher eine literarische
Kompliziertheit, wie man sie bei Kafka, Proust oder Joyce vorgebildet findet.
(Hermand, 113f.) 52. (>Verdienste) Welche Vorteile bietet der marxistische Ansatz? Da wäre
erst einmal ihr konsequent „historischer“ Aspekt, der auch die
ökonomisch-gesellschaftliche Grundlage aller künstlerischen Objektivationen in
die Kunstbetrachtungen einzubeziehen versucht. Es sollte heute eigentlich
niemanden mehr geben, der sich auf diesem Sektor einer mehr oder minder
„materialistisch“ gefärbten Weltanschauung entzieht. Überhaupt ist durch den
Marxismus ein wesentlich vertiefterer Sinn für ideologische Hintergründe
entstanden. Das schlichteste Gedicht steht als Reflexion des jeweiligen „Weltzustandes“,
wie schon bei Hegel, wieder im Zentrum des „Ganzen“. Fast alle Marxisten wenden sich
daher scharf gegen die Psychoanalyse, die den gesellschaftlichen Wandel durch
eine ahistorische Fetischisierung der Sexualität zu überspielen versucht.
Ebenso radikal sind sie in ihrer Ablehnung einer existentiellen Abstrahierung
des Künstlerischen ins „Allgemein-Menschlichen“ oder einer glorifizierenden
Verklärung des Primitiven oder Quellennahen, das als eine bewusste Vernebelung
der ideologischen Situation hingestellt wird. (Hermand, 115f.) 53. Der dialektischen Auffassung der
Kunst, die sowohl der zeitlichen Gebundenheit als auch der überhistorischen
Bedeutsamkeit eines jeden Werkes gerecht zu werden versucht, stehen im Rahmen
der marxistischen Literaturwissenschaft zwei Gefahren gegenüber. Entweder
bleibt man im bloß Geschichtlichen stecken oder man deutet lediglich die
dialektische Entwicklungskurve an. So werden immer noch marxistische
Untersuchungen veröffentlicht, in denen die Literatur nur als die Magd der
Geschichte erscheint und sich alles im rein Ilustrativen erschöpft. Oft wird
man bloß darüber informiert, welche sozial-ökonomischen Spannungen sich in
einem bestimmten Kunstwerk spiegeln, das heißt, wie es z.B. mit der feudalen
Gesellschaft um 1200 bestellt war. Für diesen Zweck könnte man auch Zeitungen,
Flugblätter, Aktenstücke oder sonstige zeitgeschichtliche Dokumente
heranziehen. Schließlich ist alles ein Reklikt der Vergangenheit. Doch was soll
uns das Vergangene, wenn es keinen Bezug zu unserer eigenen Gegenwart hat? Wenn
Kunst nur eine getreue Widerspiegelung des Historischen ist, warum sind wir
dann überhaupt „betroffen“? Alle diese Fragen hatten sich die Neuidealisten um
1900 im Anblick der positivistischen Stoffwühlereien auch gestellt. Die zweite Gefahr der marxistischen
Kunstbetrachtung liegt in ihrer oft zu schematischen Anwendung des
dialektischen Prinzips. Schuld daran ist meist Lenins Theorie der „zwei
Kulturen“. So erscheinen die absterbenden Klassen im Rahmen dieses Denkens
stets als „dekadent“ und zugleich „formalistisch-manieriert“, während die
aufsteigenden Klassen als „fortschrittlich“ und „realistisch“ charakterisiert
werden. Ja, manchmal geht man sogar noch einen Schritt weiter und stellt alles
Große, Humanistische und Zukunftsweisende als „realistisch“ hin. Ständig begegnet man hier Vorwürfen,
dass es bestimmten Dichtern des 19. Jahrhunderts nicht gelungen sei, den Weg
zur Arbeiterklasse zu finden, dass man sich von der Gesellschaft zurückgezogen
habe, dass man vor dem sozialen oder politischen Engagement zurückgeschreckt
sei und ähnliches mehr. Was man in diesen Kreisen im Auge hat, ist nicht das
geschichtlich Gegebene, sondern lediglich die volle oder partielle
Übereinstimmung bestimmter literarischer Aussagen mit den Grundmaximen der
marxistischen Lehre. (Hermand, 117ff.) 54. Nach 1945 gab es im Osten
Deutschlands grundsätzlich weniger Gelegenheit als im Westen, unauffällig an
den Stand der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Die Besatzungsmacht UdSSR bestand –
wie nach der Gründung der DDR 1949 auch deren eigene Regierung – auf einer
politisch motivierten Umgestaltung der Wissenschaft, einer Ausrichtung an der
Staatsphilosophie des Marxismusmus-Leninismus (ML). Wissenschaft stand in der
DDR unter dem allumfassenden Führungsanspruch der Sozialistischen
Einheitspartei Deutschlands (SED). Die Unterordnung von Kunst und
Wissenschaft unter eine umfassende Steuerungshierarchie setzte ein Primat des
Politischen durch. Seine vereinheitlichende Perspektive ließ keine Konkurrenz
in den Geltungsansprüchen unterschiedlicher Welterklärungsmuster zu, der
angestrebte Erkenntnisfortschritt bestand in der planvollen Entfaltung des
einen Ansatzes. (Baasner, 71f.) 55. Das Fach Germanistik wurde
eingebunden in das zentralistische Gebäude der marxistisch-leninistischen
Lehre. Dies machte viele übergreifende Basistheoreme und die
Organisationsstruktur für sie verbindlich, sicherte ihr aber in bezug auf ihren
Gegenstandsbereich trotz allem spezifische, nicht austauschbare Aufgaben und
Verpflichtungen zu. Die Germanistik war verantwortlich für die Etablierung und
Erhaltung einer angemessenen muttersprachlichen Kultur (‘sozialistische
Nationalkultur’). Es entstand der Entwurf einer Leitungswissenschaft Germanistik unter der Führung des
Zentralinstituts. Das hatte vor allem eine Stärkung der fachexternen Einflüsse
auf die Vorgänge in der Germanistik zur Folge, sowie eine fachübergreifende
Kontrolle und Eingriffsmöglichkeit in ihre internen Entscheidungsprozesse – die
für die Moderne typische Selbstregulierung des Faches wich einer vielfältigen
Vernetzung. Letzteres bedeutet weitgehende Aufhebung der relativen Autonomie
und die zunehmende Abhängigkeit der Literaturwissenschaft von ihr fremden
Ansprüchen – vor allem aus dem Sektor der staatlichen Politik. (Baasner, 71) 56. Die institutionelle
Restrukturierung nach Grundsätzen des sowjetischen ML führte zur
Entdifferenzierung der Handlungsbereiche Kunst und Kunstwissenschaften. Beide
wirkten nach diesem Konzept in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander ein.
Die Anbindung der Literaturszene an die Germanistik geriet mehr und mehr zur
verpflichtenden Anleitung von oben (was die wechselseitige Abhängigkeit nicht
aufhob, ihr aber eine klare Asymmetrie zugunsten der Wissenschaft zuschrieb).
(Baasner, 72f.) 57. In der ersten Phase blieb
durchaus einiges an geistesgeschichtlicher Tradition wirkungsmächtig. Dieser
Effekt wurde dadurch verstärkt, dass auch in Positionen der SED viele
traditionelle Elemente der nationalistischen Germanistik übernommen wurden.
Doch die aus der Tradition übernommenen methodischen Elemente wurden durch die
gesellschaftliche Funktionsbestimmung nach und nach in einen neuen Zusammenhang
gestellt und erhielten sukzessive eine andere Bedeutung. (Baasner, 73) 58. Neben einigen als geeignet
angesehenen großen Traditionslinien der Germanistik (Klassizismus, Realismus)
wurden ältere sozialistische Arbeiten als Vorläufer in die eigene Geschichte
einbezogen (so etwa die Studien Franz Mehrings oder die theoretischen Entwürfe
Georg Lukács’), weiterhin Positionen der sowjetischen Literaturwissenschaft.
Marxistische Klassiker bildeten als Ursprung der sozialistischen Geschichte den
historischen Fluchtpunkt für jegliche Perspektive. Wo immer sich die
historischen Autoritäten Marx und Engels marginal über Literatur oder Kunst
geäußert haben, galt es zu ‘lernen’, auch wenn deren Urteile selten über
Polemiken oder zeittypische bildungsbürgerliche Geschmacksurteile hinausgehen.
(Baasner, 74) 59. ML kannte nach eigener
Auffassung Irrtümer nur in den Äußerungen seiner ‘Feinde’. Erhoben wurde der
Anspruch auf die einzig richtige Auslegung der Klassiker. Alte kritische
Traditionen wie die Walter Benjamins, Theodor W. Adornos oder anderer Bezugsgrößen
der Kritischen Theorie fanden in der DDR keine Gnade. Zentraler Prüfstein war
die kulturpolitische Haltung Lenins, dessen gewaltsame Abschaffung des
künstlerischen Individuums zugunsten eines kollektivierten Kulturbegriffs
Maßstäbe gesetzt hatte. Gerade diese historische Entwicklung wurde im Westen
abgelehnt, da sie die Aufhebung der kritischen Selbständigkeit von Literatur
und Wissenschaft einschloss. Als Folge verharrte die
Literaturwissenschaft in der DDR in einer diskussionsarmen Orthodoxie.
Unterstützt wurde diese durch eine umfassende Zensur, die zur Veröffentlichung
nur freigab, was auf der Ebene der Zentralinstitute gebilligt worden war. 60. Als zentrale Fachperiodika
entstanden Weimarer Beiträge
(1955ff.) und Zeitschrift für Germanistik
(1980ff.). (Baasner, 75) 61. Allgemeinverbindliche Grundlage
ist die marxistische Geschichtstheorie. Sie führt alle historischen Zustände
zurück auf die jeweiligen ökonomischen Zustände. Diese sind geprägt von den
Produktionsverhältnissen, also der Verteilung der Produktionsmittel. Um diese
Verteilung kämpfen einander entgegengesetzte Klassen, die die Verfügungsgewalt
über die Produktionsmittel jeweils für sich zu sichern bestrebt sind; deshalb
ist die Geschichte eine ‘Geschichte von Klassenkämpfen’ (Marx). Das Ziel der
Geschichte ist die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und wirklichem
Elend. Geschichte ist damit
Gesellschaftsgeschichte, und die Gesellschaft wird primär nach ihren
wirtschaftlichen Verhältnissen analysiert. Literatur hat mit diesen nur
mittelbar zu tun, da sie in die politisch-soziale Organisation dieser
Verhältnisse nicht direkt eingreift. Sie stellt vielmehr einen Ausdruck des
gesellschaftlichen Bewusstseins dar, in dem freilich die Strukturen der
ökonomisch funktionierenden Wirklichkeit enthalten sind. Nach dem dualistischen
Konzept von ökonomischer Basis und
gedanklichem Überbau gehört Literatur
als Ausdruck eines Bewusstseins zu letzterem. Sie leistet damit eine
vermittelte Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Wirklichkeit durch deren
kulturelle Fassung im Bereich der Ideen, als Ideologie. (Baasner, 76) 62. Eine Folge der sekundären
Bildung kultureller Produktion ist, dass die für die Wirklichkeit angenommenen
kausalen Zusammenhänge auf diese Ebene nicht unmittelbar übertragbar sind: im
Bereich der Ideologie gelten die Zusammenhänge als komplexer. Die Beschäftigung
mit Literatur muss deshalb sowohl den Einfluss der Basis berücksichtigen – der
Überbau hängt immer von dieser ab – als auch die Wechselwirkungen innerhalb des
gesamten Überbaus, sei es in Form von historischen Überlieferungen, sei es als
zeitgenössische Reflexion. (Baasner, 76) 63. Literatur hat auch eine eigene
Basis, nämlich in den Bedingungen ihrer konkreten Entstehung, Verteilung und
Aufnahme. Diese Literaturverhältnisse
sind ebenfalls Teil der Literaturgeschichte. Grundsätzlich steht dabei der
Aspekt der literarischen Produktion
im Vordergrund. Die zentrale literaturwissenschaftliche Kategorie bleibt das Werk, die Geschichte der Literatur die
Abfolge einzelner Werke. Werk wird dabei wie in der klassizistischen Ästhetik
des 19. Jahrhunderts organologisch als ein abgeschlossenes Ganzes aufgefasst,
das eine eigene Totalität in sich einschließt. (Baasner, 77) 64. In den Kanon werden wesentliche
Teile des traditionellen Werkbestandes übernommen: es entsteht „eine
materialistische Ästhetik aus dem Geist des deutschen Idealismus“. (Rosenberg
1996, 304) Der Aspekt der produktiven Leistung der Rezeption von Literatur wird
erst ab etwa 1973 in Betracht gezogen, ohne jedoch jemals den Primat der
Produktion einzuschränken. (>Kritik) Diese Sichtweise sichert auch die Dominanz der
Textauffassungen, die die Zensur bei der Druckgenehmigung unterstellt und die
auch viele Leser erwarten, gegenüber etwaigen ‘falschen’ Leseweisen ab. Unter
diesen Umständen ist nicht jeder Person freigestellt, was sie für sich aus einem
Text macht. In der Literaturwissenschaft heißt dies, dass keine konkurrierenden
Interpretationen gleichberechtigt nebeneinander gelten, sondern eine Art von
traditioneller kanonischer Auslegung betrieben wird. Die Bekräftigung der
‘richtigen’ Interpretation ist theoretisches Ziel. (Baasner, 77f.) 65. Literatur steht in engstem Bezug
zur politischen Geschichte. Ordnungsmuster werden von großen politischen
Ereignissen wie z.B. der Französischen Revolution vorgeprägt. Die Literaturgeschichte versammelt Werke,
deren Inhalt auf solche Ereignisse Bezug nimmt, sie politisch kommentiert und
damit dem theoretischen Modell der Widerspiegelung entspricht. Dieses Kriterium
schränkt das Spektrum der anerkannten ästhetischen Programme deutlich ein. Abbildcharakter
vermittelt vor allem jene Literatur, die sich die mehr oder weniger mimetische
Darstellung von natürlichen und gesellschaftlichen Gegenständen zur Aufgabe
macht. Die deutsche Klassik gilt als das
für den sozialistischen Realismus historisch wichtigste Lehrbeispiel. Es geht
entschieden um Nationalliteratur. Diese zu konturieren ist die Aufgabe der
Literaturgeschichtsschreibung. Aus dem Geschichtsbild des ML leitet
sich darüber hinaus ein Interesse für alle national und realistisch
orientierten Literaturströmungen her, die mehr oder weniger als
(vor-)revolutionäre Entwicklungsstufen gedeutet werden können. (Baasner, 78) 66. Die Entscheidung für eine
möglichst geradlinige und einsinnige Referenz literarischer Texte auf das
staatlich durchzusetzende Geschichtsbild erforderte nicht nur für die soziale
Funktion der Literatur entsprechende Lenkungsinstrumente, sondern ebensolche
für Inhalt und Form der Texte selbst. Zur Wahl standen die traditionelleren
Mimesiskonzepte des 19. Jahrhunderts mit ihrer klassizistischen Ausrichtung
oder avantgardistische moderne Literaturströmungen. Eine Vorentscheidung hatte
die sowjetische Linie der 1920er und -30er Jahre getroffen, die literarische
Phänomene nach der Dichtomie ‘Foralismus’ versus ‘Realismus’ klassifizierte und
sich emphatisch für letzteren entschied. Die Zerschlagung der
avantgardistischen, heute ‘Russische Formalisten’ genannten Gruppierung belegte
den Willen der Staatsmacht, die eigenständige Entwicklung literarischer Moderne
von da an zu unterbinden. Diese Position galt in den meisten
realsozialistischen Staaten unbestritten bis in die 1970er Jahre und wurde auch
in den 80ern nur unwesentlich modifiziert.
(Baasner, 78f.) 67. Was jeweils als Wirklichkeit
aufgefasst und literarisch verarbeitet werden soll, ist kaum ein Gegenstand des
Streites. Die Widerspiegelungsforderung macht der literarischen Darstellung
deutliche theoretische Vorschriften. Der Begriff der Realität wird durch die
marxistisch-leninistische Brille betrachtet. In deren ausschließlicher
Wahrnehmung kann er a priori nur solche Elemente aufweisen, die mit der Doktrin
vereinbar sind. ‘Sozialistischer Realismus’ ist ein doppelt geregeltes Konzept,
das sowohl die Elemente der ‘objektiven Realität’ auf der Vorbildebene als auch
die Verknüpfungs- und Darstellungsmittel auf der Ebene der literarischen Texte
streng selegiert. (Baasner, 79) 68. Die Kritische Literaturwissenschaft suchte in den 1970er Jahren den
politisch-emanzipatorischen Anspruch der sozialwissenschaftlichen Frankfurter Schule in der Literaturwissenschaft
zu verankern. Sie beruft sich in erster Linie auf die literatursoziologischen
und ästhetischen Arbeiten von Georg Lukács, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse
und Walter Benjamin und möchte diese aufgrund aktueller sozialhistorischer und
soziologischer Erkenntnisse prüfen und modifizieren. Ein wichtiger Vertreter
dieser Richtung ist Peter Bürger. Seine Arbeiten und die vieler anderer sind
Jürgen Habermas verpflichtet. (Baasner, 177) 69. Kritische Wissenschaft geht von
einer Geschichtsphilosophie und einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft aus
und versucht, menschliches Handeln innerhalb sozioökonomischer, historisch sich
wandelnder Rahmenbedingungen zu verstehen und zu erklären. Sie verfährt
hermeneutisch, insofern sie Sinnverstehen als konstitutiv für die
Theoriebildung ansieht und nicht nur als heuristisches Hilfsmittel. Im
Gegensatz zur philosophischen Hermeneutik geht sie jedoch von der Möglichkeit
der Methodisierung von
Verstehenshandlungen aus. Während sich die Universalhermeneutik im subjektiven
Verstehen traditionaler Sinnhorizonte gründet, möchte die Kritische Theorie
objektivierende Verfahren bereitstellen, die die Abhängigkeit der Ideen und
Interpretationen von den Interessenlagen der gesellschaftlichen Wirklichkeit
erschließen. Erklärungsbedürftig sind dann nicht nur die von einzelnen
geäußerten Ideen, sondern auch die Bedingungen, unter denen individuelles
Handeln stattfindet. (Baasner, 177f.) 70. Theorie der Literatur bedeutet
für Bürger in diesem Rahmen nicht Theorie des literarischen Werks, sondern
Kulturtheorie. Als umfassendes Konzept schlägt er die Kategorie der Institution Kunst vor, mit deren Hilfe
die ‘Produkte des Geistes’ in ideologiekritischer Absicht auf die sozialen und
ökonomischen Verhältnisse bezogen werden sollen. Literatur wird als Produkt
(nicht: Abbild) dieser Verhältnisse verstanden, wobei die Vorstellungen über Kunst
Auskunft geben über die spezifische Gesellschaftsformation und die soziale
Funktion, die Kunst in dieser zugewiesen wird. Als Ausdruck realer Verhältnisse
kann auch Literatur in letzter Instanz auf Produktionsverhältnisse
zurückgeführt werden, und zwar unabhängig davon, wie mimetisch oder realistisch
das einzelne Werk ist. Die funktionanalytische Perspektive
erlaubt, die Institution Literatur in eine kritische Gesellschaftstheorie
einzuordnen. Ideologiekritische Literaturwissenschaft widersetzt sich auch dem
Vorwurf, sie vernachlässige ‘das Eigentliche’ der Literatur: das Schöne ist
nicht mehr das überzeitlich gültige Kunstschöne, sondern die historisch zu
bestimmende Ästhetik, der Kunstbegriff, der selbst zum Gegenstand der Forschung
wird, statt sie normativ zu orientieren. (Baasner, 178) 71. Im Gegensatz zur
marxistisch-leninistischen Literaturwissenschaft rekurriert Bürger mit seinem
ideologiekritischen Konzept nicht auf Marx’ und Engels’ Urteile über
literarische Texte und zeitgenössische Autoren, sondern auf die
kulturtheoretischen Überlegungen des jungen Marx. Ideologie drückt demnach
Wahrheit aus und zugleich Täuschung über diese Wahrheit; sie ist zudem
politisch funktional. Im Anschluss an H. Marcuse überträgt
Bürger das Marxsche Modell der Ideologiekritik auf literarische Texte.
Ideologiekritik umfasst das Verhältnis von ideologischem Objekt und
Gesellschaft als eines von Produkt zu Produktionsvoraussetzungen. Die gesellschaftlichen
Verhältnisse sind in vermittelter Form in das Produkt eingeschrieben, und zwar
als Relation von funktionalem Teilbereich zur gesellschaftlichen Totalität. Die
Voraussetzung der Funktionalität von Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft
ist gerade ihr Autonomiestatus. (Baasner, 178f.) 72. Bürger geht davon aus, dass
Kultur als tatsächliche Handlung der Forschung nicht zugänglich ist. Dann muss
Kunst über die herrschende Kunstideologie erschlossen werden. Deren
ideologischer Charakter kann zweierlei verdecken: den wirklichen Umgang mit
Literatur und die Nichteinlösung des Anspruchs auf Humanität in der wirklichen
Welt. Bürger thematisiert aber nicht das Verdeckte, sondern ausschließlich das
Verdeckende: die Widerspruchsstruktur der
funktionalen Funktionslosigkeit der Literatur. Andere Indikatoren, die über
den wirklichen Umgang mit Literatur Auskunft geben könnten (z.B.
Lesepräferenzen, Verlage) werden von Bürger aus der unmittelbaren Betrachtung
ausgeschlossen. Er nimmt z.B. an, daß die Instanzen des Vertriebs und der
Vermittlung von Literatur sich dem jeweiligen Status von Kunst entsprechend
ausbilden. (Baasner, 179) 73. Für Bürger bedeutet Institution
Kunst die gesellschaftliche Funktionsbestimmung von Kunst und Literatur, die
normative Positionierung literarischer Objektivationen innerhalb einer
Gesellschaft. Das individuelle Kunstprodukt ist aber durchaus in der Lage, die
Einsinnigkeit der institutionalisierten Kunstvorstellung zu durchbrechen. Seine
Erkenntnisleistung ist weder auf die Epoche seines Entstehens noch den
Standpunkt des Verfassers beschränkt. Der literarische Versuch, das eigene Sein
reflektierend zu überschreiten, wird über die Entstehungszeit hinaus rezipiert.
Die ‘utopische Dimension ‘ des Kunstwerks erweist sich gerade in der
Konfrontation mit den tatsächlichen Verhältnissen seiner und folgender
Zeitumstände. (Baasner, 180) 74. Als Vermittlungsinstanzen sollen
die Begriffe der Norm und des Materials die gewünschte Integration von
Einzelwerkanalyse und theoretischem Rahmen leisten. Bürger unterstellt nicht,
daß das einzelne Werk durch die institutionellen Vorgaben des herrschenden
Kunstbegriffs restlos determiniert sei. Auch wenn die institutionelle Funktion
von Literatur die Produktion und Rezeption bestimmt, so ist sie doch nicht im
einzelnen Werk unmittelbar auffindbar. Die explizite, auf die Wirklichkeit
bezogene Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen bedeutet die
Konfrontation mit dem Kunstideal der Autonomie. Politisch kann die Kunst erst
werden, wenn sie es nicht sein soll. Unterhalb der Ebene des
Autonomiepostulats liegt der Vorzug des Materialbegriffs darin, den
Zusammenhang von Kunst und Gesamtgesellschaft an im Werk auffindbaren Merkmalen
nachweisen zu können. Material wird als der im Kunstwerk vergegenständlichte
Stand künstlerischer Formen begriffen. Bürger unterstreicht, dass neben der
Form auch der Inhalt erfasst sein müsse.
(Baasner, 180f.) 75. Das emanzipatorische Programm
der Kritischen Literaturwissenschaft beruft sich u.a. auf die Schriften Walter Benjamins.
Bürger sieht jedoch in seinem Ansatz das umfassendere Konzept, das sowohl die
im Kunstwerk geleistete Wirklichkeitserkenntnis als auch seinen
Ausdruckscharakter erschließe. Der Wahrheitsgehalt literarischer Werke, ihre Humanität, wird nicht in der
literaturkritischen Konfrontation von Text und Realität gesucht, sondern in der
Totalität des Werks selbst. Der Autor wird nicht als Seismograph der geistigen
Verfasstheit seiner Zeit, sondern als gesellschaftlich handelndes Subjekt verstanden,
dessen Wirklichkeitserkenntnis durch seinen sozialen Standort begrenzt ist. Als Frage bleibt letztlich, was es
zu bewahren gilt, was ‘tote Habe’ und was ‘lebendiges Kulturgut’ ist. Tradition
wird als gemachte erkannt. Das in der Wirkungsgeschichte konstruierte Kontinuum
literarischer Entwicklung soll aufgebrochen und Platz geschaffen werden für
das, was die apologetische Kritik nicht zur Kenntnis nimmt. (Baasner, 181f.) 76. Die sozialgeschichtliche Methode
fasst die Literatur unter mehr oder minder strenger Anwendung des marxistischen
Basis-Überbau-Schemas primär als einen Schauplatz symbolischer
Auseinandersetzungen zwischen gegnerischen Klassen oder Gesellschaftsschichten
auf. Politisch-ethische Stellungnahmen werden von Vertretern dieser Richtung
für unvermeidlich und unverzichtbar gehalten. Literarische Werke werden
demzufolge explizit beurteilt und je nachdem als progressiv oder reaktionär
eingestuft. Reaktionäre Werke werden einer enthüllenden Ideologiekritik
unterzogen, die häufig den marxistischen Satz bestätigt, daß die herrschende
Meinung die Meinung der Herrschenden sei. Progressive Werke werden demgegenüber
für ihr Engagement zugunsten ausgebeuteter, marginalisierter oder sonst wie
unterdrückter Personengruppen gelobt. (Schneider, 219f.) 77. Gab es hierbei ursprünglich
relativ klare Frontverläufe, bei denen ‘Reaktionäre’ wie Goethe, Eichendorff
oder Fontane ‘Progressiven’ wie Heine, Büchner oder Tucholsky gegenübergestellt
wurden, so brachte die Weiterentwicklung der sozialgeschichtlichen
Untersuchungsmethode in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine deutliche
Verfeinerung der Beurteilungskriterien mit sich. So entdeckte Georg Lukács in
den Werken von Goethe und Thomas Mann Elemente einer entlarvenden
Wirklichkeitsdarstellung, der diese Autoren unverhofft zu respektablen
Ahnherren des sozialistischen Realismus aufsteigen ließ. Und Theodor W. Adorno
rehabilitierte umgekehrt einige bis dahin von den Linken als unengagierte
Formkünstler geschmähte Autoren wie George oder Beckett, in deren ontologischer
und semiotischer Emanzipation er eine provokante Kommunikationsverweigerung und
einen gezielten Protest gegen Nützlichkeitsdenken und kapitalistische
Konsumhaltung erblickte. Adorno öffnete damit den Blick für jene Formen des
Engagements, die sich nicht inhaltlich, sondern auf subtilere Weise durch die
formale Gestaltung von Texten äußern. Er trug wesentlich dazu bei, dass auch
solche Literaturwissenschaftler für die sozialgeschichtliche Methode gewonnen
werden konnten, die vor explizitem politischem Engagement zurückschreckten und
die sich selbst keineswegs als Marxisten verstanden. (Schneider, 220) 78. Nach der Auflösung der
Studentenbewegung wurde dieser Trend noch verstärkt, und seit der politischen
Wende von 1989 gibt es nur noch wenige Literaturwissenschaftler, die sich
ausdrücklich zum Marxismus bekennen. Die Konzepte von Lukács und Adorno hatten
jedoch rechtzeitig den Weg hin zu moderateren Formen der Sozialgeschichte
gebahnt, so daß heute noch keineswegs von einem Niedergang dieses Ansatzes
gesprochen werden kann. Methodologisch ist es jedoch ein Problem, dass hierbei
häufig nicht klar zu erkennen ist, für wie eng oder lose die Relation zwischen
ökonomisch-gesellschaftlicher Basis und kulturellem Überbau im einzelnen
gehalten wird. Nicht selten kommt es so zu einem rätselhaften Nebeneinander von
wirtschafts-, gesellschafts- oder auch technikgeschichtlichen
Hintergrund-Fakten und literaturgeschichtlichen Einzelanalysen und
-interpretationen, ohne dass deutlich ausgesprochen wird, was die
Einkommenssituation der schlesischen Textilarbeiter mit Heines Lyrik oder der
Ausbau des Eisenbahnnetzes mit Fontanes Balladen konkret zu tun hat. (Schneider, 220f.) 79. Das bleibende
forschungsgeschichtliche Verdienst der sozialgeschichtlichen Methode liegt
unstrittig darin, dass sie am Thron der kanonisierten, manchmal sogar im Sinne
eines Starkults für Gebildete verehrten Klassiker rüttelte, dass sie politisch
verfemte Autoren rehabilitierte und dass sie den Literaturbegriff zumindest auf
die Trivialliteratur ausdehnte. Aufgrund der Innovationen Adornos lässt sich
heute auch nicht mehr behaupten, dass die Sozialgeschichtler zu inhaltsbezogen
argumentieren und kein Verständnis für künstlerische Gestaltungstechniken,
ästhetische Qualität und ontologische oder semiotische Emanzipation besitzen.
Die sozialgeschichtliche Methode ist also auch heute noch de facto weit
verbreitet und trägt trotz gewisser theoretischer Defizite ganz wesentlich zum
inhaltlichen Verständnis vieler Texte und des Prozesses der literarischen
Kommunikation in seiner geschichtlichen Entwicklung bei. (Schneider, 221) 80. Wir wollen unter
materialistischer Literaturtheorie einen Komplex von Fragestellungen verstehen,
die sich aus der Übertragung von Argumentationsweisen der materialistischen
Philosophien und der aus ihnen entspringenden Denkweisen auf die
Literaturwissenschaft ergeben. (Sauerland, 103) 81. Während Feuerbach, Marx und
Freud die Mythen, die religiösen Vorstellungen und ähnliche Geistesgebilde als
Illusionen interpretieren, die es zu überwinden gilt, ist Ernst Bloch der
Meinung, daß sich in ihnen ein Teil des menschlichen Wesens widerspiegelt. Der
Mensch ist nicht imstande, nur im Jetzt zu verweilen. Er will auch zu dem
gelangen, was er noch nicht hat. Er schaut stets nach vorn, läßt sich von dem
Zukünftigen leiten; er ist ein antizipatorisches Wesen. Der Mensch strebt auf
das nächst Zukünftige nicht nur materiell zu, sondern auch geistig durch das
Träumen, durch Wunschvorstellungen, Sehnsüchte etc. Hieraus leitet Bloch die
Grundsituation des Menschen ab: daß er von der Hoffnung erfüllt, ja bestimmt
ist. Ideologien sind nach Bloch nicht nur
Widerschein der Zeit, sie enthalten auch einen Überschuss, der die Zeit
überschreitet. In den großen Kunstwerken z.B. ist er so groß, dass er das
Ideologische, Zeitgebundene weitgehend überschreitet. Das Utopische ist stärker
als das Ideologische. Im Laufe der Zeit verstärkt es sogar
seine Wirkung. Das an die einstmalige Wirklichkeit Gebundene wird immer
blasser, während das auf die vollendete Zukunft Verweisende stärker
hervortritt. Das Kunstwerk entfaltet dabei seine antizipatorische Bedeutung erst
in der geschichtlichen Entwicklung. Dadurch, dass sich in der Geschichte neue
Möglichkeiten abzeichnen, bekommen die Kunstwerke einen neuen Sinn, oder anders
gesagt, ihre Bedeutung entfaltet sich im Laufe der Geschichte. Diesem Umstand
verdankt das gelungene Kunstwerk sein Fortleben. Bloch ist der Auffassung, dass der
Mensch solange Illusionäres schaffen muss, solange er nicht den Endzustand
erreicht hat. Ohne den Schein, ohne die Bilder, in die der Mensch seine dunklen
Ahnungen und Sehnsüchte projiziert, würde er nicht leben können. (Sauerland,
106f.) 82. Auch Adorno spricht der Kunst
eine antizipatorische Fähigkeit zu. Adorno meint jedoch nicht wie Bloch einen
erreichbaren Endzustand der Geschichte, sondern ein Anderes, das dem
Bestehenden entgegengesetzt ist, ohne sich allerdings in seinen Elementen, die
alle der sogenannten Wirklichkeit entnommen sind, zu unterscheiden. Dieses
Andere an der Kunst läßt sich als ein „Versprechen des Glücks“ begreifen,
dessen Eintreffen so unmöglich nicht scheint. Doch in Wirklichkeit ist mit
einer Realisierung der Utopie nicht zu rechnen. Die Zukunft ist verdeckt, sie
lässt kaum einen Lichtschein durchdringen. Es bleibt nur die Erinnerung an
bessere Zeiten. Adorno kann nicht hoffen, dass die
Menschen zu sich kommen werden; im Gegenteil die „verwaltete Welt“ wird ihre
Siege feiern, es ist sogar unwahrscheinlich, dass die Menschheit der nahenden
Katastrophe entgehen wird. Die Zeit, in der sich die Kunst als überflüssig
erweisen wird, da die Ursachen des Leids behoben worden sind, wird reiner Traum
bleiben. Kunst wird daher weiterhin eine Daseinsberechtigung erhalten. Sie
ermöglicht es, dass der Rezipient wenigstens für Augenblicke eine Befreiung vom
Zwang zur Identität erfährt. (Sauerland, 108) 83. Die Wahrheit der Kunst liegt
nach Herbert Marcuse in der Durchbrechung des Realitätsmonopols, wie es in der
bestehenden Gesellschaft ausgeübt wird. Marcuse sucht die Notwendigkeit des
Scheins zu beweisen. Er führt dafür zwei Gründe an. Der erste ist in der
herrschenden repressiven Gesellschaft unserer Zeit zu suchen, der andere in den
„naturhaften“ Grenzen, die der Freiheit stets gesetzt sein werden. Kunst kann
nur der Sehnsucht nach Durchbrechung dieser „naturhaften Grenzen“, zu denen
auch der Tod gehört, Ausdruck verleihen. Diese Sehnsucht ist eine Illusion,
aber, wie Marcuse zu meinen scheint, eine lebensnotwendige. Der Mensch kann
nicht nur dem Realitätsprinzip gehorchen, auch nicht in einer befreiten
Gesellschaft. (Sauerland, 109) 84. Den umfassendsten Versuch, eine
materialistische Ästhetik zu schaffen, hat Georg Lukács in Die Eigenart des Ästhetischen (1963) unternommen. Dieses Werk
knüpft an Ideen an, die er u.a. schon in seiner zwischen 1912 und 1914
entstandenen Philosophie der Kunst
entwickelt hatte. Das Ästhetische nennt er ein
„homogenes Medium“, das zum Kunstwerk förmlich hinstrebt. Dieses zeichnet sich
durch eine Art innerer Geschlossenheit, durch ein „Für-Sich-Sein“ aus. Es ist
eine Welt für sich, die konzentrierte Aufmerksamkeit verlangt. Der „ganze
Mensch des Alltags“ muss sich in einen „Mensch ganz“ verwandeln, wenn er das
Kunstwerk genießen und vor allem begreifen will. (Sauerland, 113ff.) 85. Walter Benjamin war wohl der
erste Denker und Kulturhistoriker, der zu erforschen suchte, welche Wirkung
Veränderungen in der Wahrnehmungsweise auf die künstlerische Gestaltung und die
Rezeption von Kunst haben. Benjamin versucht, die „Veränderungen im Medium der
Wahrnehmungen, deren Zeitgenossen wir sind“, als „Verfall der Aura“ zu
begreifen, der mit dem Aufkommen der massenhaften Reproduzierbarkeit von
Kunstwerken, der Emanzipation der Technik und dem Auftreten der Masse als
Kunstrezipienten einsetzt. Er unterscheidet zwischen den auratischen und den
nicht-auratischen Künsten. Beide verlangen unterschiedliche Haltungen, die bis
ins Körperliche hineingehen. Benjamin erkennt eine deutliche
Parallele zwischen den neuen Wahrnehmungsweisen und den Veränderungen in den
Künsten der Moderne. In allen Sphären des menschlichen Lebens lässt sich ein
Anwachsen der diskontinuierlichen Erscheinungen beobachten, insbesondere im
Arbeitsprozess. Das Plötzliche, Schockartige wird zu einem integralen
Bestandteil des Bewusstseins und der Verhaltensweisen, z.B. des
Straßenpassanten. Die Zunahme des Plötzlichen,
Schockartigen, Diskontinuierlichen in der Industriegesellschaft ist einerseits
mit der Zunahme des Gleichförmigen im Alltag und andererseits mit der
Vereinzelung des Individuums aufs engste verbunden. Erst dadurch gewinnt das
Plötzliche, Überraschende so sehr an Bedeutung. Das Außergewöhnliche,
Einmalige, Unerhörte wird erwartet. Aber gleichzeitig versucht der Mensch,
einen Abwehrmechanismus gegen das Plötzliche und Schockartige zu entwickeln,
indem er Wahrnehmungen dieser Art gar nicht mehr bewusst verzeichnet. Dem korrespondiert eine neue Sicht
der Dichterpersönlichkeit. Dieser ist nicht mehr der tief erlebende, der um
eine große Skala von Erfahrungen bemüht ist, um diese dann in seinem Werk zu
einem in sich geschlossenen Bild zu verarbeiten. Das Momentane, Plötzliche, vor
dem man im allgemeinen flieht, wird nun zum Vorwurf des dichterischen
Schaffens. Dem Begriff des Erlebnisses setzt
Benjamin den der Erfahrung entgegen. Die Erfahrung ist dadurch gekennzeichnet,
dass sie aufs engste mit der Tradition verbunden ist. Ein entscheidendes
Merkmal der Erfahrung ist daher die Kontinuität. Ferner ist sie eine Sache des
Kollektivs. Immer wieder hören wir in Benjamins Schriften von dem
Dahinschwinden der Erfahrungen. Immer weniger können wir damit rechnen, auf
traditionelle Weise in den Besitz von Erfahrungen zu gelangen. Die Übermittlung von Erfahrung war
mit dem Erzählen verbunden. Der Niedergang der Erfahrung korrespondiert daher
mit dem Untergang des Erzählers und der Erzählung im weitesten Sinn des Wortes.
Der neuen Wahrnehmungssituation entsprach am adäquatesten die damals neueste
Kunstgattung, der Film. Dieser muss z.B. aus vielen einzelnen Teilen montiert
werden. Benjamin ist der Meinung, dass der Film als ein Training angesehen
werden kann, das den Menschen hilft, den schockartigen Alltag zu ertragen. Der
Film hilft darüber hinaus, mit der „emanzipierten Technik“, die „der heutigen
Gesellschaft als eine zweite Natur“ gegenübersteht, fertig zu werden.
(Sauerland, 130ff.) 86. Nach Adorno trägt die neue
Wahrnehmungssituation, wie Benjamin sie darstellt, gerade nicht zu einem neuen
Kunstverständnis bei, sondern führt zu einer Infantilisierung der Gesellschaft.
Auch diejenigen, die etwas von Kunst verstehen, haben kaum noch eine Chance,
sich vor dem allmächtigen kunstvernichtenden Einfluss der Medien zu retten.
Sehr deutlich zeige dies die Entwicklung in der Musik. In der neuen
Wahrnehmungssituation habe sich ein neuer Hörtyp durchgesetzt, der zu
konzentriertem Hören nicht mehr fähig sei. Schönbergs Musik spiegelt einerseits
den wahren Zustand der Welt, ohne über das Auswendige auch nur ein Wort fallen
zu lassen, andererseits kann man sie nicht im Zustand der Dekonzentration
hören. (Sauerland, 135f.) 87. In der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts pflegte man Kunst und Literatur als Produkte genialen Schaffens
und einer intensiven Phantasietätigkeit des Schaffenden zu erklären. Der
Künstler war ein von hohen Ideen und lebhafter Einbildungskraft durchdrungener
Mensch, der sich an eine größere Menge, zumeist an das Volk wandte. In der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird diese Sichtweise als einseitig
empfunden. Nun wird mehr und mehr auf die wichtige Rolle hingewiesen, die die
Technik im künstlerischen Schaffen spielt. Im zwanzigsten Jahrhundert ist der
Begriff der Technik zu einem allgemein üblichen geworden. Der Begriff „Material“ gewinnt erst
zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegende Bedeutung in kunsttheoretischen
Reflexionen. Bis dahin war es selbstverständlich, dass man, wenn etwa die Rede
von der Malerei war, über die Besonderheit der verwandten Materialien, z.B. der
Farbe, sprach, aber da die Materialien nicht frei verfügbar waren, kam man
nicht auf die Idee, dass von ihrer Wahl Grundlegendes für die Formierung des
Kunstwerkes abhänge. Erst die Moderne eröffnete eine neue Perspektive, die in
der Überzeugung ihren Ausdruck fand, dass sich das Kunstwerk durch eine
spezifische Organisation verschiedenartiger Materialien auszeichne. Vom
Künstler hängt es nun ab, welches Material er verwendet und welche Bedeutung er
ihm zuweist. (Sauerland, 136f.) 88. Adorno widmet dem Material und
den Verfahrensweisen so große Aufmerksamkeit, weil er Verfechter der Autonomie
des Kunstwerks ist. Die wichtigsten Probleme, die Künstler zu lösen haben, sind
nicht inhaltliche, sondern technisch-formale: etwa die Auswahl und Verwertung
des Materials oder Anwendung bestimmter Techniken, mit deren Hilfe das Material
angeordnet wird. Das Kunstwerk kann man streng
genommen nur dann verstehen, wenn man die vom Künstler gefundenen
formal-technischen Lösungen zu erkennen (wahrzunehmen) vermag. Das ist aber nur
möglich, wenn man diese mit anderen Verfahrensweisen der Vergangenheit und
Gegenwart konfrontiert. Der Betrachter, Hörer oder Leser hat Kunst als einen
Komplex von Korrespondenzen zwischen Werken und unterschiedlichen Techniken
anzusehen. (Sauerland, 141) 89. In kunst- und
literaturtheoretischen Arbeiten findet man immer wieder die Begriffe Produktion
und Praxis sowie solche, die in diesen Kontext passen. Hinter diesem neuen
Sprachmodell verbirgt sich eine neue Einschätzung der Rolle des Künstlers und
der Kunst wie auch die Erkenntnis, dass sich die Bedingungen, unter denen
moderne Kunst und Literatur geschaffen, verbreitet und perzipiert werden,
grundlegend verändert haben. Diese neuen Bedingungen sind einerseits durch
massenhafte Verbreitung vieler Kunsterzeugnisse und andererseits durch die
Entstehung neuer Kunstarten, wie Hörspiel und Film, gekennzeichnet. Bei der Verwendung von Begriffen aus
dem Wortfeld Produktion ist Vorsicht geboten, weil hier sehr schnell die
Spezifik von Kunst und Literatur verloren gehen kann. Von einem Produzenten
kann man bei einem Unterhaltungsschriftsteller sprechen, nicht aber bei Celan.
(Sauerland, 142f.) 90. Mit dem Begriff Kunst als Praxis
soll zumeist darauf hingewiesen werden, dass die Kunst nicht einem
interesselosen Wohlgefallen zu dienen habe, sondern in das gesellschaftliche
Leben eingreifen müsse. Literatur stellt ein besonderes
Praxisfeld dar. Einzig in der Literatur haben wir es mit Zeichen zu tun, die im
Gegensatz zur Wissenschaft, Politik oder Alltagssprache noch keine festen
Bedeutungen haben bzw. die deren feste Bedeutung in Frage stellen. Und einzig
in der Literatur entstehen Texte, in denen die Zeichen auf sich selbst bezogen
sind. Die von vielen materialistischen
Literaturtheoretikern vertretene Widerspiegelungs- oder Abbildtheorie ist schon
deswegen falsch, weil es im literarischen Text eben nicht um ein Abbild geht,
sondern darum, dem Zitierten eine neue Bedeutung zu verleihen. Die Bedeutung des Zeichens ist nie
wirklich festgelegt. Damit wird der Leser in die Praxis, die vom Text ausgeht,
mit hineingezogen. Er selber stellt sich in Gegensatz zu der Welt der
festgelegten Bedeutungen, zur real existierenden Gesellschaft. Er hat teil –
wenigstens für den Augenblick der Lektüre und in der Erinnerung an sie – an der
Zerstörung der herrschenden Ordnung, zu der auch bestimmte Moralgebote,
Gepflogenheiten im Zusammenleben usw. gehören, und an der Zerstörung der
existierenden petrifizierten Sprache sowie an deren Neuschaffung; denn die
literarischen Texte zeigen uns zugleich, wie Sprache funktioniert und wie sie
erzeugt wird. Der literarische Text animiert den Leser zum Mitvollzug der
Verwandlung der erstarrten Sprache, der Produktion von Bedeutungen, und er
demonstriert an dem je einzelnen Fall, wie Sprache geschaffen wird. (Sauerland,
145ff.) |