7.08 Literaturtheoretische Grundannahmen
1. Die
literaturwissenschaft-methodischen Positionen im ‘Dritten Reich’ lassen sich
durchweg als „Differenzierungen innerhalb von ‘Geistesgeschichte’ verstehen.
(Heydebrand 1996, 219) Unter der Naziherrschaft werden lediglich innerhalb der
vorhandenen Denkmuster neue Inhalte durchgesetzt, wie Volkstum, Rassenlehre und
Krieg als Ausdruck des ‘deutschen Nationalcharakters’. Abgesehen von der
institutionellen Ebene kann dies kaum als radikaler Umbruch gewertet werden:
die Germanistik war, ebenso wie alle anderen akademischen Fächer, spätestens
seit der Reichsgründung 1871 überwiegend nationalistisch, kriegs- und
staatsbegeistert eingestellt. Insofern ist es nicht einfach – sieht man einmal
von den offiziellen NS-Verlautbarungen ab –, die Arbeiten im Fach vor und nach
1933 nach den Kategorien ‘völkisch-national’ oder ‘nationalsozialistisch’ zu
trennen. Deshalb wäre es historisch unangemessen, in Fachvertretern, die ein
ausgeprägtes ‘Deutschtum’ vertreten, prinzipiell linientreue Anhänger der NSDAP
zu vermuten. Ein Beispiel bietet Günther Müller, dessen biologistisch
orientierte Morphologie zwar gut in die Blut-und-Boden-Ideologie zu passen
scheint, dem aber 1943 die Prüfungserlaubnis entzogen wurde, weil er seiner
katholisch-konservativen Überzeugung treu blieb. Freilich gilt diese Einschränkung
nicht für alle, besonders soll sie hier nicht Anlass zur Verharmlosung der
durchaus auch real existierenden nationalsozialistischen Germanistik sein.
(Baasner, 65) 2. Nach Nadler darf eine
wissenschaftliche Geschichte der Literatur nicht beim Individuum stehen
bleiben, sie muß zu umfassenderen Einheiten vordringen. Diese übergreifende
Einheit ist für Nadler der Stamm; er ist bestimmend für literaturgeschichtliche
Entwicklungen. An Stelle des Individuums tritt der Stamm, in ihm ruhen alle
schöpferischen Energien. (Klein/Vogt, 35) 3. Günthers rassischer Typenkatalog
(s.o.) wurde von der Literaturwissenschaft als abgesichert übernommen.
Ansprechend mussten die literarischen Beispiele wirken, mit denen der einzelne
Rassentyp dokumentiert wird: Kleists Michael Kohlhaas sollte den „Gerechtigkeitssinn
der Nordrasse“, Goethes Egmont dagegen „nordische Sorglosigkeit“ demonstrieren.
(Brude-Firnau, 186) 4. Die „Ästhetik“ der
nationalsozialistisch orientierten Literaturwissenschaft stellt sich in
betonten Gegensatz zur bisherigen Methodenvielfalt einer „liberalen Forschung“
und erhebt selber Anspruch auf Alleingültigkeit: bisheriger Rationalität oder
„spitzfindiger Intellektualität“ wird das Primitive, „das Volksnahe und
Unverbildete“ entgegengestellt, einstiges Formbewusstsein als Selbstzweck und
Spielerei verpönt. Die neuen literaturwissenschaftlichen Kriterien beziehen
sich damit primär auf den Inhalt. Oberstes Ziel wird die Bestimmung des
Nationalcharakters, des „deutschen Menschen“. Geschichte ist dann nur eine
Folge „wandelbarer Hüllen“, aus denen der deutsche Idealtypus herauszuschälen
ist. Deutsche Idealfiguren waren
beispielsweise Parzival, seine Gläubigkeit und sein Vertrauen in ein gütiges
Geschick; der alternde, von gemeindenütziger Aktivität und moralischer
Bedenkenlosigkeit bestimmte Faust: dem
Einzelnen sollte das eigene „deutsche Wesen“ als unausweichlich bewusst, Kritik
am herrschenden Gesellschaftssystem zurückgedrängt und er selber dem Staat
verfügbar gemacht werden. „Gesund“ ist die „artgemäße
Instinktsicherheit“, mit der ein Autor seine Dichtung konzipiert, ebenso die
Darstellung „ganzheitlicher Ordnungen“. „Zersetzende Kritik“, Ironie, Satire
und Karikatur sind „ungesund“ oder „jüdisch-internationales Literatentum“. Als
literarischer Begriff ist „das Gesunde“ zu einer Wertungskategorie geworden, mit
der unliebsame Werke ohne weitere Begründung ausgeschieden werden konnten. Ein weiteres Kriterium ist „das
Heroische“. Mit der Kategorie des Heroischen verbindet sich die des Führertums.
Literatur erhält Weisungsberechtigung, denn auch der Dichter ist Führer.
Literatur hat mitzuhelfen „beim Neubau des deutschen Volkes“. Die zentrale Kategorie der
Literaturwissenschaft des Dritten Reichs, die sie von allen vorhergehenden
Bestrebungen absetzt, ist der Rassegedanke, der absolute Gültigkeit
beansprucht. Rasse gilt als der nicht hinterfragbare Grundsatz, aus dem sich
die Begriffe Volk, Volkstum, Kultur und damit Literatur ableiten. Man reduziert die Autoren und Werke
zum pseudobiologischen Produkt. Das sich daraus ergebende Dilemma, ein
literarisches Kunstwerk aus kollektiven biologischen Voraussetzungen erklären
zu müssen, künstlerische Kreativität aus einem angeblich festen Bestandteil
gleichartigen Erbguts abzuleiten, wird auf unterschiedliche Weise angegangen:
dabei unterscheidet sich eine biologisch-organologische von einer
rassentheoretischen Richtung. (1) Biologisch-organologische
Literaturbetrachtung Die Vorstellung vom Volk als
Organismus, das der biologische und geistige Ursprung aller Kultur ist und in
dem alle Individuen zweckhaft aufeinander bezogen sind, gehört zu den
Gedankenkomplexen, die sich rassisch-ideologischer Umwertung anboten. Der Organismus-Begriff
konnte als Analogie wie als konkrete biologische Bezeichnung benutzt werden.
Damit war er offen für rassische und rassistische Verwendung. Doch blieb er
hinreichend vage; und diese Unbestimmtheit führt zur immer häufigeren
Verwendung in literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen während des
Nationalsozialismus: organologische Begriffe signalisieren ideologische
Übereinstimmung. Eine ähnliche Vieldeutigkeit der
Aussage oder des eigenen Standorts wird durch den Terminus „Blut“ erreicht, der
noch entschiedener biologistisch akzentuiert ist: „Blut“ kann als „Bluterbe“
Rasse bedeuten, als „Blutgeheimnis“ ein Numinoses, Heidnisch-Religiöses. Der
Ausdruck gedeiht zu einer literaturwissenschaftlichen Leerformel, die jede
weiterführende Reflexion verhindert, jede kritisch-analytische Frage verbietet.
Von der biologisch-rassischen Richtung werden die Verhältnisse der
literarischen Produktion und Rezeption als „Blutkreislauf“ gedeutet. (2) Rassentheoretische
Literaturbetrachtung Die These: „Blut und Geist bilden
eine organische Einheit“, ist für den rassentheoretisch orientierten
Literaturwissenschaftler Ausgangspunkt der Forderung, es müsse eine „rassenbiologische
Literaturwissenschaft“ entwickelt werden. Diese neue Literaturwissenschaft
werde notwendig durch den allgemeinen geistigen Umbruch, der sich durch die
Erkenntnis der Erbgesetze vollzogen habe. Unter der Annahme, dass die Relation
zwischen dem biologischen und dem psychologischen Merkmal nachweisbar sei, legt
man dem eigenen Wissenschaftsprogramm die These zugrunde, „daß die Gesetze der
Vererbung auch im geistig-seelischen Bereich wirken“. Als wissenschaftlich
erwiesen gilt das Konzept einer „stabilen Rasse“ sowie die Auffassung, dass der
Mensch durch die Summe seiner Erbanlagen determiniert sei. Verbunden mit dem
Axiom von der Höherwertigkeit der nordischen Rasse ließ sich daraus „die
Ungleichheit der Menschen als naturgesetzliche Gegebenheit“ ableiten. Um genauere Aussagen über
biologisch-erbbedingte Gesetzmäßigkeiten in der Literaturgeschichte treffen zu
können, sollen die von H.F.K. Günther und L.F. Clauß erstellten rassischen
Typologien auf die Autoren und ihre Werke angewendet werden: aufgrund von
Porträts und biographischen Informationen sei der einzelne Autor einem Rassetyp
zuzuordnen. Gleichfalls unter Anwendung der Claußschen Typen soll die
dichterische Gestalt in ihrer Erscheinung, Haltung zur Umwelt sowie im
Bewegungsverlauf definiert und damit ihre „Rassenseele“ erkannt werden. Größere
Aufmerksamkeit sei der Volksdichtung zu widmen, da sich Volkslied, Sage, Mythe
und Märchen „zum Erkennen biologischer Verschiedenheiten besonders eigneten“.
Nicht zuletzt zielt das rassentheoretische Programm auf eine biologische
Ästhetik. Dieses Programm gipfelt in der Forderung, vor allem sei der jüdische
Einfluss festzustellen, der nur zur „Selbstentfremdung“ geführt habe.
(Brude-Firnau, 190ff.) |