7 Nationalistische und völkisch-rassische Ansätze

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7.06 'Übergreifende' Hintergründe

1. Selbst die Berufung auf Goethe, Schiller und Hegel bedeutet innerhalb der geistesgeschichtlichen Richtung meist eine Wendung ins Nationale oder zumindest Dämonisch-Irrationale: zu den „Müttern“, zum „Urgrund des Volkes“ oder einem unerklärlichen „Gestaltwandel der Seele“. Kein Wunder also, dass im Umkreis dieses Denkens so wenig von Humanismus, Kosmopolitismus und anderen „aufgeklärten“ Konzepten die Rede ist. (Hermand, 62)

2. Die ersten Anzeichen für die Tendenz ins Nationale lassen sich etwa um 1900 beobachten. Der treibende Impuls war dabei das verzweifelte und gequälte Ringen um eine innere Auffüllung der rassenhaften Struktur des wilhelminischen Reiches, dessen offizielle Kulturpolitik sich immer noch im Rahmen des gründerzeitlichen Hurrapatriotismus bewegte. Im Gegensatz dazu entwickelte sich jetzt ein Kulturverlangen, das sich auf Grund seiner Verachtung des herrschenden Materialismus und Positivismus an allem orientierte, was man als „wesenhaft“ deutsch empfand. Und zwar stieß man dabei neben dem philosophischen Idealismus erst einmal auf die deutsche Romantik. Ihre Propagierung wurde als eine der vornehmsten Aufgaben der zukünftigen Geistesentwicklung hingestellt, da man in ihrem mystisch gefärbten Irrationalismus ein wirksames Bollwerk gegen den „westlichen Rationalismus“ und die mit ihm verbundenen Gefahren einer „zivilisatorischen Überfremdung“ des deutschen Wesens erblickte.

Man erlag der Gefahr, in eine ominöse „Deutschkunde“ umzukippen, die sich von rein nationalistischen Zwecksetzungen leiten läßt. Als besonders „deutsch“ wurden hierbei die romantische Formlosigkeit, die geistige Wesensschau und das Streben nach einer religiösen Fundierung aller kulturellen Ausdrucksformen hingestellt.  (Hermand, 63f.)

3. Die gesamte „moderne“ Literatur erscheint z.B. Emil Ermatinger von vornherein entseelt. Was ihr hauptsächlich fehle, sei wie in klassisch-romantischer Zeit eine tiefgehende Verantwortung dem „gegenwärtigen Ganzen, der Volksgemeinschaft“ gegenüber.

Liebe, Geist, Gefühl, Seele: alles hat für die Vertreter dieser Richtung im Deutschen eine ganz andere Bedeutungsmächtigkeit als im romanischen, angelsächsischen oder slawischen Bereich.

Ständig ist von der Eigenwüchsigkeit und dem faustischen Drang des „deutschen Geistes“ die Rede. Man liest ständig von einer „germanischen Kontinuität“, die sich jedem geschichtlichen Wandel konsequent entziehe.

Man neigte zu jenen Epochen, in denen das Romantische, Idealistische, Barocke, Formlose und Ins-Jenseits-Tendierende im Vordergrund steht. Eine der ersten Perioden, die in den Sog dieser steigenden Nationalisierung geriet, war die Gotik. Man versuchte, den Begriff des „Gotischen“ aus einem spezifisch deutsch-jenseitigen Charakter abzuleiten, aus einer „nordischen Seelenverfassung“. (Hermand, 65ff.)

4. Die bequemste Möglichkeit, zu einer nationalen Wesensbestimmung des deutschen Geistes zu gelangen, bot natürlich die Romantik. Der Begriff „Romantik“ verwandelte sich in ein Wesenselement des „deutschen Geistes“ schlechthin, das keinerlei historische Bestimmbarkeiten mehr hat. Es wurde mehr und mehr Mode, das Romantische zum Symbol des Metaphysischen, des Musikalisch-Irrationalen und damit des entscheidenden Grundimpulses einer „germanischen Wiedergeburt“ zu glorifizieren. Das Ergebnis dieser Entwicklung war, daß die geistesgeschichtlich orientierte Romantik-Forschung der frühen zwanziger Jahre schließlich in eine „Deutschkunde“ überging, in der sich bereits eine spürbare Nähe zu den späteren Volkheitstendenzen verrät. Ihren eigentlichen Höhepunkt erlebten diese Tendenzen daher erst in den Jahren nach 1933. (Hermand, 70f.)

5. Bei der Herausbildung einer streng „national“ orientierten Literaturwissenschaft waren noch weitere Kräfte am Werk. Zu den frühesten Vorläufern gehört die stammesgeschichtliche Betrachtungsweise, die sich um 1900 in Parallele zu den heimatkünstlerischen Bestrebungen dieser Ära entwickelte. Im Gegensatz zu den üblichen Darstellungen der deutschen Nationalliteratur legte man im Rahmen dieser Schule den Nachdruck weniger auf den historischen Entwicklungsgang als auf die landschaftlich und ethnisch bedingte Konstanz aller geistigen und künstlerischen Phänomene. Den ersten Anstoß dazu gab Hippolyte Taine, der bereits in den sechziger und siebziger Jahren das „Milieu“, und zwar besonders in rassischer und geographischer Hinsicht, als den wichtigsten Faktor aller Kulturen hingestellt hatte.

Das Hauptinteresse der deutschen Milieutheoretiker lag demgegenüber in der Verklärung der nationalen Grundsubstanz.

Die ersten Anregungen gingen dabei von August Sauer aus. Sein Schüler Josef Nadler war es, der dieser Methoden zum eigentlichen Durchbruch verhalf. Es gibt bei Nadler nicht nur eine Volksseele, sondern zugleich eine Reihe „deutschbewußter“ Stammesseelen. Aufs Ganze gesehen, war damit schon um 1910 eine Richtung eröffnet, die später bruchlos in die „völkische“ Literaturwissenschaft übergehen konnte. (Hermand, 71ff.)

6. Zugleich entwickelte sich eine „Rassenseelenforschung“. Auch auf diesem Sektor gingen die entscheidenden Anstöße von der Zeit um 1900 aus. Aufs Ganze gesehen waren dabei die Schriften von Houston Stewart Chamberlain wohl die einflussreichsten. Der Gedanke einer germanischen Edelrasse, wie er bereits Gobineau vorgeschwebte hatte, wird bei ihm ganz offen mit Lagardes national-religiösen Gedanken und Nietzsches „Willen zur Macht“ zu einem dilettantischen, aber höchst stimulierenden Gemisch rassischer und imperialistischer Phrasen vermischt, das im „Arischen“ das entscheidende Ferment der gesamten menschlichen Kulturentwicklung erblickt. Nichts ist bei ihm ohne einen Tropfen nordischen Blutes gesalbt. Ob Geschichte, Religion, Kultur oder Staatengründungen: in allem sah er ein Werk der Arier, während er bei anderen Rassen lediglich die Neigung zum nivellierenden „Völkerchaos“ und damit zur Kulturlosigkeit konstatiert. Auf Grund dieser Rassenlehre entwickelte Chamberlain eine Ideologie, nach der die Germanen, als der letzte legitime Spross der Arier, von der Vorsehung zur Weltherrschaft berufen seien, um die menschheitliche Entwicklung vor einer völligen Bastardisierung zu retten.

Im Anschluss an diese Theorien schwärmte man allenthalben für ein neues Ariertum und bezeichnete den Krieg als den Triumph unverbrauchter Rassenkräfte, woraus sich eine Ideologie entwickelte, die eindeutig ins Faschistische tendiert. (Hermand, 74f.)

7. Die spezifisch „völkische“ Literaturbetrachtung der Nazi-Ära hat stets eine Neigung zum Eklektischen. Und zwar knüpfte sie wahllos an die Neuromantik der Jahrhundertwende, die expressionistische Wesensschau, die nordisch-gotisierende Geistesgeschichte, die arische Rassenkunde, den völkischen Existentialismus oder die Landschafts- und Stammeskunde an. Wirklich neue Gesichtspunkte sind daher in dieser Ära, die so stolz auf ihren Umbruchcharakter war, kaum entwickelt worden. Überall griff man auf bereits Vorhandenes zurück und verzerrte es ins Völkische oder Rassenseelische.

Wenn es überhaupt etwas Verbindendes in diesem völkischen Tohuwabohu gibt, dann höchstens den starken Nachdruck, den man auf die „biologische“ Komponente legt.

Schlimm wird es dort, wo man die bäuerliche „Substanz“ des deutschen Volkes gegen die schwächliche Welt der „westlich-überfremdeten“ Großstädte auszuspielen versucht. Überhaupt galt Städtisches von vornherein als „entartet“, als der Bereich der „Asphaltliteratur“, in dem nur Juden und Sozialisten ihr Unwesen treiben können. Ebenso beliebt war die ständige Berufung auf den deutschen Heroismus, das heißt auf jene Gesinnung, die lieber in verbohrter Nibelungentreue den Weg des Unterganges wählt als ein Gran ihrer „völkischen“ Überzeugung zu opfern. Das Tragische und Dämonische wurden deshalb immer wieder mit dem „Deutschen“ an sich identifiziert.

Es gab mehr und mehr ernstzunehmende Literaturwissenschaftler, die es als den „tiefsten Instinkt der nordischen Rasse“ bezeichneten, sich „jauchzend in die Schwerter der Feinde“ zu stürzen. (Hermand, 78ff.)

8. Das Ergebnis der scheinbaren „Revolutionierung“ der germanistischen Wissenschaft ist meist ein arisierender Kunstimperialismus Chamberlainscher Provenienz, der alles, was Rang und Namen hat, für die deutsche Kunst zu usurpieren sucht.

Hatte man im Rahmen der frühen Geistesgeschichte unter einer spezifisch „germanischen“ Kunst vor allem die Neigung zu expressiver Ausdruckssteigerung, heroischer Tatgesinnung und volkhaft-religiöser Verinnerlichung verstanden, so spricht man jetzt mehr von der weltballerobernden Kraft des nordischen Wandertriebes, durch den sich das deutsche Volk als eine kulturschöpferische Herrenrasse ausweise. (Hermand, 80f.)

9. Ursprünge einer nationalistischen Ideologisierung der Germanistik sind seit den Brüdern Grimm in vielfältiger Weise belegbar. Nationales Selbstverständnis und „vaterländische“ Zielsetzung führen aus den verschiedensten Richtungen zunächst zu einer deutschkundlichen und nationalistischen Akzentuierung, die später unter dem Druck des NS-Regimes teilweise in Germanenkult, Rassismus und Biologismus endete. (Klein, Vogt, 32f.)

10. Die nationalen und völkischen Denkmuster, die sich seit dem 19. Jahrhundert auch im germanistischen Arsenal vorfinden, werden zu Ansatzstellen und Vehikeln rassischen Denkens, das sich spontan schwerlich durchgesetzt hätte. Soziologisch wurde die völkisch-rassische Tendenz vor allem durch den im gebildeten Bürgertum verbreiteten Glauben an die Überlegenheit der nordischen Rasse gestützt.

Weist die Germanistik vor 1933 keine ausgesprochen rassische oder rassistische Tradition auf, so entwickelte sie doch Denkrichtungen, die sich schließlich fugenlos dem nationalsozialistischen Dogma einfügten. Eine solche Vorgeschichte teilt die Germanistik mit verschiedenen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern sowie mit Biologie und Anthropologie. Die Überbetonung einer besonderen Schuld der deutschen Literaturwissenschaft ist deshalb verfehlt und würde diesem Fach nur die gesellschaftspolitische Bedeutung zusprechen, die es im Dritten Reich zwar anstrebte, in Wirklichkeit aber nie besessen hat.

Kam der völkisch-rassischen Literaturbetrachtung auch während des Dritten Reiches innerhalb der Literaturwissenschaft keine dominierende Rolle zu, so verschaffte sie doch dem nationalsozialistischen Dogma literaturwissenschaftliche Kredibilität; sie erhob die von ihm propagierte Literatur fast in den Rang der Klassiker und half mit, das literarische Wertbewusstsein der Öffentlichkeit einzuebnen. (Brude-Firnau, 151f.)

11. Bereits im 17. Jahrhundert wird das Bemühen um deutsche Sprache und Literatur teilweise ein Bemühen um die als bedroht empfundene nationale Identität. Aus dieser Betätigung resultiert ein patriotisches Selbstbewusstsein, das deutsche Sprache und Literatur als anderen europäischen Sprachen gleichrangig oder überlegen wertet.

Während der napoleonischen Herrschaft und der Freiheitskriege führen diese Tendenzen schließlich zur Konstituierung der „deutschen Wissenschaft“ (Adam Müller); die Germanistik begründet sich als eigenständige Disziplin. Zum ideellen Grundbestand der jungen Wissenschaft gehörte auch der bereits im Mittelalter auftauchende Gedanke der „Sprachnation“: der Wunsch nach einer durch die Sprache geeinten, scheinbar göttlich-natürlichen Nation.

Selbstverständnis und Fragestellung des Faches wurden damit von Anfang an durch nationale Ziele und gesellschaftspolitische Vorstellungen beeinflusst: auch die Erforschung der deutschen Literatur sollte das nationale Bewusstsein stärken, zur Ablehnung des Fremden, vor allem aber zur Auflehnung gegen die napoleonische Herrschaft beitragen. Diese nationalpolitischen Motivationen blieben auf Dauer gedanklicher Bestandteil der Germanistik.

Die gesellschaftliche Ausrichtung des Faches intensivierte sich durch die Verpflichtung zur Ausbildung der Gymnasiallehrer. Damit war die Verbreitung der jeweils in der Germanistik herrschenden Werte und Meinungen über die Schulen garantiert. Diese soziale Integration machte das Fach seinerseits empfänglich für gesellschaftspolitische Aufträge.

Als ein solcher Auftrag galt die Bestimmung der Identität des deutschen Volkes. Die „Sprachnation“, als territoriale Vereinigung aller deutschsprechenden Bevölkerungsteile, konnte nicht verwirklicht werden. Zum neuen Leitbegriff wurde „Volk“. Er verbindet sich mit der bürgerlichen Zielvorstellung einer nicht mehr feudal regierten oder ständisch getrennten, sondern einer demokratisch-progressiven Staats- und Gesellschaftsordnung. Mit der Losung „Volk“ hielt sich das Bürgertum bis zur Paulskirche berechtigt, für die gesamte deutsche Öffentlichkeit nationale Einheit und politische Gleichberechtigung zu fordern.

Der politischen Funktion des Volksbegriffs ging seine gedanklich-idealistische Deutung vorher: vor allem Herder sprach dem Volk eine bisher unbekannte, nahezu metaphysische Würde zu. Volk bedeutete für ihn eine seelisch-geistige Einheit, die sich in Kultur und Sprache, vor allem aber durch Dichtung äußert. Im Fühlen und Meinen des Volkes erkennt Herder eine geradezu personale Identität und erklärt das Volk zum Träger der Geschichte.

Diese Herdersche Substanzialisierung reflektiert die Sprache zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die sich mehrenden Komposita wie Volksgeist, Volkscharakter, Volksgemeinschaft, Volksmund, Volksgedächtnis oder Volksempfinden. Seine deutsch-nationale und später nationalistische Prägung erhielt der Volksbegriff vor allem durch Fichte, Arndt und Görres (Brude-Firnau, 156ff.)

12. Ein wichtiger Popularisator des derart verengten Volkstumsgedankens war Friedrich Ludwig Jahn. In seiner Schrift Deutsches Volksthum (1810) schlägt sich Jahns Wunschvorstellung eines künftigen geeinten Deutschland als dilettantisch ausgeführte Utopie eines totalitären Staates nieder. Ein Volkscharakter wird hypostasiert, der – geschichtlich unveränderlich – das Seelisch-Geistige ebenso bestimmt wie das Physisch-Biologische. Der Einzelne wird durch die allen gemeinsame Identität definiert. Das Volkstum erhält dagegen metaphysische Akzente, wird geradezu präpariert für politische Sakralisierung.

Jahns Argumenten liegt ein noch diffuser, aber dezidiert vorgetragener Rassismus zugrunde. Er plädiert für die „Reinhaltung“ der Völker, die er als rassisch homogen ansieht.

Der Literatur wird eine feste Aufgabe zugewiesen: als unmittelbarer Ausdruck des Volkstums soll sie Instrument zur Erziehung des Volkes zu seiner wahren Identität werden. Sie muss den Einzelnen emotional an die Gemeinschaft binden. Dieses Funktionalisierung findet sich in der völkisch-nationalsozialistischen Germanistik wieder. (Brude-Firnau, 159ff.)

13. Mit der Entstehung des deutschen Nationalgefühls zu Beginn des 19. Jahrhunderts bildet sich eine Volkstumsideologie heraus, die in enger gedanklicher und personaler Beziehung zur jungen Germanistik steht. In diesem weltanschaulichen Syndrom wird die Überhöhung des Volkes nicht mehr als notwendiges historisches Durchgangsstadium gesehen oder durch kosmopolitische Ideen gedämpft. Vielmehr ist das deutsche Volk zum Absolutum erklärt und damit jeder Kritik entzogen worden. Diese Vorstellung verbindet sich mit rastaurativen Elementen: so wird als ideale politische Verwirklichung des Volkstums ein agrarischer, harmonisch-veränderungsloser Ständestaat gesehen. Entsprechend muss die deutsche Identität zur germanisch-mittelalterlichen Idealgestalt stilisiert werden. Rückwärtsgewandt und realitätsfern ist ebenso die gesellschaftspolitische Orientierung: zusammen mit der gegen Frankreich gerichteten Ablehnung alles Fremden werden die Errungenschaften der Revolution sowie die beginnende Industrialisierung verfemt. Diese Haltung manifestierte sich in einer skurrilen „Deutschtümelei“. (Brude-Firnau, 162f.)

14. Es war die Volkskunde, die die Volkstumsideologie tradierte und ausbaute. Zu ihr gehört eine staatspolitische Auffassung, der zufolge das Volkstum wesentliches Mittel ist, Staat und Volk zur Volksgemeinschaft mit festumrissener Identität zu vereinen, wobei dem Staat die oberste Stelle erteilt wird. Gegen Ende des Jahrhunderts kommt eine deutlich biologische Akzentuierung hinzu, die diese Auffassung dann rassistischen Strömungen annähert.

Die gescheiterte Revolution von 1848 brachte die Erschütterung der politischen Wunschvorstellungen des mittelständischen, von jeder öffentlichen Entscheidungsgewalt ferngehaltenen Bürgertums. Den Verlust an öffentlichem Prestige kompensierte der „Bildungsbürger“ durch Rückzug in eine Innerlichkeit, deren Werte der deutschen Klassik entstammten und sich in intensivem Bemühen um Kunst und Wissenschaften verwirklichte. Aus der Unfähigkeit zu zeitgerechter Wirklichkeitskritik resultierte eine Obrigkeitsgläubigkeit. (Brude-Firnau, 164f.)

15. Das deutsche Kleinbürgertum erfuhr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen entsprechenden Bewusstseinswandel: die verspätet einsetzende Industrialisierung versetzte viele in wachsende Angst vor Verarmung und Proletarisierung. Überwiegend wurde ablehnend mit konservativ antisozialistischer Haltung reagiert. Diese Wirklichkeitserfahrungen großer Segmente der Bevölkerung finden ihre Entsprechung und Bestärkung in der sog. „Heimatdichtung“. Der nationalkonservative Trend dieser Erzähltradition, die sich um 1900 in der „Heimatkunst“ manifestiert, geht in den Jahren um den Ersten Weltkrieg in die radikalere völkische Version und schließlich in die vom Nationalsozialismus propagierte Blut- und Bodenliteratur über. Gemeinsam ist diesen literarischen Produkten die Agrarromantik, die Idealisierung der Dorf- oder Stammesgemeinschaft, der eine dezidierte Ablehnung von Großstadt und Industrialisierung gegenübersteht. (Brude-Firnau, 165f.)

16. Bei August Sauer (1855-1926) wird Volkstumsdenken zum literaturwissenschaftlichen Programm. In seiner Rektoratsrede Literaturgeschichte und Volkskunde (1907) gewinnt er den Maßstab zur Selektion, Gliederung und Wertung literarischer Werke aus dem „Zusammenhang der deutschen Literatur mit dem deutschen Volkstum als solchem“. (Sauer 1925, 4) Volkstum umschließt die Vorstellung eines biologisch-organologischen Körpers ebenso wie die eines sozialpsychologischen Wesens: Volkstum bedeutet für ihn „Volksseele“, das innerste Wesen der „großen Masse“ und manifestiert sich als „Nationalcharakter“. Volkstum ist „das Einfachere, Primitive, Gesunde“.

Sauer betont, dass noch zahlreiche Elemente zu gewinnen seien, ehe das deutsche Volkstum bestimmt und als literaturwissenschaftliches Instrument verwendet werden könne. Er schlägt deshalb vor, zunächst Teileinheiten, nämlich den jeweiligen Charakter der deutschen Stämme festzulegen, aus denen sich dann die Summe des gesamtdeutschen Volkstums addieren ließe: „Denn im letzten Grunde ist der Mensch, wie weit sich seine spätere Entwicklung auch in ferne Regionen erstrecken möge, ein Produkt des Bodens, dem er entsprossen ist, ein Angehöriger des Volksstammes, der ihn hervorgebracht hat, ein Glied der Familie, aus deren Verbindung er entsprossen ist.“ (5)

Sauer sieht in der festgelegten „Stammes-“ oder „Volksseele“ den objektiven Maßstab, der die Zugehörigkeit eines Textes zum deutschen Literaturkanon und dessen Wertbeständigkeit fortsetzen könne: gelänge es, „die Volksseele zu erkennen und die einzelne Individualität des Dichters mit ihr zu vergleichen“ (15), dann wäre es möglich, „daß bei jedem Dichter, jeder Dichtergruppe und jedem Dichtwerk festgestellt werde, wie tief sie im deutschen Volkstum wurzeln oder wie weit sie sich etwa davon entfernen“. (20)

Sauers Rektoratsrede ist als einer der „Ursprünge rassistischer Tendenzen der Germanistik“ (Greß) zu bezeichnen, denn sie liefert die Möglichkeit zur Ausgrenzung literarischer Werke aufgrund der bloßen Zugehörigkeit ihrer Autoren zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe.

Auf die Literaturwissenschaft, besonders auf die Literaturgeschichtsschreibung übte die Rede Sauers weitreichenden Einfluss aus: indem Sauer das Volkstumdenken zum Konzept der Germanistik erhob und es zugleich zur Parole ethnozentristischer Selbstbehauptung machte, band er die Disziplin erneut an politische Bestrebungen, sprach ihr wiederum die Aufgabe nationaler Identitätsfindung zu. Einzelne Verweise, etwa auf die Rolle des Führerprinzips in der Literatur, scheinen bereits völkische Ideologeme zu integrieren.

Die fragwürdigste Bestätigung fand Sauers Programm 1934 im Vorwort des Euphorion, das die Umbenennung der Zeitschrift zu Dichtung und Volkstum rechtfertigte. (Brude-Firnau, 166ff.)

17. Mit den theoretischen und literaturgeschichtlichen Publikationen Josef Nadlers (1884-1963) wird das von Sauer aufgestellte methodologische Programm zu wissenschaftlichen Behauptungen verhärtet. Die von Sauer noch respektierte Methodenvielfalt verengt sich bei seinem Schüler zum Dogma einer einzigen Richtung, die sich auf Stammesidentität und Volkstum begründet. Seine vierbändige Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, erstmals 1911/27, dokumentiert die schrittweise Annäherung nationaler und völkischer Literaturbetrachtung an die Ideologeme und Dogmen des Nationalsozialismus.

Nadlers Kategorien sind letztlich nicht auf das literarische Werk, sondern auf einen entindividualisierten Autor gerichtet, der selber nur noch als Repräsentant seiner Herkunft gilt. Tatsächlich wird der Autor für Nadler zum Träger und Sprecher einer „Stammesseele“, aus der alle Dichtung hervorgeht.

Dieses Verfahren soll das literarische Werk wie ein naturwissenschaftliches Objekt der gesetzmäßigen Analyse verfügbar machen. Kultur- und Literaturgeschichte wird als ein nach feststellbaren Regeln verlaufender Prozess gesehen; das Schöpferische, Inkalkulable des Kunstwerks ist eliminiert. Literaturwissenschaft soll nicht mehr die dem Werk inhärente Gesetzlichkeit feststellen, sondern die allgemeinen Ordnungsregeln der Entstehung von Literatur, die mithilfe der Sprach- und Familiengeschichte, der Ethnographie und Volkskunde sowie der Geographie zu gewinnen seien. Dass dabei Geschichtlichkeit und Individualität wegfallen, ist durchaus beabsichtigt.

Mit geringem theoretischen Aufwand kann Nadler folglich die Literaturwissenschaft nach 1933 dem Einspruch von Staat und Öffentlichkeit unterstellen. Das Prinzip voraussetzungsfreier Forschung ist der Forderung nach Allgemeinverständlichkeit und öffentlicher Angemessenheit gewichen. Entsprechend werden die literaturspezifischen Methoden von Nadler als irrational und subjektiv verurteilt. Künstlerische Leistung ist quasi zur Gemeinschaftsleistung erklärt worden. Deshalb soll die Deutung von Literatur auch von einer Kollektivform aus erfolgen.

Bei Nadler treten soziologische Kollektive und geographische Einheiten als bewegende Kräfte kultureller und literarischer Entwicklungen auf. Dafür beispielhaft sind folgende Wendungen: „der mitteldeutsche Grenzraum um den Harz hat das Wort“; „eine mütterliche Landschaft ... sagte was sie wollte“. Eine gewaltige Geomechanik tritt an die Stelle der von Einzelnen ausgelösten und getragenen Bewegungen: Ströme, Gebirge, Landstriche werden zu Produzenten von Dichtung.

Als zweite literaturhistorische Ordnungskategorie figurieren die deutschen Stämme. Nadler teilt sie in zwei Gruppen: die südwestdeutschen „Altstämme“ übernehmen aufgrund ihrer räumlichen Nähe zu den romanischen Völkern das lateinische Erbe und bringen schließlich die deutsche Klassik hervor. Im Unterschied zu ihnen dringen die als „Neustämme“ bezeichneten Gruppen nach Osten vor, wo sie „Boden, Blut und Seele“ der slawischen Bevölkerung „verdeutschen“ und zu Schöpfern der Romantik werden. Gemeinsam bestimmen beide Gruppen die nationale Identität der Deutschen. (Brude-Firnau, 169ff.)

18. Das Wort ‘völkisch’ wurde nach 1900 bald zum Sammelbegriff nationalistisch-konservativer Werte und Forderungen. Mittelpunkt war die Vorstellung von einer politischen und kulturellen Volksgemeinschaft mit festen Ständen, unter Führung des Bildungsbürgertums. Damit verband sich die Überzeugung deutscher Höherwertigkeit, die bei biologischer Akzentuierung in Germanenschwärmerei und rassistische Haltung, bei Beschränkung auf ein „deutsches Wesen“ oder einen „deutschen Geist“ in Kulturchauvinismus übergehen konnte.

Die Hoffnung, dass eine solche Volksgemeinschaft aus dem gemeinsamen Kriegserlebnis hervorgehen werde, trug beträchtlich zur euphorischen Reaktion des Mittelstands und besonders der Akademiker im August 1914 bei. Die deutsche Niederlage wurde nach dem Krieg zur Niederlage nur des Staates umgedeutet. Das Volk sei auf den Schlachtfeldern als Volksgemeinschaft aus „Feuer und Blut“ geboren worden, es müsse nun weiter gepflegt werden, um sich ganz zu verwirklichen. Diese Realisierung glaubte man schließlich mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus vollzogen.

In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg verfestigten sich die völkischen, bis dahin von den Randgruppen vertretenen Vorstellungen zur Ideologie, die mehr oder weniger von den größten Teilen der Bevölkerung getragen wird; die völkische Anschauung ist zur „Volksbewegung“ geworden. Die kennzeichnende völkische Einstellung war eine betonte Abwehrhaltung: abzuwehren suchte der Mittelstand die eigene Verarmung und Proletarisierung; abzuwehren waren die „feindlichen“ politischen und gesellschaftlichen Gegenbilder: das demokratische System und liberale, als „westlich“ bezeichnete Lebensformen; damit verband sich die Abwehr alles Fremden, besonders innerdeutscher „Fremdgruppen“. Man wehrte sich gegen den „Versailler Schandvertrag“ wie gegen die Politik der Weimarer Republik. All dem stand die irrationale Idealisierung des eigenen Volkes gegenüber, die Wunschvorstellung eines großdeutschen Reiches und militärischer Wiedererstarkung.

Die völkische Ideologie, die sich in eine radikale und eine gemäßigtere, weitgehend mit der konservativen Revolution zusammenfallende Richtung einteilen lässt, bewirkte während der Weimarer Republik einen fortschreitenden Verfall der ethisch-humanitären Werte. Charakteristisch sind die zahlreichen literaturwissenschaftlichen Feststellungen, dass die Aufklärung eigentlich „undeutsch“ und eine „Humanitätsduselei“ sei.

Gerade das Fach Deutschkunde vermittelte die Theoreme und Werte völkischer Ideologie an die Schule, welche dann ihrerseits die akademische Germanistik im völkischen und schließlich nationalsozialistischen Sinne beeinflusste. Ahnherr der Deutschkunde war der angesehene Germanist Rudolf Hildebrand (1824-1894), der die Neugestaltung des Deutschunterrichts forderte. Hildebrand wendet sich einerseits gegen die zeitüblichen drakonischen Unterrichtsmethoden, geht andererseits aber von der Überzeugung aus, „daß das Deutsche für die Entwicklung des Charakters und der Persönlichkeit der weitaus bedeutsamste Unterrichtsgegenstand ist“, denn in deutscher Sprache und Literatur sei „die Vorzeit“, das frühere und vitalere Leben des Volkes bewahrt. Damit sich eine „Selbsterneuerung aus der eigenen, aus deutscher Art“ vollziehen könne, müsse der vergangene Zustand wieder ins gegenwärtige Bewusstsein gelangen. Dem Lehrer wird die Funktion zugewiesen, durch die evozierten Idealgestalten einer mythisierten Vergangenheit den Schüler emotional und gedanklich zu bannen. Denn Erkenntnis werde nicht durch die Ratio erreicht, behauptet Hildebrand, sondern durch Gemüt und Gefühl. Das angestrebte Ziel des Deutschunterrichts ist also keineswegs die kritische Auseinandersetzung des Schülers mit historischen Phänomenen oder dichterischen Texten; vielmehr wird dem Lehrer indirekt die Aufgabe erteilt, die Entwicklung des kritischen Urteilsvermögens durch Lenkung der Imagination abzublocken. Kritik wird von Hildebrand als „Selbstzersetzung“ verurteilt. Denn Erziehung soll vor allem einer „harmonisch geordneten“ Volksgemeinschaft dienen. Er unterstellt damit den Deutschunterricht der jeweiligen Staatsideologie.

Einfluss übte ebenso Hildebrands Zeitkritik aus, die sich gegen „Überfremdung“ und „Übercultur“ richtet und vor allem den Schulunterricht davon betroffen sieht: das „Culturgift“ des „Römerthums“ und des „Franzosenthums“ schade nur dem „gesunden Leben“ des eigenen Volkes. Aus einer imaginierten Vergangenheitsvorstellung gewinnt Hildebrand Maßstäbe für seine Gegenwartskritik, die Ausschaltung alles Nicht-Deutschen fordert, die Wiederherstellung des vermeintlich Ursprünglichen und Naturgemäßen. Mit der Utopie des in sich geeinten Volkes verbindet Hildebrand gleichzeitig die Vorstellung einer metaphysisch begründeten nationalen Sendung

In den zwanziger  Jahren betonte man an Hildebrands komplexerem Erziehungsprogramm, was völkischem Denken entsprach, mitunter mehr als die Texte aussagten. Die Deutschkunde der Weimarer Republik glaubte beauftragt zu sein, erzieherisch „kämpfend“ die soziopolitischen Probleme der Nachkriegszeit zu überwinden. Hildebrand wird zur historischen Legitimation einer Deutschkunde, die sich die innere Wiedererstarkung Deutschlands zum Anliegen macht.

So wenig Hildebrandts Erziehungsmodell mit faschistischer Indoktrinierung gleichgesetzt werden kann – beispielsweise fehlt ihm jeder Rassismus –, so sehr bot die Idealisierung des Volksbegriffs und das ahnungslose Vertrauen in eine staatskonforme Erziehung Wirkungsvoraussetzungen für das deutschkundlich-völkische und schließlich nationalsozialistische Unterrichtsprogramm.

Das betrifft auch das Wissenschaftsprogramm der Germanistik. Denn der Germanistik hatte Hildebrand eine antiaufklärerische und antirationalistische Funktion zugewiesen; auch für sie galt, daß reine Wissenschaftlichkeit im Dienste nationaler Wiedergeburt abzuweisen sei, „dabei kann selbst Täuschung nutzbar, fruchtbar sein, also wahrer sein als die ‘wissenschaftliche’ Wahrheit“. (Hildebrand 1910, 139)

Der Deutsche Germanistenverband übernimmt 1920 das Programm der Deutschkunde auch als akademisches Modell und löst sich damit von einem prinzipiell objektiven Wissenschaftsbegriff zugunsten eines völkisch-ideologischen Dogmas. Erst dieser Übergang erklärt die Äußerungen deutschkundlich orientierter Germanisten, die die nationalsozialistische Machtergreifung als Beginn „deutscher Wiedergeburt“ feiern. Die Deutschwissenschaft beansprucht, die offizielle Germanistik des neuen Staates zu sein. (Brude-Firnau, 175ff.)

19. Welche Glaubens- und Denktraditionen führten zur rassischen Literaturbetrachtung und zum Rassismus in der Germanistik? Im Zentrum stehen Ansichten von der biologischen und kulturellen Überlegenheit der nordisch-germanischen Rasse sowie von der gelenkten Höherentwicklung eben dieser Rasse.

Das naturwissenschaftliche Rassedenken berief sich primär auf Darwins „Survival of the fittest“, das die Selektion der am besten angepassten Organismen in Tier- und Pflanzenwelt betraf, dessen Übertragung auf menschliche Verhältnisse von Darwin allerdings nie beabsichtigt war. Doch verlieh sein Name der soziopolitischen Verwendung des Prinzips erhöhte Glaubwürdigkeit. Daraus entwickelten sich um die Jahrhundertwende allgemeine eugenische Zielvorstellungen, die zunächst die Förderung des „kulturell Tüchtigeren“ anvisierten, dann aber entschiedener in die Verkündigung einer darwinistisch bestimmten Gesellschaftspolitik mündeten. Mit der Gründung der Gesellschaft für Rassenhygiene (1905) veränderten sich die auf „Erbgesundheit“ bedachten Zielvorstellungen in Forderungen nach einer Rassenpolitik, die dreißig Jahre später in die nationalsozialistischen Rassengesetze eingingen und zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ führten. (Brude-Firnau, 180f.)

20. Der von den Geisteswissenschaften vertretene Rassengedanke ist literarischen Ursprungs, gewinnt aber durch die erwähnten pseudonaturwissenschaftlichen Ansichten Gewicht. Grundlegend wurde das vierbändige Werk Essay sur l’inégalité des races humaines (1853/55) des französischen Schriftstellers und Diplomaten Arthur, Come de Gobineau, in dem die Geschichte der europäischen Nationen durch ihr rassisches Geschick erklärt wird: Gobineau hypostasiert als Keim aller Völker eine „Ur-Menschheit“, die er mit sämtlichen positiven, staats- und kulturfördernden Eigenschaften ausstattet. Solange nun ein Volk das biologische Erbe dieser Ursprungsrasse rein bewahre, bleibe es entsprechend edel, schöpferisch, überlegen. „Rassenmischung“ dagegen wirke sich auf jedes nationale Geschick verhängnisvoll aus. Vor allem trage die Integration der „schwachen“, besiegten Rassen in ein Volk zu dessen Verhängnis bei: Dekadenz und kultureller Rückschritt seien Folgen rassischer „Verunreinigung“. Prototyp einer einst körperlich und kulturell hochstehenden Rasse waren für Gobineau die Arier, denen er sämtliche Leistungen in der europäischen Geschichte zuschreibt. Durch „Vermischung“ seien sie jedoch untergegangen; allenfalls lebten ihre Eigenschaften in einzelnen Individuen, am ehesten noch in den germanischen Völkern fort. (Brude-Firnau, 181)

21. Am nachhaltigsten wurden Gobineaus Ideen in Deutschland rezipiert. Verbreitet wurden sie durch Ludwig Schemann (1852-1938). Mit seinem dreibändigen Werk Die Rasse in den Geisteswissenschaften (1928/31) baute er den Gobineauschen Ansatz zum rassistischen Dogma aus. Rasse allein sei das dynamische Moment des Geschichtsverlaufs. Das gesamte geisteswissenschaftliche Denken müsse sich deshalb „rassenmäßig“ umstellen. Behauptet wird die gesetzmäßige Vererbbarkeit und existenzbestimmende Bedeutung der Rasse im Leben des Einzelnen. Humanistische Werte und die Ziele der Aufklärung seien neben der rassisch bedingten Determiniertheit des Menschen nichts als ein „schöner Wahn von Menschheit und Menschlichkeit“.

Als „Rassenlehre“ propagiert die Abhandlung das „neue Ethos“ der „Rassenreinheit“, behauptet die biologische Unvereinbarkeit unterschiedlicher Rassen sowie den absoluten Vorrang alles Deutsch-Germanischen. Völkischen Wunschvorstellungen gemäß liegen auch Schemanns Ideale in der Re-agrarisierung Deutschlands unter Führung einer aristokratischen Elite. (Brude-Firnau, 181f.)

22. Gobineaus Geschichtsbild wurde von Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) ebenfalls zum Rassismus hin fortgesetzt. Sein zweibändiges Werk Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899) gehörte schließlich zu den Standardwerken nationalsozialistischer Rassentheorie.

Seine Geschichtstheorie gipfelt in der These, „dass unsere gesamte heutige Civilisation und Kultur das Werk einer bestimmten Menschenart ist: des Germanen“. (Chamberlain 1940, 8) Dem germanischen Idealtyp wird als Antipode der Jude gegenübergestellt, werden die angeblichen Defekte des „jüdischen Geistes“ aufgezeigt. Chamberlain lehnt jedoch formelhaft vereinfachende Völkerpsychologie ab und betont gegenüber Gobineau, daß Rasse nichts Feststehendes, sondern ein Aufgegebenes sei. Gerade diese scheinbare Objektivität verschaffte ihm in Kreisen des Bildungsbürgertums Resonanz. (Brude-Firnau, 183)

123. Die Publikationen der literarisch-geisteswissenschaftlich orientierten Rassentheoretiker fanden ihre Bestätigung in einem Germanenkult, der sich seit 1871 zusammen mit einem deutschtümelnden Nationalismus verbreitete: die mangels genauer historischer Kenntnisse leicht ins Ideal-Heroische zu steigernden Germanen wurden zu einer Art nationalem Mythos verklärt. In Literatur, Musik und bildender Kunst häuften sich germanische Motive. (Brude-Firnau, 183)

24. Literaturgeschichte dient Adolf Bartels (1862-1945) zur Darstellung des auf dem Volkstum beruhenden deutschen Nationalcharakters. Volkstum konzipiert Bartels rein biologisch: es ist die in der Eiszeit geprägte germanische Rasse. Dieses „germanische Urwesen“ habe sich unbeschadet aller späteren „Mischungen“ erhalten und bestimme gleichermaßen Mentalität und Leben aller Deutschen. Das biologisch definierte Volkstum wird damit zum Instrument der Ausschließung. Bartels führt eine rassisch begründete Zweiteilung der deutschen Sprache ein. (Brude-Firnau, 184)

25. Angeregt von Kretschmers Konstitutionstypologie, die Körperbau und seelisch-charakterliches Verhalten korreliert, unternimmt es H.F.K. Günther (1891-1968) in seiner Rassenkunde des deutschen Volkes (1922), die Erbanlagen der angeblich fünf, die deutsche Gesellschaft konstituierenden Rassen festzulegen. Obwohl Günther konzediert, dass es in der Wirklichkeit nur noch „Rassengemische“ gebe, glaubt er in regional voneinander getrennt lebenden Bevölkerungsteilen einen jeweils vorherrschenden Konstitutionstyp zu erkennen. Aufgrund von Schädelmessungen, von Körpergewicht und -größe, Haar- und Augenfarbe sucht die Abhandlung deshalb den äußeren Typus der jeweiligen Rasse zu etablieren. Die zahlreichen Fotographien zeigen jedoch, dass vom theoretisch konstruierten Typus direkt auf den jeweiligen Einzelmenschen geschlussfolgert wird. Nur noch der „Rassencharakter“ bestimmt bei Günther den seelischen Kosmos, das intellektuelle und gesellschaftliche Verhalten und damit den Wert des Individuums. Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten werden ignoriert.

Unausgesprochenes Ziel der Güntherschen Abhandlung ist die wissenschaftliche Erhärtung völkisch-rassischer Ideologeme: indem Kopfform und Intelligenz aufeinander bezogen werden, scheint die Überlegenheit und kulturelle Höherwertigkeit der langschädeligen nordischen Rasse erwiesen, ihr Herrschaftsanspruch gerechtfertigt. Auf dieser Grundlage fordert Günther eine Sozialgesetzgebung zur „Aufnordung“ des deutschen Volkes. Die politische Anwendbarkeit dieser Thesen ließ Günther zum führenden akademischen Rassenkundler des Dritten Reichs aufsteigen. (Brude-Firnau, 185f.)

26. L.F. Clauß wollte in Rasse und Seele (1926) eine „nationale Psychologie“ erstellen, „eine umfassende Seelenkunde derjenigen Rassen, die am deutschen Wesen gewirkt haben“. Das primär von der Rasse bestimmte Element ist für Clauß die Seele, er nimmt eine „rassische Stilgesetzlichkeit“ des Erlebens an. Er unternimmt es ferner, „die stilreine Seele und ihre Leib“ in unterschiedlichen ethnischen Gruppen zu bestimmen. Zu den „psycho-anthropologischen“ Typen gehören: „der nordische Leistungsmensch“, „der ostische Enthebungsmensch“, „der wüstenländische Offenbarungsmensch“. Der „Rassenstil“ wird als „vererbbar, als blutlich bedingt“ begriffen. (Brude-Firnau, 187)

27. Die politischen Ereignisse des Jahres 1933 verlangten von der deutschen Literaturwissenschaft keinen grundsätzlichen Neubeginn. Die rasch vollzogene „Selbstgleichschaltung“ zeigte sich zuerst in den öffentlichen Reaktionen der Disziplin: bei den Bücherverbrennungen, die am 10. Mai 1933 an den meisten Universitäten stattfinden, wirken auch Germanisten mit.

Zensur- und Indizierungspraktiken der Reichsschrifttumskammer ließen sich mit dem Wertekanon der völkisch-stammeskundlichen Literaturbetrachtung ebenso rechtfertigen wie die Entfernung jüdischer Kollegen von den Universitäten.

Auch wenn es eine einheitliche Konzeption von Literaturwissenschaft im Dritten Reich nicht gegeben hat, lassen sich aus den Äußerungen zur Methodik und Programmatik verbindliche Kategorien eines veränderten literarischen Wertbewusstseins ableiten; es wird bestimmt von den tradierten, jetzt ideologisch umgepolten und zum Rassischen hin verschobenen Vorstellungen (Brude-Firnau, 188ff.)


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