6 Literatursoziologie

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6.2 Ältere und neuere literatursoziologische Ansätze

6.22 Die wichtigsten Ansätze

1. Nicht jede Literatursoziologie ist marxistisch; denn es gibt auch andere als marxistische Gesellschaftsvorstellungen.

Es gibt eine literatursoziologische Richtung, die mit der Literaturwissenschaft wenig zu tun hat, auf jeden Fall nicht mit ihr in unmittelbare Verbindung gebracht oder gar verwechselt werden möchte: Die sogenannte empirisch-positivistische Literatursoziologie., die als Teilgebiet der Soziologie Erkenntnisse über die mit Literatur Befassten sammelt, die deren Verhältnis zur Gesamtgesellschaft erhellen. Die Sammlung der sozialen Fakten soll nicht dem Verständnis der Literatur dienen, sondern Aufklärung über bestimmte soziale Gruppen oder gesellschaftlich interessante Individuen bringen. Alphons Silbermann fragt in erster Linie nach Erlebnissen, die durch Kunst bewirkt werden; darüber hinaus nach allen sozialen Beziehungen, die durch Kunst zustande kommen. (Oellers, 225)

2. Hans Norbert Fügen ist in seinem Buch Die Hauptrichtungen der Literatursoziologie und ihre Methoden einer Vermischung von Literaturwissenschaft und Literatursoziologie entschieden entgegengetreten; letztere fasst er als eine spezielle Soziologie auf und bestimmt sie so: „Da die Soziologie das soziale, d.h. intersubjektive Handeln zum Forschungsgegenstand hat, ist sie nicht am literarischem Werk als ästhetischem Gegenstand interessiert, sondern Literatur wird nur insofern für sie bedeutsam, als sich mit ihr, an ihr und für sie spezielles zwischenmenschliches Handeln vollzieht. Die Literatursoziologie hat es demnach mit dem Handeln der an der Literatur beteiligten Menschen zu tun; ihr Gegenstand ist die Interaktion der an der Literatur beteiligten Personen“ (Fügen 1964, 14).

Fügen teilt also die Literatur in zwei Bereiche: in den der empirisch nachweisbaren Verflechtung von Produktion, Distribution und Konsumtion sowie in den des nur spekulativ (geistesgeschichtlich oder werkimmanent oder sonst wie) erfassbaren Ästhetischen. Literaturwissenschaft verfährt demnach historisierend, es geht ihr um das geschichtlich Bedeutsame, das Einmalige, Individuelle; Soziologie verfährt hingegen generalisierend, es geht ihr um Typisches, um Grundformen menschlicher Beziehungen und menschlichen Verhaltens. (Oellers, 225f.)

3. Die Literatursoziologie, so sieht es Fügen, könne die Literatur als soziales Verhältnis jeweils nur im Rahmen eines ‘sozialen Grundverhältnisses’, durch das die wechselseitige Abhängigkeit von literarischer Produktion und literarischer Rezeption geregelt sei, untersuchen. Die Untersuchungen zielen auf die Erhellung typischer Formen dieses Verhältnisses, also auf das Rollenverhalten der an Literatur Beteiligten: der Produzenten, der Vermittler und der Konsumenten. Die wohl wichtigste Aufgabe sieht Fügen in der Beantwortung der Frage, wie sich ein Autor gegenüber seine sozialen Umwelt verhält. Drei typische Verhaltensweisen werden unterschieden: die des gesellschaftskonformen, die des gesellschaftskonträren und die des gesellschaftsabgewandten Autors. Fügen glaubt, aus der Dominanz verschiedener Typen zu verschiedenen Zeiten auf Gesetzmäßigkeiten schließen zu können. Diese Annahme ist sehr problematisch. (Oellers, 226f.)

4. Dass die Kenntnis der gesellschaftlichen Position eines Autors zum Verständnis seiner Werke wichtig ist, wird kein Literaturwissenschaftler bestreiten. Doch die Werke interessieren Fügen nicht; er stellt die Ergebnisse seiner soziologischen Untersuchungen zur Verfügung. Welchen literarischen Typ repräsentiert Thomas Mann? Brecht? Heine? Gryphius? Die Antworten sind nicht einfach. Ergeben sie sich vielleicht aus den Werken der Autoren? (Also gewännen die Werke eines einzelnen Autors Bedeutung für literatursoziologische Bemühungen?) (Oellers, 227)

5. Ergiebiger sind empirische Untersuchungen, die dem Verhalten des literarischen Publikums gelten: wer liest was warum? Die Buchmarktforschung hat sich inzwischen diesem weiten Problemkreis mit Eifer gewidmet.

Andere soziologische Untersuchungen befassen sich mit den Literatur-Vermittlern (Kritikern, Buchhändlern, Verlegern, Bibliothekaren): auch deren Tätigkeiten üben einen entscheidenden Einfluss auf den literarischen Markt aus; nicht nur das Vorhandensein, sondern auch die Beschaffenheit von Werken können durch Vermittler bestimmt werden. Die Zensur ist dafür das krasseste Beispiel. (Oellers, 227)

6. Die Literaturwissenschaft, die literatursoziologisch – und zwar empirisch-positivistisch – vorgehen möchte, muß sich hüten, aus wenigen Ergebnissen Gesetze zu formulieren, allzu schnell vom Besonderen zum Allgemeinen zu gelangen, den Prozess der Induktion abzukürzen, um hurtig deduzieren zu können. (Oellers, 228)

7. Dass es der Literatursoziologie nicht allein um Soziales, sondern auch (und vielleicht vorrangig) um Literarisches gehen müsse, hat Fügen in einer späteren Arbeit mit aller Deutlichkeit gesagt: zu erforschen sei „die Wechselwirkung zwischen literarischen Phänomenen und dem System der literarischen Phänomene einerseits und gesamtgesellschaftlichen Phänomenen andererseits“ (Fügen 1968, ?).  (Oellers, 228)

8. Zu den heftigsten Kritikern einer Literatursoziologie im Sinne Silbermanns gehörte Theodor W. Adorno. Dem Soziologen obliegt es nach Adorno, die Gesellschaftlichkeit von Literatur, ihre Bedingtheit durch Gesellschaft und schließlich das Maß an Selbständigkeit, das ihr das Ansehen gibt, autonom zu sein, zu erforschen und damit das Verständnis ihrer Besonderheit zu fördern. Literatursoziologie ist hier eine spezielle Form der Gesellschaftswissenschaft; ihr Ziel und ihre Methode hängen von des Soziologen Gesellschaftsauffassung ab. (Oellers, 229)

9. Die kritischen Theoretiker der ‘Frankfurter Schule’ nahmen ihren Ausgang von dem jungen Marx [> Marxismus]. Der Geschichtsprozess, so sieht es Adorno, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Entfremdung des Menschen von sich selbst, also die Beziehungslosigkeit zu den Ergebnissen eigener Tätigkeit, auf Grund der zunehmenden Arbeitsteilung immer größer geworden ist. Eine Entwicklung, die diesen Prozess umkehrt (etwa im Stadium der klassenlosen Gesellschaft), sieht er als nicht denkbar an. Das bedeutet: Die Macht der Ideologie besteht oder wächst weiter, weil die Entfremdung der Erkenntnis des Menschen über sich selbst hinderlich ist.

Das System der Gesellschaft zu durchschauen, heißt demnach, Ideologie aufzudecken. Analyse der Gesellschaft ist im wesentlichen Ideologiekritik. Analyse von Literatur als sozialem Phänomen ist nichts anderes; es ist zu zeigen, inwieweit ein literarisches Werk ideologisch verstrickt ist, inwieweit es der Ideologie entkommen konnte oder selbst ideologiekritisch wirksam ist. (Oellers, 229f.)

10. Kunst erscheint bei Adorno als nicht kalkulierbares Phänomen im materiellen Produktionsprozess, sie befriedigt keine materiellen Bedürfnisse, sie richtet sich nicht an die Masse. Im Kunstwerk wird die Welt, wie sie ist, gesehen und gedeutet: das Kunstwerk rebelliert gegen die Wirklichkeit; von seiner Wirkung darf sein Wert nicht abhängen; wichtig ist, daß es die Möglichkeit der Erkenntnis bietet und damit die Möglichkeit der Veränderung. Kunst ist, sofern sie Wahrheit ausspricht, nicht anders vorstellbar als „Protest gegen das, was ist“. Es liegt im Wesen der Kunst, elitär zu sein. (Oellers, 230)

11. Die Literatursoziologie, die nach den grundlegenden Bestimmungen der Kritischen Theorie verfahren möchte, ist elitär. Sie erfordert den Überblick des Polyhistors, dessen mannigfache Kenntnisse in einem umfangreichen System gesellschaftswissenschaftlicher Einzeldisziplinen geordnet und miteinander in Zusammenhang gebracht sind. Bevor die Arbeit der eigentlichen Literaturanalyse beginnen kann, muss die Analyse der Gesellschaft weit fortgeschritten sein, weil ohne diese nicht erkannt werden kann, wie sich in Literatur die Gesellschaft spiegelt oder wie die Gesellschaft durch Literatur transzendiert wird. Darüber hinaus ist zu klären, wie der Vermittlungsprozess des spezifisch Literarischen durch die ‘entdeckte’ gesellschaftliche Wirklichkeit vonstatten geht. Und beim Umgang mit Literatur wird der Literatursoziologe auf umfassende literaturwissenschaftliche Kenntnisse (und Fähigkeiten) nicht verzichten können. Die bei einer Analyse gewonnenen Elemente eines literarischen Werkes in ihrer wechselseitigen (dialektischen) Abhängigkeit zu bestimmen, darf als Postulat nicht übersehen werden; dabei ist darauf zu achten, dass sich ästhetische Momente nicht aus ihren sozialen Bedingungen lösen, also verselbständigen.

Es bleiben ungelöste Probleme, die vielleicht darauf zurückgeführt werden müssen, dass nicht alle sozialen Implikate einer geistigen Erscheinung erkannt werden können, weil diese Erscheinung auf einer relativen Autonomie beharrt, die sich der objektiven Erkenntnis in den Weg stellt. (Oellers, 231)

12. Wie die Literatursoziologie im Sinne Silbermanns für den Literaturwissenschaftler nicht attraktiv sein kann, weil sie die Literatur nicht angemessen berücksichtigt, so mag die Literatursoziologie im Sinne Adornos zu umfassend und damit zu anspruchsvoll erscheinen., so dass Beschränkung notwendig wird, und das kann zunächst nur heißen: empirisch-positivistische Literatursoziologie als Literaturwissenschaft zu treiben mit dem Ziel, aus den Verhältnissen zwischen den am literarischen Leben beteiligten Gruppen und Einzelpersonen erhellende Schlüsse auf die Genese, die Veröffentlichung und die Wirkung literarischer Texte zu ziehen, d.h. dem Verständnis der Werke näher zu kommen. Zu fragen ist z.B.: Wer las Goethe? Warum? Welche Kenntnis besaß er? Welche Interessen hatte er? Wie stellte sich Goethe auf sein Publikum (auf das reale, das er kannte, auf das fiktive, das er sich ausdachte) ein?

Die Fragen müssen nicht notwendig an der Oberfläche bleiben, sondern können sehr wohl an den literarischen Kern eines Werkes heranführen: Wie verhält es sich mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen ästhetischer Erscheinungen? Der Stil Goethes war nur unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen als Kunst-Stil möglich; der Gerhart Hauptmanns ebenso. Die Dependenzen und Interdependenzen aufzudecken, ist Aufgabe der Literatursoziologie. Die Erforschung der ‘gesamtgesellschaftlichen’ Verhältnisse kann nicht geleistet werden. (Oellers, 231f.)

13. Das Schwergewicht der literatursoziologischen Arbeiten liegt seit einiger Zeit auf dem weiten Feld der Publikumserforschung, wobei die Argumentation, dass sich die Literaturwissenschaft über 100 Jahre fast nur mit dem Autor und einzelnen Werken beschäftigt hat und deshalb die Literatur in ihrer wichtigen Funktion als Mittel der Kommunikation zwischen zwei Partnern ignoriert wurde, völlig einleuchtend war und ist. Denn ein Autor pflegt sich in der Regel so zu äußern, daß derjenige, zu dem er spricht, ihn verstehen kann; des Rezipienten Verstehensfähigkeit ist also bei der Abfassung der Mitteilung zu berücksichtigen. Was gilt als schön? als geschmackvoll? Heute etwas anderes als gestern; also wandeln sich die Kunst-Mittel, weil sich der Geschmack wandelt?  (Oellers, 232)

14. Levin L. Schücking hat bereits vor über 50 Jahren den Versuch unternommen, künstlerische Prozesse durch Geschmackswandel zu erklären und diesen Wandel auf gesellschaftliche Entwicklungen verschiedener Art zurückzuführen. Der Autor ist demnach vom Geschmack seines Publikums abhängig, und dieser Geschmack ist ein gesellschaftliches Faktum, dessen Ursachen im einzelnen erforschbar sind. Schücking sah es als seine Aufgabe an, den Gründen für literarische Geschmacksbildung nachzugehen, und hoffte, damit wesentliche Erkenntnisse über das Wesen von Literatur zu gewinnen. Von zentraler Bedeutung war ihm die Frage, welche Bedingungen erfüllt werden müssen, um das aus der Vergangenheit bekannte Phänomen des dominierenden ‘Zeitgeschmacks’ hervorzurufen. Wer trägt den für eine Zeit typischen Geschmack? Die Frage nach dem ‘herrschenden’ Geschmack, der von Einzelnen oder einer Gruppe bestimmt (‘getragen’) wird und dessen typische Kennzeichen beschreibbar sind, führt zur Konzentration auf den fruchtbaren Begriff Geschmacksträgertypus, dessen Definition die Erklärung literarischen Wandels impliziert. (Oellers, 233)

15. Einige Jahrzehnte später hat Robert Escarpit in Sociologie de la Littérature die Probleme Schückings wieder aufgegriffen und differenzierter zu behandeln versucht. Die Aufgabe der Literatursoziologie sieht er in der Aufdeckung aller das literarische Leben im weiten Sinne bestimmenden Faktoren, wobei innerliterarische Spezialitäten wie Textstrukturen, Stilebenen u.ä. ausgeklammert bleiben. Das Hauptgewicht der literatursoziologischen Untersuchungen solle auf die Erfassung des Publikums (seiner sozialen Struktur, seiner Lesegewohnheiten, seiner Erwartungen) gelegt werden, um zu erhellen, wie dessen Verhalten die literarischen ‘Botschaften’, die es nach dem Willen des Autors empfängt, steuert. Dabei geht es im wesentlichen um das gebildete Publikum, das einen nachweisbaren Part im literarischen Dialog seit eh und je gespielt hat; dieses Publikum konstituiert ein Milieu, dem der Autor ausgeliefert ist; es ist auf jeden Fall zuständig für das, was mit ihm geschieht: Die Interpretationen von Literatur können sich von den Intentionen der Autoren weit entfernen und sind deshalb doch nicht ‘falsch’.(Oellers, 233f.)

16. Die Literatursoziologie vereint – vergleichbar mit der -psychologie – eine methodische Vielfalt im Überschneidungsbereich zweier Disziplinen, der Literaturwissenschaft und der Soziologie. Wenn auch heute im Rückblick schon Arbeiten der Positivisten als Beiträge zur Literatursoziologie aufgefasst werden können, stellten sich einschlägige methodische Fragen eigentlich erst in den 1920er Jahren. Nie jedoch konnte sich die Orientierung an gesellschaftlichen Zuständen in der Philologie gegenüber der geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise behaupten. Erst mit dem wachsenden literaturwissenschaftlichen Interesse für sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien wurden schließlich um die Mitte der 1960er Jahre vorliegende in- und ausländische Beiträge zur Literatursoziologie wahrgenommen und fruchtbar gemacht. (Baasner, 225)

17. Die Literatursoziologie konkurriert auf vielen Gebieten mit der Sozialgeschichte der Literatur, ohne daß gesagt werden könnte, beide gehörten im Grunde zusammen. So erforschen beide die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen Literatur entsteht und wirksam wird, und stützen sich auf soziologische Theorien. Die eigentliche Basis für die Unterscheidung ergibt sich aus der jeweils gewählten Sichtweise: sollen die gesellschaftlichen Umstände im Vordergrund stehen, in denen Literatur als eine beliebige Art sozialer Interaktion neben anderen erscheint, oder soll der Begriff der Literatur mit seinen Implikationen von Fiktionalität, Polysemie und Selbstreferentialität als etwas von anderen Interaktionsformen Abweichendes, Eigenständiges ins Zentrum rücken? Literatursoziologie verfährt eher in der erstgenannten Weise, Sozialgeschichte der Literatur berücksichtigt häufiger auch die letztgenannte. (Baasner, 225f.)

18. Soziologie literarischer Akteure. Nach Fügen ist die Untersuchung aller literarischen wie literaturbezogenen Akteure Gegenstand der Literatursoziologie.

Die sozialen Voraussetzungen und Folgen sowohl der literarischen Produktion wie auch der Distribution und der Rezeption sind durch statische Verfahren (z.B. Marktdaten), Befragungen im Rahmen einer Feldforschung oder Laborversuche zu analysieren.

Die Ergebnisse solcher wirklichkeitsgesättigten, quantifizierenden Erhebungen weichen meist von den Konstruktionen der traditionellen Literaturinterpreten deutlich ab. Die realen Leser relativieren in ihrem Verhalten die Vermutungen der Literaturwissenschaft über Motivation und Kompetenz der Lektüregewohnheiten. Dabei stehen die Medien, die den größten sozialen Einfluss durch die weitest gehende Verbreitung ausüben (Massenkultur), eher im Mittelpunkt als ästhetische Unikate, die bekanntermaßen nur von einem kleinen Publikum zur Kenntnis genommen werden, und deren wirklich kenntnisreiche Rezeption auf eine noch kleinere Gruppe beschränkt ist. Generell sind die beobachtbaren Unterschiede zwischen ästhetischen Normkanones und den empirischen Kanones der tatsächlichen Rezeptionsgewohnheiten geeignet, traditionelle Annahmen über die Relevanz ‘hochwertiger’ Gegenstände zu erschüttern.

Neben der Verbreitung und Bekanntheit beliebiger literarischer Werke lassen sich auch ihre Wirkungen mit empirischen Erhebungen genauer erfassen. (Baasner, 226f.)

19. Marktforschung im Bereich Buch- oder Medienaufbereitung hat in den Kulturwissenschaften ein weitreichendes Interesse geweckt. Die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Erfordernissen des ökonomischen Erfolgs, der Anpassung an

die sozialen Voraussetzungen der kulturellen Systeme sowie der ästhetischen Zielsetzungen lassen diese Problemkreis sowohl aus der Perspektive der Autoren, der Verleger / Buchhändler als auch der Publikumsgruppen bedeutsam erscheinen. Ohne eine derartige soziologische oder sozialhistorische Sicherung der empirischen Rahmendaten einer Epoche bleiben die interpretierenden Aussagen über Textformen und ihre Leistungen, wie sie in der traditionellen Literaturgeschichte auftauchen, weitgehend Spekulation. Dabei erstrecken sich die Einflüsse durch die Rahmenbedingungen nicht nur auf das Leben der Autoren und ihrer Leserschaft, sonder ebenfalls auf die konkrete Textform. Der ökonomische Einfluss auf die Gestalt literarischer Werke etwa wird in den meisten Fällen unterschätzt: ob der Umfang eines Romans wegen der Zensurbestimmungen (beispielsweise im Vormärz) unbedingt eine gewisse Zahl von Druckbogen übersteigen musste, oder ob eine Zeitschriftenradaktion den Umfang einer realistischen Novelle für den Vorabdruck in der Gartenlaube oder anderen Zeitschriften aus Platzgründen eigenmächtig um ein Viertel kürzte, sollte bei der Untersuchung der organisch-ästhetischen Gestalt eines Werkes berücksichtigt werden. Hier kann gerade die Literatursoziologie wichtige empirische Daten für die weitere hermeneutische Interpretation erheben. (Baasner, 227f.)

20. Soziologische Analyse von Texten. Literarische Texte gelten hier als Ausdruck des gesellschaftlichen Bewusstseins. Sie werden in dieser Funktion mit starkem Bezug zur Erfahrungswirklichkeit, zu den sozialen Zuständen ihrer Entstehungszeit gelesen.

Inhaltsanalyse. Fast ohne Berücksichtigung der konstruktivistischen Leistungen literarischer Texte geschieht dies in zwei Hauptrichtungen: auf der Basis von marxistischen Widerspiegelungstheoremen (z.B. Lukács) oder im Sinne der strukturalistischen sekundären Modellbildung in Homologieannahmen zwischen Roman- und Erfahrungswelt.

Diese Auffassung muss, so der kritische Einwand der neueren Literatursoziologie, durch die gegenläufig wirkenden Vorstellung von der relativen Autonomie des Romangeschehens konterkariert werden. (Baasner, 228)

21. Die fiktionale Weltaneignung im Roman beruht auf Interaktionen von Figuren. Darin wiederholt, so eine erste These der soziologischen Romaninterpretation, der Urheber des Textes Grundzüge seiner primären sozialen Erfahrung. Der Romantext stellt unter dieser Prämisse also eine aus individueller Perspektive geordnete Beschreibung komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge dar. Selbst wenn keine strikte Homologie zwischen dieser Konstruktion und der vorausliegenden primären Erfahrung angenommen wird, kann die vom Autor gewählte Perspektive doch auf seine soziale Stellung zurückbezogen werden. Die Interpretation ist dann nicht allein darauf angewiesen, die Bedeutung der sozialen Elemente aus dem Romantext herauszulesen, sondern sie kann sie mit Hilfe des sozialen Kontextes, in dem der Autor geschrieben hat, absichern. Bei einer solchen Kontextuierung können auch Spannungsverhältnisse zwischen der sozialen Realität des Autors und der Wiedergabe seiner Erfahrungen in einem fiktionalen Text nachgewiesen werden.

Was innerhalb literarischer plots letztlich mit soziologischen Erklärungsmustern erfassbar ist, sind aber vor allem die Interaktionen der Figuren als solche. Ihnen werden die gleichen Funktionsweisen unterstellt wie den Handlungen in der Wirklichkeit; literarische Figuren werden aus den Beziehungen, die sie im plot eingehen, sowie aus den ihnen eingeschriebenen individuellen Merkmalen als soziale Rollenträger aufgefasst. (Baasner, 229)

22. Textsoziologie. Die skizzierten Verfahren berücksichtigen überwiegend die literale Aussage der Texte. Inhaltsanalyse beschränkt sich auf die semantische Ebene. Einen kritischen Versuch, trotz soziologischer Orientierung die Literarizität von Texten stärker zu berücksichtigen, unternimmt Peter V. Zimas Entwurf einer Textsoziologie. Hier soll die Textstruktur vorrangig einbezogen werden. In diesem Fall müssen sprachliche Prägungen berücksichtigt werden, in die soziale Verhältnisse eingeschrieben sind. Als Grundmuster sozial motivierter Sprachverwendung gelten ‘Soziolekte’, die – analog zum regionalen Einfluss der Dialekte – die Formung der Rede durch gesellschaftliche Gruppen repräsentieren. Indem die literarischen Texte auf in ihnen enthaltene ‘Soziolekte’ hin untersucht werden, lassen sich die vertretenen sozialen Standpunkte an der Auswahl der verwendeten Sprachelemente erkennen. Im Gegensatz zur semantischen Inhaltsanalyse sind mit diesem Verfahren weitergehende Aussagen über die Gestaltung des Textes aus soziologischer Perspektive möglich. Gesellschaftliche Gruppen erscheinen andererseits nur noch als komplexe sprachliche Äußerungen. (Baasner, 229f.)

[...]

38. Literatur ist ein Medium sozialer Kommunikation. Die Produktion und Rezeption literarischer Texte ist ebenso ein Bestandteil des gesellschaftlichen Prozesses, wie der Text selbst als Zeichenstruktur immer auf soziale Realitäten Bezug nimmt. Die Beschreibung dieses Zusammenhangs zwischen Literatur und sozialer Welt sowie die Lokalisierung des Literaturbetriebs als eines Teilsystems moderner Gesellschaften ist das Hauptziel der Literatursoziologie. (Dörner/Vogt, 79)

39. Die ‘Blütezeit’ der Literatursoziologie lag in der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren, als sich einerseits im Gefolge der Studentenbewegung eine Vorliebe für ausschließlich ‘gesellschaftliche’ Erklärungsmodelle verbreitete, andererseits die zunehmend ausgereiften Methoden der empirischen Sozialforschung auf Buchmarkt und Literaturbetrieb angewendet wurden. Nachdem der Boom durch Desinteresse abgelöst wurde, ist derzeit wieder eine intensivere Diskussion zu beobachten, die durch neuere Entwicklungen in der soziologischen Theorie angestoßen wurde. (Dörner/Vogt, 79)

40. Produktion. Der ‘klassische’ Ansatz einer Analyse des Literaturbetriebes ist marxistischer Herkunft. Literarische Produktion ist hier verknüpft mit der dialektischen Bestimmung des Verhältnisses von ökonomischer „Basis“ und kulturellem „Überbau“. Das Spektrum der Bestimmungen reicht von klarer Determination bis zur Annahme einer lockeren Verbindung bei weitgehender Autonomie des Überbaus.

Wichtig ist, was jeweils unter „Basis“ verstanden wird. In bezug auf literarische Produktion kann der Begriff zweierlei bedeuten. Zum einen kann die Herkunft und die Klassenlage des Autors gemeint sein, insofern sie sein Schreiben beeinflußt, zum anderen der institutionelle Rahmen, innerhalb dessen sich literarische Produktion vollzieht. Beide Ebenen sind in hohem Maße geschichtlicher Veränderung unterworfen. (Dörner/Vogt, 79f.)

41. Mit den Gesellschaftsformationen ändern sich auch die literarischen Institutionen. Der Professionalisierungsprozess des modernen Schriftstellers mit dem Resultat einer eigenständigen Berufsrolle setzt erst in der frühen Neuzeit ein und erreicht in der bürgerlichen Marktgesellschaft seine endgültige Ausprägung.

Aus marxistischer Sicht muss das komplexe Interaktionsgeflecht, in das der Autor seine Werke hineinschreibt, zum Gegenstand der Analyse gemacht werden. Die Werkstruktur ist auch als eine Antizipation der Reaktionen von Lektor, Verleger, Kritiker und Publikum zu verstehen. (Dörner/Vogt, 80)

42. Parallel zur Basis-Überbau-Thematik beschäftigt die marxistische Diskussion das Problem der „Widerspiegelung“ gesellschaftlicher Verhältnisse in der Literatur. Die Produktionsbedingungen ‘spiegeln’ sich im Produkt, aber auch dieses Konzept lässt sich sehr unterschiedlich füllen. Von schlichten Abbildungsvorstellungen in der marxistischen Orthodoxie ist man bald abgekommen. Ein komplexeres Modell hat Georg Lukács entworfen. Zwar sieht er die Klassenlage eines Autors als Determinante seiner literarischen Produktion. Auf der anderen Seite sieht er jedoch im bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts eine Produktionsweise, die in besonderer Weise geeignet ist, im Mikrokosmos eines Werkes den Makrokosmos der gesellschaftlichen Totalität komprimiert widerzuspiegeln. Dies geht so weit, dass ein politisch reaktionärer Autor (wie Balzac) die Strukturen der bürgerlichen Welt schonungslos zu analysieren vermag.

Das analytische Argument gerät bei Lukács jedoch zur zeitlosen poetologischen Norm: (bürgerlicher) Realismus wird als die einer kapitalistischen Gesellschaft vorgeblich allein adäquate Produktionsmethode ins Feld geführt gegen moderne Verfahren wie Montage- und Reportageschreibweisen. (Dörner/Vogt, 80f.)

43. Lucien Goldmann verfeinert das Widerspiegelungstheorem, indem er es von der Ebene der Inhalte auf die der textuellen Strukturen überträgt. Kern seiner Theorie des „genetischen Strukturalismus“ ist die Annahme einer elementaren Strukturhomologie, d.h. einer strukturellen, nicht inhaltlichen Entsprechung zwischen Werk und sozialem Kontext.

Zum einen verfolgt Goldmann die Relation zwischen einem Werk und seiner sozialen Trägergruppe. Die Grundhypothese lautet, dass die Strukturen der imaginären Welt den Denkstrukturen bestimmter sozialer Gruppen homolog sind; so entsprechen z.B. die Strukturen der tragischen Dramen von Jean Racine denen der Bewusstseinswelt des französischen Amtsadels im 17. Jahrhundert.

Daneben rechnet Goldmann mit der Homologie zwischen Romanstruktur und Gesellschaftsstruktur, konkret: zwischen modernem bürgerlichem Roman und der liberal-kapitalistischen Wirtschaftsform als dem Grundprinzip der modernen Gesellschaft. (Dörner/Vogt, 81)

44. Auch Goldmann führt wertende Kriterien in die Analyse ein. Der ‘bedeutende’ literarische Künstler vollzieht eine Formung der unterschiedlichen, inexpliziten und zum Teil widersprüchlichen Wissenselemente zu einer kohärenten „vision du monde“.

Kritik. Tragfähiger wird sein Ansatz, wenn man ihn wissenssoziologisch weiterdenkt. Die Forderung nach Kohärenz und ‘großem Kunstwerk’ wäre fallen zu lassen zugunsten einer genauen Analyse der Weise, in der inner- und außerliterarisch gesellschaftliche Wirklichkeit konstruiert wird. (Dörner/Vogt, 82)

45. Die unterschiedlichen Felder und Wissensformen, aus denen der Autor sein Material bezieht, sind Gegenstand der Theorie der „ideologischen Milieus“, die Pavel N. Medvedev 1928 in einer semiotischen Reformulierung marxistischer Sichtweisen für die Literaturproduktion formuliert. Ideologien, die Medvedev nicht als (notwendig) falsches Bewusstsein, sondern als zeichenvermittelte Wissensstruktur begreift, werden in unterschiedlichen gesellschaftlichen „Milieus“ tradiert (Religion, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft etc.). Literaturproduktion bezieht ihr (Zeichen-)Material aus diesen unterschiedlichen Milieus, in denen soziale Gruppen jeweils auf unterschiedliche Weise die ökonomische Basis wahrnehmen und verarbeiten. Ohne eine derartige semiotische Brechung ist für Medvedev Widerspiegelung nicht möglich. Seine Theorie der „Doppelten Brechung“ besagt, daß Literatur die sozialen Zeichenbestände in eine neue, ästhetische Struktur integriert, so dass sie ihre Bezeichnungsfunktion unter den Bedingungen des ästhetischen Textes, mit „doppelt gebrochenem“ Wirklichkeitsbezug ausüben. (Dörner/Vogt, 82)

[...]

49. Nach Theodor W. Adorno gleicht künstlerische Produktion der Produktion anderer Gegenstände. Die Produktion von Literatur ist Anpassungserfordernissen an Marktgesetze unterworfen; literarische Produktion ist Teil der „Kulturindustrie“.

Literarische Produktion trägt aber auch immer die Möglichkeit in sich, dem Verdikt der Verdinglichung zumindest teilweise zu entgehen. Dies gelingt jedoch in der Moderne – hier stellt sich auch bei Adorno eine normative Komponente ein –  nur den außergewöhnlichen Kunstwerken der Avantgarde. Je abstrakter und hermetischer ein Werk ist, umso eher vermag es seine Autonomie gegenüber den Konformitätsdruck der Gesellschaft zu behaupten. (Dörner/Vogt, 85)

50. Ein nüchterner Blick auf gesellschaftliche Bedingungen der literarischen Produktion kennzeichnet die neueren empirisch-analytischen Ansätze der Literatursoziologie. Ohne den ‘Ballast’ geschichtsphilosophischer Rahmenkonzepte fragen diese Autoren nach der Berufsrolle des Schriftstellers, seinen Einkommensmöglichkeiten und Selbstbildern. Die Funktionsmechanismen des Marktes mit seinen Distributionsinstanzen werden hier ebenso thematisch wie die industriellen Bedingungen des Buchdrucks. (Dörner/Vogt, 85)

51. Text. Der Ansatz einer explizit auf die Ebene des Textes  gerichteten literatursoziologioschen Analyse ist relativ neu. Zwar haben vor allem Vertreter der marxistischen Literaturtheorie immer auch Texte in ihre Analysen einbezogen. Die Literarizität der Texte wurde dabei jedoch oft ausgeblendet, die ästhetische Struktur auf Inhalte reduziert, der spezifische Zeichencharakter des literarischen Werkes ging verloren. (Dörner/Vogt, 86)

52. Peter V. Zima 1980 setzt demgegenüber mit der Zielperspektive einer „Textsoziologie“ bei gesellschaftlich fundierten Sprach- und Zeichentheorien an, um diese für die Analyse literarischer Werke fruchtbar zu machen und mit kulturphilosophischen Gedanken der „Kritischen Theorie“ zu verbinden. Die Kernthese Zimas besagt, dass jedes Werk in eine „soziolinguistische Situation“ verstrickt ist. Das Textgebilde ist jeweils affirmativ oder kritisch auf eine Reihe von „Soziolekten“, d.h. kollektiv geteilten Redeweisen bezogen. Soziolekte können situations- und verwendungsspezifisch (Werbesprache, Salonsprache) oder weltanschaulich geprägt sein (christliche, konservative, sozialistische Redeweisen). Diese Elemente gehen auf unterschiedliche Weise in das literarische Werk ein. Ein Text kann homogen durch einen einheitlichen Soziolekt geprägt sein, es ist aber auch ein Neben- und Gegeneinander verschiedener Soziolekte möglich: der gesellschaftliche Kampf, der immer auch ein Kampf der Diskurse ist, findet so seinen Niederschlag im literarischen Werk. (Dörner/Vogt, 86)

53. Oberhalb dieser elementaren Diskursebene finden intertextuelle Dialoge statt. Ein literarischer Text zitiert, fingiert, parodiert und kritisiert andere Texte und Redeweisen. Schließlich umfasst eine textsoziologische Analyse noch die Ebene der „semantischen Welten“ (nach Greimas). Diese Welten bestehen aus „Aktanten“ und deren Relationen zueinander. Ein Aktant bezeichnet jeweils eine im Text herausgebildete abstrakte Rollenstruktur aus Anforderungen und Handlungsmöglichkeiten, die dann von unterschiedlichen Personen oder literarischen Figuren konkret ausgefüllt werden können.

Freilich sind die „narrativen Instanzen“ keineswegs immer eindeutig in ein Schema einzuordnen, ja ein Kennzeichen moderner Textwelten kann gerade ihre Ambivalenz sein. Kennzeichnend ist eine derartige Ambivalenz etwa für die Figuren Marcel Prousts.

Kritik. Problematisch erscheint, daß Zima trotz aller Einsichten in die Machtbedingtheit und Geltungsrelativität der Diskurse an einem traditionellen Konzept von Ideologiekritik festhält, das eine eindeutige Unterscheidung zwischen wahren und falschen Diskursen ermöglichen soll. (Dörner/Vogt, 86f.)

[...]

61. Die empirische Position von Robert Escarpit stellt konkrete Fragen in den Vordergrund: In welcher Situation werden Bücher gekauft, in welcher gelesen? Welche soziale Schicht kauft wo ihre Bücher? Wie viele Wörter liest eine Person durchschnittlich in welchem Land? Wie viel Lesezeit wird für welche Kategorie von Lesestoff verwendet?

Kritik. Hinweise auf die durchschnittliche Lesezeit oder den typischen Leseort sagen noch wenig über den konkreten Leseprozess aus. Weiter scheint hier der Ansatz der qualitativen Sozialforschung zu führen, der nach Motiven und Wirkungen von Leseprozessen in offenen, sorgfältig interpretierten Interviews fragt. (Dörner/Vogt, 91)

62. Eine funktionale Sicht von Rezeptionsprozessen liegt auch der im Prager Strukturalismus entwickelten Theorie des ästhetischen Objekts zugrunde. Jan Mukarovský konzeptualisiert das literarische Werk als ein komplexes Zeichen, das immer aus zwei Bestandteilen zusammengesetzt ist: aus dem „Artefakt“, dem ‘schwarz auf weiß’ vorliegenden Text, und aus dem ästhetischen Objekt, dem Resultat des konkreten Rezeptionsprozesses.

Ein Werk entsteht also erst durch die Interaktion von Text und Leser. Deshalb wandeln sich literarische Werke auch je nach dem Rezeptionskontext, in dem sie aktualisiert werden. Dieser Wandel unterliegt durchaus Regelhaftigkeiten, denn der konkrete Rezeptionsakt ist abhängig von den ästhetischen (und außerästhetischen) Normen und Werten, die der Rezipient an das Werk heranträgt. Normen und Werte wiederum sind nicht nur historischem Wandel unterworfen, sondern auch ein Produkt der „sozialen Trägerschicht“ des Rezipienten. (Dörner/Vogt, 91)

63. Mukarovsky entwirft in seinen Schriften ein allgemeines Schema, demzufolge in den oberen Schichten ein rascher Wechsel avantgardistischer Normen stattfindet, während in den unteren Schichten einzelne der ‘höheren’ Normen, gleichsam als ‘gesunkenes Kulturgut’, adaptiert werden.

Kritik. Interessanter aber erscheint es, historisch konkrete Formationen zu analysieren, in denen gesellschaftliche Klassen bestimmte Normen und Werte favorisieren und die literarischen Artefakte auf ihre je eigene Weise rekonstruieren: Der „Schiller“ des frühbürgerlichen Liberalismus ist ein anderer als derjenige des arrivierten nationalen Bürgertums im deutschen Kaiserreich oder die Leitfigur der Arbeiterbewegung zur Jahrhundertwende.(Dörner/Vogt, 92)

64. Eine institutionssoziologische Herangehensweise haben in Deutschland vor allem Christa und Peter Bürger propagiert. Sie verstehen Literatur insgesamt als eine Institution, die aus den herrschenden Vorstellungen über Literatur und deren Funktion besteht und die den relativ verbindlichen Rahmen für alle stattfindenden Produktions- und Rezeptionsprozesse abgibt. Kern der Theorie ist der Nachweis, daß an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert in der bürgerlichen Gesellschaft eine autonome ‘Institution Literatur’ entsteht, die von direkten Anbindungen an andere soziale Bereiche (Religion, Politik usw.) freigesetzt ist. Diese neugewonnene Freiheit wird allerdings mit einem Verlust an Wirkungsmöglichkeiten bezahlt, und Autonomie schlägt schließlich ideologisch um in eine Rückzugs- und Kompensationsnische für die vom Modernisierungsprozess bedrohte bürgerliche Subjektivität. (Dörner/Vogt, 92)

[...]

69. Einer den Standards und Methoden empirischer Gesellschaftsforschung folgende Orientierung steht eine Textanalyse und Sozialhistorie verknüpfende Position gegenüber. Die methodologische Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Standpunkten beherrscht auch weiterhin die wissenschaftliche Diskussion. Es kann immer gefragt werden, ob die Literatur Material soziologischer Untersuchungen ist oder ob das soziologische Interesse lediglich einen bestimmten Aspekt einer am Text ausgerichteten Literaturwissenschaft darstellt. (Zmegac, 95)

70. Radikal unterscheiden sich die Meinungen hinsichtlich aller Fragen, die aus den ästhetischen Besonderheiten der Texte hervorgehen. Während die extrem eingestellten Vertreter einer empirischen bzw. positivistischen Soziologie das Forschungsgebiet auf textexterne Vorgänge beschränken, die besondere Beschaffenheit der Werke also außer Betracht lassen, ist die zugespitzte Einstellung der historisch-hermeneutischen Position etwa in der These Erich Köhlers repräsentiert, wonach jede Literatursoziologie historisch, jede Literaturgeschichte soziologisch vorgehen müsse. (Zmegac, 96)

71. Einen Auftrieb gewann die soziozentrische Betrachtung im Zuge der ‘wissenschaftlichen Revolution’ des Historismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Zusammenbruch des traditionellen Systems der normativen Poetik und die Hinwendung zu einem relativistischen Geschichtsbild ließ die Frage aufkommen, wie das Verhältnis zwischen kultureller Kreativität und den allgemeinen Lebensbedingungen zu begreifen sei. Die Erklärungsmodelle, die damals das Denken prägten, waren synkretistischer Art. Entsprechend der Vorstellung von einer „organischen“ Ganzheit der Natur und Kultur galten als bedingende Faktoren geographische, klimatische und ethnische Kategorien neben gesellschaftlichen und, in einem engeren Sinne, politischen. Beispiel: Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums (1764). (Zmegac, 96f.)

72. An Winckelmann knüpft in manchen Punkten Herder mit seiner antiklassizistischen, bereits radikal historischen Kunstlehre an. Die Dichtungen Shakespeares entsprechen nach Herder einer bestimmten Kräftekonstellation, ebenso wie man sich auch das griechische Drama nur unter den Bedingungen eines Zeitalters und einer Lebensform vorstellen könne. Herder sieht in Wandlungen der Kunst einen eigentümlichen Ausdruck der Umschichtungen, die sich immerfort in der Gesellschaft abspielen. (Zmegac, 97)

73. In Deutschland erfolgte im Zeitalter des Antiklassizismus und der Romantik die für den gesamten Bereich der Kunst wohl folgenreichste Umwälzung: die endgültige Absage an jegliche Normpoetik und präskriptive Kunstlehre. Mit dem späten 18. Jahrhundert beginnt eine Großepoche, der im wesentlichen auch unsere Zeit noch angehört und die dadurch gekennzeichnet ist, daß als Leitbegriffe wertender Beurteilung kreative Originalität  und somit auch ästhetische Innovation gelten. Eine solche Auffassung von Kunst und Künstlertum schloss jedoch die prinzipielle Unabhängigkeit von gesellschaftlich bedingten ästhetischen Normen ein. Der Künstler versteht sich seither weitgehend als individueller Produzent, der den Anspruch auf soziales Ansehen mit dem Wunsch nach künstlerischer Originalität verbindet. (Zmegac, 98)

74. Die Kunst (Literatur inbegriffen) erlangt einen Status relativer Unabhängigkeit von der Gesellschaft, den sie vorher niemals in dieser Form und in diesem Ausmaß besessen hatte.

Definiert man Autonomie der Kunst als den Zustand nach der Loslösung von den „rituellen“ Funktionen, so ist es notwendig, den gesellschaftlichen Charakter zu ermitteln, der nun in der Hervorbringung wie auch in der Rezeption von Kunst wirksam ist – als Motivierung, die an die Stelle des einstigen „Auftrags“ tritt. (Zmegac, 99f.)

75. Das Kunstschaffen wird ferner vom virtuellen Wettbewerb erfasst. Dabei ist nicht nur an den Warencharakter zu denken, den auch Kunstwerke aufgrund ihrer Verbreitungsform und Käuflichkeit annehmen. Der immanente Wettbewerb ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine ästhetische Größe. Der auf seine Individualität pochende Künstler erhebt den Gedanken schöpferischer Ursprünglichkeit zu einem Leitbild: das Werk soll „Ausdruck“ einer Persönlichkeit oder einer Gruppe Gleichgesinnter sein, wobei Originalität bzw. Neuheit das vorrangige distinktive Merkmal ist. Jedes Werk tritt auf diese Weise virtuell in einen inneren Wettstreit mit allen anderen Werken, die den gleichen Ansprüchen erheben. Nicht die stilistische Gleichförmigkeit beherrscht das Schaffen, wie in früheren Zeitaltern, sondern das Nebeneinander unterschiedlicher Kunsttendenzen, sei es völlig individueller, sei es gruppenspezifischer Art. Diese Bestrebung wird somit auch zur primären Bewegkraft der Veränderung, der geschichtlichen Dynamik in den Künsten – erkennbar am deutlichsten an dem Wettstreit zahlloser „Ismen“, namentlich in den letzten hundert Jahren, in denen die Dialektik der Konkurrenz ein beschleunigtes Tempo bewirkt. (Zmegac, 100)

76. Der Begriff der Autonomie könnte den Umstand verdecken, dass es im Bereich der Kunst auch in der Zeit nach dem Überhandnehmen autonomistischer Produktionsverhältnisse der lenkende Einfluss verschiedener semiliterarischer und außerliterarischer Institutionen ständig bemerkbar ist, z.B. des Verlagswesens.

In Fällen nahezu totaler Lenkung, bei Vereinnahmung der Literatur durch eine offizielle staatliche Ideologie, ist auch der Begriff der ästhetischen Autonomie kaum noch anwendbar. Totalitäre politische Verhältnisse schließen zumeist die Sanktionierung ideologisch-ästhetischer Programme ein. (Zmegac, 101)

77. Bei Marx und Engels findet man bestenfalls Ansätze zu einer soziozentrischen Betrachtung literarischer Phänomene. Die geringe Rolle ästhetischer Fragen bei Marx und Engels ist kein Zufall, sie hängt mit der Überzeugung zusammen, dass menschliche Tätigkeiten nur im Zusammenhang der geschichtlichen Totalität beurteilt werden können und dass es daher gilt, in erster Linie die Rahmenbedingungen zu erkunden, die die Voraussetzung für das Verständnis historischer Einzelbereiche bilden. (Zmegac, 103)

78. Obwohl bei Marx von einer systematischen Ästhetik keine Rede sein kann, gewinnt die Kunst in den frühen Schriften philosophische Bedeutung als Paradigma nichtentfremdeter Arbeit. (Zmegac, 106)

79. Die Deutung der Kunst ist sowohl bei Marx als auch bei Engels eminent sozialgeschichtlich, doch sie hat nichts gemein mit der späteren Ideologisierung der Kunst bei manchen Marxisten, etwa mit der Direktive, Bilder und Dichtungen sollten nicht nur Gegenstand historisch-materialistischer Untersuchungen sein, sondern sie müssten auch selbst, durch ihre Wirkung, dazu beitragen, geschichtliche Prozesse bestimmter Art zu beschleunigen, und zwar auf Grund eines politisch disziplinierten „Engagements“ des Künstlers. Diese Forderung, bekannt unter dem Schlagwort „Parteilichkeit“, hat keinen guten Ruf erlangt. Von einem solchen Auftrag an die Kunst ist in den philosophischen und wissenschaftlichen Schriften von Marx nirgendwo die Rede. (Zmegac, 107)

80. Franz Mehrings Buch Die Lessing-Legende (1893) bietet eine materialistische Kulturgeschichte der Lessing-Zeit, eine im wesentlichen polemisch ausgerichtete Darstellung der Lebensumstände des Autors auf wirtschaftlichem und politischem Hintergrund. Es entsteht der Eindruck, Autoren sind nicht wegen der literarischen Werke, die sie geschrieben haben, interessant, sondern wegen der Möglichkeit, an ihrem Lebenslauf Einsichten in gesellschaftshistorische Prozesse zu demonstrieren. Daher traf Paul Ernst einen entscheidenden Punkt, als er den Umstand bemängelte, dass bei Mehring die Formkräfte spezifischer Art, die literarischen Gattungen und andere Aspekte der Überlieferung so gut wie nicht vorkommen. Ernst hebt hervor, wie gering das Interesse Mehrings für kulturspezifische, nicht unmittelbar politisch oder wirtschaftlich beschreibbare Dinge ist. (Zmegac, 108f.)

81. Argumente wie die von Ernst sind in der kritischen Literatur zu Fragen der Literatursoziologie seither öfter vorgebracht worden. Immer wieder wird darauf hingewiesen, daß kulturelle Phänomene eine „Eigendynamik“ entfalten, d.h. Gestalten hervorbringen, die keinen erkennbaren Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Basis aufweisen, ja nicht selten sogar quer zu ihr stehen. So gerät der Determinist in Verlegenheit, wenn er literarische Werke als Ausdruck der Zeit und Umwelt begreift, als einen Spiegel des Milieus, oder wie immer die entsprechende Metaphorik lauten mag – die Texte sich aber einer solchen Zuordnung entschieden entziehen. (Zmegac, 109)

82. Zur Verteidigung der dialektisch verfahrenden Kunstsoziologie: Es käme darauf an, zu zeigen, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen es zu Erscheinungen wie ‘Tradition’ und ‘Mode’ kommt und wie ihre Dauer gesellschaftlich vermittelt ist. Kulturelle Vorgänge sind ja niemals blinde, dem Zufall überlassene Natur; sie entsprechen vielmehr bestimmten Tendenzen oder Zuständen der gesellschaftlichen Totalität.

Die Ablösung einer Tradition oder einer Mode kann vielerlei Gründe haben. Zu ermitteln ist jeweils, warum überhaupt ein Wechsel innerhalb eines bestimmten künstlerischen oder gesamtkulturellen Repertoires eintritt, warum ein Subcode durch einen anderen ersetzt wird. (Zmegac, 109f.)

83. Die Marx-Nachfolge, die in ästhetischen Fragen noch jahrzehntelang vorwiegend im Bann der von Mehring vorgezeichneten Auffassungen verharrte (z.B. Plechanov und Caudwell), ist nicht die einzige Orientierung, die ein nachhaltiges Interesse für soziozentrische Interpretation vertrat.

Hermann Bahrs Debut stand im Zeichen seiner ökonomischen Studien, u.a. seiner Marx-Lektüre. Zu den Konstanten seiner literatursoziologischen Versuche gehört die Frage, wie eine gesellschaftsbezogene Diagnose der Moderne möglich sei. In Die Überwindung des Naturalismus (1891) bestimmt er die heutigen Künstler als „Akrobaten“: Der Ehrgeiz richte sich heutzutage in erster Linie darauf, etwas in die Öffentlichkeit zu bringen, was in dieser Form noch niemals da gewesen sei, als neu und buchstäblich unerhört gelten könne.

Bahr fragt, wodurch der geschilderte Umstand bedingt sei, d.h. welche geschichtlichen Voraussetzungen den Zwang zu diesem modernen Artistentum besonderer Art herbeigeführt haben. (Zmegac, 110f.)

84. Bahr begreift die Vorgänge im gegenwärtigen Leben der Kunst als ein Ergebnis wechselseitiger Wirkung innerhalb des „Systems“, wobei diese Vorgänge infolge bestimmter widerspruchsvoller Motive von ständiger Bewegung erfüllt sind, d.h. ein „dynamisches System“ darstellen.

Bahr erhebt sich entscheidend über die Betrachtungsweise des literatursoziologischen Positivismus: Die sogenannten äußeren Bedingungen des künstlerischen Schaffens werden als wesentliche Momente der „inneren“ Machart begriffen, so dass sämtliche Kategorien des Kunstgeschehens als eine Gesamtheit erscheinen. (Zmegac, 112f.)

85. Aus heutiger literaturgeschichtlicher Sicht ist deutlich zu erkennen, dass die Ursprünge der von Bahr erkannten pluralistischen Lage im späten 18. Jahrhundert zu suchen sind, als im Zuge der Verbürgerlichung der Kunst die traditionelle, von überindividuellen Normen bestimmte Kunstlehre der Vergangenheit ihre Gültigkeit verlor. An die Stelle der normativen, präskriptiven Poetik trat eine Ästhetik des künstlerischen Individualismus, deren maßgebliche Kategorien mehr und mehr durch Originalität, Innovation und Traditionsbruch bestimmt wurden.

Bahrs eigene Epoche war so gut wie vollständig beherrscht vom Grundsatz künstlerischer Konkurrenz: das Nebeneinander unterschiedlicher Bestrebungen, individueller und gruppenspezifischer, ist das deutlichste Anzeichen dafür. (Zmegac, 113f.)

86. Die Bedeutung von Bahrs Erkenntnissen liegt u.a. darin, dass er in der Literatur- und Kunstkritik der Jahrhundertwende wohl als erster eine Erklärung der Mechanismen des künstlerischen Pluralismus seit der Romantik geboten hat, und zwar mit Argumenten, die nicht auf eine undurchschaubare „innere“ Entwicklung der Kunstformen verweisen, sondern die auf einem exogenen, kulturgeschichtlich plausiblen Erklärungsmuster beruhen. Als Gewinn bietet sich damit nichts Geringeres an als die Einsicht in die (oder zumindest eine) Triebkraft der Entwicklung, d.h. der Veränderung in der neueren Geschichte der Künste. Bahr bezeichnet den „Ehrgeiz, um jeden Preis anders“ zu sein, ausdrücklich als das Motiv der Entwicklung in allen Künsten.

Bahrs sozialgeschichtliche Diagnose der Moderne wurde allerdings weder von der Literaturwissenschaft noch von einer sonstigen Disziplin beachtet. (Zmegac, 115)

87. Walter Benjamins Untersuchungen über den Ursprung der modernen Literatur im 19. Jahrhundert führten unter dem Einfluss historisch-materialistischer Theorien zur Erkundung der Frage, auf welche Weise bestimmte Stilmerkmale moderner Dichtung und Kunst mit den allgemeinen gesellschaftlichen Produktionsbedingungen verknüpft seien.

Nach Benjamin hat Baudelaire wohl als erster die Vorstellung von einer marktgerechten Originalität gehabt. Seine literarischen Verfahrensweisen hätten unter anderem den Zweck gehabt, Werke literarischer Rivalen auszustechen und zu verdrängen. (Zmegac, 115f.)

88. Das zentrale Problem jeder Erforschung von Literatur, das literarische Werk tritt im Rahmen eines gesellschaftshistorischen Erkenntnisinteresses zu einem Zeitpunkt in den Vordergrund als die Abwendung vom positivistischen Paradigma der Literaturforschung manifest wurde. Im Zuge der sich etablierenden ‘Geistesgeschichte’ ist die erste Phase im Schaffen von Georg (von) Lukács (1885-1971) zu sehen. Zu unterscheiden sind eine längere, marxistische Phase (von etwa 1919 bis ans Lebensende) und eine kürzere, „vormaxistische“, die aber ebenfalls schon den Einfluss sozialtheoretischer Denkrichtungen verrät.

Zu den Konstanten seines Denkens gehörte das Bestreben, im Sinne Hegelscher Theoreme (die für Lukács von grundlegender Bedeutung waren) das Verhältnis zwischen Inhalt und Form als ein dialektisches zu begreifen. Die künstlerische Gestalt ist demnach die ästhetische Konkretisierung einer Erfahrung bzw. einer Weltsicht. In diesem Sinne ist auch seine Maxime zu verstehen, daß es keine Form ohne Weltbild gebe. Da aber der Begriff des Weltbildes für ihn eine sozialgeschichtlich vermittelte Kategorie ist, ist die Deutung ästhetischer Gebilde stets in die Interpretation von Gesellschaftsformen und Geschichtsprozessen eingebettet.  (Zmegac, 117f.)

89. Lukács’ Denkweise ist insofern durch einen konstanten inneren Widerspruch gekennzeichnet, als der Historiker Lukács, der seiner ganzen Orientierung nach historisch und somit relativistisch denken muss, zugleich einer geschichtsphilosophischen Theorie anhängt, die namentlich im ästhetischen Bereich normative Züge trägt. Nach dem Übergang zum Marxismus nahm die Neigung, die einzelnen historischen Erscheinungen an einer gleichsam transzendentalen Norm künstlerischer Gebilde zu messen, deutlich zu.

Obwohl der Geschichtsphilosoph Lukács der festen, theoretisch verankerten Überzeugung war, die „westliche“ kapitalistische Welt befinde sich in einem unaufhaltsamen Niedergang, misstraute der Ästhetiker und Literaturtheoretiker jedem Versuch, Krisenerscheinungen mit entsprechenden künstlerischen Mitteln darzustellen, erkennbar etwa in Brechts Verfahren der Verfremdung durch Montage. Auch eine als krisenhaft empfundene Wirklichkeit sollte mit den literarischen Kategorien aus den Zeiten organologischer Ästhetik bewältigt werden. Der Grundsatz, dass die Form mimetisch dem Erfahrungshintergrund entsprechen müsse, wurde damit aufgegeben. Damit hängt auch die konturlose, ungeschichtliche Verwendung des Realismusbegriffs bei Lukács zusammen. (Zmegac, 118)

90. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten seiner methodischen Ausrichtung, dass ungeachtet aller materialistischen Bekenntnisse das Bild literarischer Epochen zumeist abstrakt ausfällt. Nur der Versuch einer Vermittlung zwischen geschichtsphilosophischen Thesen und politischen Daten einerseits und produktionsästhetischen Kategorien andererseits ist erkennbar – kaum dagegen ein ausreichendes Interesse für die Vielfalt der Beziehungen im eigentlichen literarischen Leben einer Zeit.

Was sich zwischen den politischen oder wirtschaftlichen Vorgängen und dem Schaffen der Schriftsteller abspielte: der Aufstieg des modernen Autors, der sich auf eine neue, bürgerliche Öffentlichkeit stützt, auf den literarischen Markt, das Verlagswesen, alle diese neuen komplexen Beziehungen, welche die überlieferten Ordnungen der höfischen Gesellschaft ablösen, kommen bei Lukács so gut wie gar nicht in den Blick. (Zmegac, 118f.)

91. Die in die Zukunft weisenden methodischen Ansätze der frühen Schriften sind in den späten Schriften von Lukács kaum zur Geltung gekommen. Das soziologische Interesse wurde bei ihm von einem geschichtsphilosophischen verdrängt. Daher behandelt er in seinen Analysen literarischer Werke die Texte vorwiegend als Zeugnisse weltgeschichtlicher Vorgänge, namentlich im Hinblick auf die Spuren realhistorischer Prozesse in den Werken. Als gesellschaftliches Faktum tritt in erster Linie oder gar ausschließlich das (klassenbedingte) Bewusstsein des Autors in Erscheinung. (Zmegac, 121)

92. Evident ist die Rezeption der methodischen und thematischen Orientierung des Heidelberger Lukács vor allem in den Versuchen Lucien Goldmanns, einen „genetischen Strukturalismus“ plausibel zu machen. Ausgangspunkt seiner Theorie ist die Annahme, in kulturellen bzw. weltanschaulichen Systemen wirke sich auf besonders prägnante Weise die Bestrebung jeglicher sozialer Gruppe aus, ihr Denken und Verhalten zu einer „sinnvollen und kohärenten Struktur zu verbinden“. Was bei dem einzelnen Menschen nicht vorausgesetzt werden kann, weil das Einzelbewusstsein im allgemeinen eine Mischung heterogener Einflüsse aufweist, trifft bei Gruppenphänomenen durchaus zu: dass es unter entsprechenden Bedingungen zur Ausbildung kohärenter ideeller Formen kommt, die für eine gesellschaftliche Makrokategorie als repräsentativ gelten kann. Dabei ist nicht an das unmittelbar pragmatische Interesse verfolgende, in ideologischer Programmatik formulierbare Streben einer sozialen Gruppe zu denken, sondern vielmehr an das Kollektivbewusstsein, das sich über diese Ebene erhebt und ein sinnvolles Totalbild der Beziehungen zwischen den Menschen und dem Menschen und der Natur anstrebt. Im geschichtlichen Prozess bilden die Grundlage für die Entfaltung kultureller Schöpfungen vor allem die kohärenten Vorstellungen, die Weltanschauungen privilegierter Schichten. (Zmegac, 122f.)

93. Kritik. Wenn es heißt, dass das literarische Werk das Gruppenbewusstsein steigert und schärfer ausprägt, wird vorausgesetzt, dass der Autor stets als ein mehr oder minder bewusstes geschichtsphilosophisches Organ auftritt, als Verkörperung und Sprachrohr eines „Zeitgeistes“, d.h. eines intuitiv erfassbaren maßgeblichen Gruppenbewusstseins. Der sozialgeschichtliche Ansatz wird hier behindert durch eine Verallgemeinerung: durch die Annahme, das Theorem von der gruppenspezifischen Kohärent sei grundsätzlich auf alle geschichtlichen Epochen anwendbar.

In den neueren Epochen, seit dem späten 18. Jahrhundert, führte das individualistische, bürgerliche Kunstschaffen zu einer diffusen Lage, die durch eine Vielfalt gegensätzlicher ästhetischer „Weltbilder“ und künstlerischer Programme gekennzeichnet ist.

Goldmanns Idee von den Entsprechungen zwischen verschiedenen Produktionsbereichen der Gesellschaft hat durchaus ihre Berechtigung, muss jedoch historisch gefasst werden. (Zmegac, 123f.)

94. Zu den Aufgaben der Literatursoziologie gehört es nach Goldmann, die Entsprechungen (die Homologie) zwischen den Merkmalen des literarischen Textes und den maßgeblichen gesellschaftlichen Kategorien aufzuzeigen. Auf Grund einer schmalen Textbasis gelangt Goldmann zum Schluss, der Roman im Zeitalter Kafkas sowie in der Epoche des französischen nouveau roman sei durch eine fortschreitende Auflösung des einstigen „individuellen Helden“ gekennzeichnet, schließlich durch sein Verschwinden in einer Welt, in der es nur noch Dinge und abstrakte Beziehungen gibt. Dieser Prozess stellt eine Entsprechung dar zu dem Weg, der vom liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zur Monopolwirtschaft führt, zu gesellschaftlichen Gebilden, die mehr und mehr von Anonymität beherrscht werden. (Zmegac, 124)

95. Letztlich sind Goldmanns Analysen Beobachtungen zu bestimmten „inhaltlichen“ Zügen in modernen Romanen, zur Figurengestaltung oder einzelnen Motiven.

In wesentlichen Punkten beruht Goldmanns Argumentation auf den Maximen marxistischer Gesellschaftstheorie. Voraussetzung der These von den Entsprechungen ist die Annahme, daß die besagte Homologie keine zufällige Erscheinung ist, sondern jeweils einem bestimmten Gesamtzustand der Gesellschaft zugeordnet werden muss, dessen Strukturen in erster Linie von den materiellen Produktivkräften bestimmt werden. (Zmegac, 125)

96. Es gehört zu den Verdiensten Walter Benjamins, der Literatursoziologie einen Weg gewiesen zu haben, der von einer reinen Produktionsästhetik wegführte und die Bedeutung bestimmter „externer“ Faktoren für die Veränderungen im Bereich literarischer Kommunikation erkennbar machte.

Den Kern seiner Untersuchungen bildet der Gedanke, es komme in der soziozentrischen Betrachtung der Kunst darauf an, die Geschichte einer bestimmten Kunstgattung in weit größerem Maße als bisher als die Geschichte der am Schaffensprozess beteiligten Medien zu begreifen. Dabei ist nicht nur an die jeweiligen technischen Medien (wie Druckerpresse, Filmkamera, Radio) zu denken, sondern auch an die Vermittler, z.B. die Verlage. Die Medien- und Publikumsstruktur sind nach Benjamin geschichtliche außerästhetische Faktoren, aber sie sind, zusammen mit den technologischen Momenten zugleich auch Wirkungskräfte, die sogenannte innere, immanente Vorgänge in der Kunst beeinflussen: Kunstgriffe, Kompositionsformen, das Aufkommen und den Niedergang von Gattungen. Daher ist es unmöglich, in der Geschichte der Kunst Äußeres und Inneres voneinander zu trennen. (Zmegac, 128f.)

97. Durch die technische Reproduzierbarkeit ergibt sich eine völlig neue Situation, denn das Kunstwerk befreit sich zum ersten Mal in der Geschichte der Kultur von der „parasitären“ Bindung an das Ritual. Die Unnahbarkeit des kultischen und individualistischen Kunstwerks wird verdrängt durch eine Kunst, die von vornherein auf eine kollektive Rezeption neuer Art eingestellt ist.  (Zmegac, 132)

98. Den zentralen Kunstgriff erblickt Benjamin in der Montage, die durch die Veranschaulichung von Gleichzeitigkeit sowie Gegensätzen der Perzeption der Erfahrungswirklichkeit noch nicht beschrittene Wege vorzeichnet und eine neue Sicht der Realität anregt. Die Montage lässt weder Identifikation noch Beschaulichkeit zu; von ihr gehen vielmehr Schockwirkungen aus.

Der Rezipient ist der Großstadtbewohner, der darin eine Entsprechung zu den Veränderungen seiner Umwelt erkennt. (Zmegac, 132f.)

99. Adorno erblickt den „Sozialcharakter“ oder den gesellschaftlichen „Gestus“ nicht in der Übereinstimmung der neuen Kunsttendenzen mit Technik und „nichtelitärer“ Kultur wie Benjamin. Die gesellschaftliche Signatur der Kunst, und gerade der modernen, sieht er in der Verweigerung des Künstlers, den sogenannten Zeichen der Zeit zu folgen. Mit anderen Worten: gerade durch seine Widerborstigkeit äußert das Kunstwerk seinen historischen Charakter, seine Antwort auf eine unstimmige, von der totalen Verdinglichung durch den Warencharakter bzw. durch das Tauschprinzip bedrohten Welt.. Darin ist das Kunstschaffen ein Beispiel „negativer Dialektik“.

Aus seiner Sicht ist die Innovation durch Technik nicht schon an sich ein Fortschritt. Bei Benjamin, der vor allem den künstlerischen Fortschritt des Kinos vor Augen  hatte, etwa die Leistungen des jungen sowjetischen Films, tritt die Kehrseite nicht in Erscheinung: die Kommerzialisierung und die ideologische Vergröberung des Mediums. Das Kapitel über Massenkultur und Kulturindustrie in der Dialektik der Aufklärung hebt im Gegensatz zu Benjamin in erster Linie diese Aspekte hervor. Das hängt damit zusammen, dass die Verfasser konkreten, wie auch immer gearteten Gesellschaftsformen mit tiefem Zweifel gegenüberstanden.

Der zeitgenössischen filmischen und dramatischen Montagekunst setzte Adorno ein Verständnis der Moderne gegenüber, das hauptsächlich von der Tradition des symbolistischen Modernismus bestimmt wurde. Die Verschmelzung von Kunst und Politik, von der Benjamin sprach, war für Adorno jedenfalls ein unannehmbarer Gedanke. (Zmegac, 135f.)

100. Adornos Ästhetik ist im Grunde eine Theorie der Kunst im Zeitalter ihrer relativen Autonomie, insbesondere seit dem Anbruch der sogenannten Moderne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Autonome Kunst begehrt gerade gegen die Entwicklung auf, aus der sie hervorgegangen ist. Die Dialektik des Spannungsverhältnisses zwischen Kunst und Gesellschaft kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass mit dem Anwachsen ästhetischer Autonomie die ethische Bedeutung nicht etwa vermindert wird, sondern vielmehr wächst. Der Kommunikation sich zu versagen sei besser als Anpassung. (Zmegac, 136f.)

101. Die partiellen Gegensätze zwischen Adorno und Benjamin treten nirgends so deutlich zutage wie in der Beurteilung des l’art pour l’art. Während Benjamin die Abkapselung des Künstlers, d.h. seine Gleichgültigkeit oder gar Feindschaft gegenüber bestimmten  politischen Vorstellungen, als eine unangemessene Fluchtreaktion verurteilt, erblickt Adorno gerade in der Konsequenz dieser Haltung die einzige auf Dauer sinnvolle Reaktion auf die Widersprüche der heutigen Gesellschaftslage. Der „Artismus“ schließt eine sinnvolle Verweigerung ein, erkennbar in dem Protest gegen das Ansinnen, die Kunst möge der herrschenden Meinung entsprechen.

Unbequeme, schwierige, provozierende Werke – und nur solche zählen für Adorno – sind Kritik, schockierende Kritik an der bestehenden Realität. In ihrer eigentümlichen Realität enthalten sie aber zugleich einen utopischen Kern. In ihrer mutmaßlichen Chaotik offenbart sich der Widersinn der verordneten sozialen Ordnung. „Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen“ (Minima Moralia). (Zmegac, 138)


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