7.09 Kritik
1. Der einzelne Wissenschaftler
erhob aus tradiertem Für-wahr-Halten, aus unkritischer Naivität gegenüber
angeblich gesicherten Ergebnissen der Naturwissenschaften oder aus politischem
Opportunismus die völkisch-rassischen Ideologeme zu wissenschaftlichen
Kriterien; er brachte das literarische Werk damit um seinen spezifischen Wert,
entwürdigte einzelne Autoren und Kollegen und machte sich selber zum geistigen
Komplizen eines verbrecherischen Regimes. Zu einem Urteilsspruch ist heute
jedoch nur der berechtigt, der selber den wissenschaftlichen Imperativ, herrschende
Anschauungen grundsätzlich neu zu überprüfen, nie missachtet hat.
(Brude-Firnau, 152) 2. Völkisch-rassische
Literaturbetrachtung zeigt sich heute als historisches Resultat und zugleich
als Paradigma für die politische Beeinflussbarkeit und ideologische
Anfälligkeit einer geisteswissenschaftlichen Disziplin. Sie signalisiert
potentielle Wiederholbarkeit. (Brude-Firnau, 152) 3. Zu Sauer: Methodologisch wird
Sauer durch die Verwechslung von Hypothese und Ergebnis beispielgebend:
bezeichnet er die genaue Bestimmung von „Volkstum“ und „Stammes-“ oder
„Volksseele“ als noch ausstehende Ziele der Volkskunde, so exemplifiziert er sie
andererseits als bereits beweiskräftige Kategorien. Entsprechend verfuhren die
nach ihm kommenden, ideologisch gebundenen Germanisten mit dem Rassenbegriff.
Sauer mochte sich ferner kaum des erkenntnistheoretischen Dilemmas bewusst
sein, dass ein „angestammtes“, also veränderungsloses Volkstum die
Geschichtlichkeit des literarischen Kunstwerks eliminieren würde.
(Brude-Firnau, 168) 4. Zu Nadler: Für Nadlers
gedankliche Inkonsequenz ist aufschlussreich, daß er der Rassenkunde noch 1934
den geisteswissenschaftlichen Aussagewert abspricht. Im Widerspruch dazu sind
jedoch Teile seiner Literaturgeschichte nach rassenkundlichen und rassistischen
Prinzipien verfasst. Die unwissenschaftlichen Verallgemeinerungen und logischen
Fehlschlüsse, die von ihm beanstandet werden – beispielsweise dürfe man „nicht
voraussetzen, was gerade unter Beweis zu stellen ist“ – sind kennzeichnend für
Nadlers eigenes Verfahren. Die Volkskunde hat für Nadler
bereits die zur Charakteristik einer Gemeinschaft erforderlichen Ergebnisse
erbracht. Es wird jedoch nie nachgewiesen, welche geistige und naturbedingte Aussage von einem bestimmten Gegenstand abzulesen
und wie diese dann auf den literarischen Gegenstand zu übertragen ist. Vor allem kann jedoch die
Stammeskunde für Nadler das „irrationale Einzelwesen“ eliminieren: „weil sie
familiengeschichtlich denkt, darf sie folgerichtig die geistesgeschichtlichen
Leistungen jedes Stammesgenossen auf die Gesamtheit des Stammes beziehen“.
(Nadler 1934, 8) Damit geht es kaum mehr um Literatur per se, sie ist nur noch
Mittel zur Festlegung einer stammesmäßigen oder nationalen Identität. Über das einzelne Werk wird in
Nadlers Literaturgeschichte wenig ausgesagt, häufig dient es der Illustration
eines historisch-soziologischen Phänomens oder einer geographischen Tatsache.
Nadlers metaphernreiche Darstellung, in der Landschaften und
Bevölkerungsgruppen wie dramatische Figuren agieren, liest sich stellenweise
wie ein unterhaltsamer Trivialroman über Dichtung. Am aufschlussreichsten für die
sukzessive Annäherung an Sprache und Denken der kommenden Machthaber ist die
über vier Auflagen vollzogene Änderung des Begriffs „ethnographisch“ zu
„völkisch“ und schließlich zu „rassisch“. Eine kennzeichnende Denkbewegung
Nadlers ist der Zirkelschluss: so wird beispielsweise unter den deutschen
Stämmen den Alamannen besondere Kreativität zugesprochen. Wo immer die
alamannisch-schwäbische Mentalität definiert werden soll, treten Tautologien
auf: „Das war Schwabentum, goldechtes Schwabentum“, wird z.B. aus Vita und Werk
Hölderlins geschlussfolgert. Eine andere Erklärung, als dass Schwäbisches
schwäbisch ist, findet sich nicht. Das derart als homogen und
unveränderlich konzipierte Stammestum annulliert gesellschaftliche und
historische Veränderungen: beispielsweise muss das Rechtsverständnis eines
Hartmann von Aue ebenso schwäbisch sein wie das eines Ludwig Uhland. Den
willkürlichen Analogieschlüssen und fehlerhaften Voraussetzungen steht
Dezisionismus und autoritärer Schematismus gegenüber: Diagramme sollen
hypostasierte geomechanische Kulturprozesse unwiderleglich erscheinen lassen. Da Nadler über die Identität der
Stämme zur nur positiv denkbaren Identität des deutschen Volkes gelangt, muss
jedes gesellschaftskritische Werk verurteilt oder verschwiegen, jede
literarische Idolisierung des „deutschen Menschen“ aufgewertet werden. Damit
ist er einer der „Hauptträger faschistischer Wissenschaft“ (Greß), ein
Vertreter des geisteswissenschaftlichen Rassismus: nur noch das „artgleiche
Blut“ bestimmt den Wert geistig-literarischer Produktion. Die
Entindividualisierung ist zur letzten Konsequenz getrieben, indem der Mensch
zum bloßen Partikel einer „Blutsgemeinschaft“ reduziert und als solche gewertet
wird. Konsequenterweise muss ein Autor, der nicht zur deutschen „Volks- und
Blutgemeinschaft“ gehört oder sich zu ihr bekennt, als „volksgefährdend“
bezeichnet werden. Indem Nadler die deutsche Geschichte
einer quasi biologisch-gesetzmäßigen Entwicklung unterstellt, die im
Hitler-Staat ihre Erfüllung erreicht hat, negiert er grundlegende menschliche
Werte und rechtliche Ordnungen. Als monströser wissenschaftlicher
Irrtum ist Nadlers Literaturgeschichtsschreibung historisch geworden; als
Versuch, Literatur mit nichtliterarischen Mitteln zu erklären und zu werten,
hat sie an Aktualität wenig eingebüßt. (Brude-Firnau, 171ff.) 5. Zu Schemann: Die Sakralisierung
einer unbeweisbaren „germanischen Rasse“ und der Glaube an die aus rassischer
Reinheit hervorgehende „Wiederauferstehung“ des deutschen Volkes werden von
Schemann pseudowissenschaftlich begründet und für das nationalsozialistische
Dogma ebenso wie für die rassisch orientierte Literaturwissenschaft verfügbar
gemacht. (Brude-Firnau, 182f.) 6. Zu Günther: Die Kritik Julius
Petersens, Günther nehme das Ziel, nämlich den Nachweis der Übereinstimmung
seelischer und körperlicher Züge, bereits als Resultat vorweg, warnte später
vor der literaturwissenschaftlichen Applikation der Rassentypologie: in
„dilettantischer Handhabung, für die der Wunsch meistens Vater des Gedankens
war“, habe die Germanistik sich diese Methode angeeignet. (Brude-Firnau, 186f.) 7. Zu Clauß: Wie sehr bei der
Bestimmung des „Rassenstils“ gesellschaftlich-zeitbedingte Wertvorstellungen
den Blick lenken, macht die Definition des „nordischen Leistungsmenschen“
deutlich: „er greift aus und an und erobert ... ist immer ‘vorn’, er ist
immerfort im Begriff, seinen Raum zu weiten: er ist ein Landnehmer, stofflich
oder geistig“. (Clauß 1936, 31) Je nach politischer Lage konnte ein solches
„Ideal“ als „faustisch“ oder „soldatisch“ bezeichnet werden; die völkischen
Ideologeme von deutscher Überlegenheit und berechtigter Aggressivität, dazu die
vom Einzelnen erwartete Todesbereitschaft zum angeblichen Wohl des Volksganzen
werden hier als ideale und angeborene Eigenschaften erklärt. Sie kehren in der
literaturwissenschaftlichen Bestimmung des deutschen Wesens nur wenig variiert
wieder. (Brude-Firnau, 187f.) 8. Zur biologisch-organologischen
Literaturbetrachtung: Erkenntniskritisch bewegt sich die
biologisch-organologisch argumentierende Literaturbetrachtung in einem circulus vitiosus: da sie sich vor allem
auf eine Literatur beschränkt, die aus denselben soziopolitischen und
ideengeschichtlichen Voraussetzungen stammt wie die eigenen Wertmaßstäbe, wird
sie von ihrem Objekt bestätigt und bestätigt wiederum dieses. Derart wurde eine
Literaturgattung für die einzig wirkliche, deutsche erklärt, deren Deutung
durch ideologiekonforme Wertmaßstäbe auf das erwünschte Bild reduziert war.
(Brude-Firnau, 195) 9. Zur rassentheoretischen
Literaturbetrachtung: Grundsätzliche Kritik kam aus den Reihen der eigenen
Disziplin. Bereits 1928 stellt Oskar Benda den „inneren methodischen
Widerspruch“ fest, die Diskrepanz zwischen kollektivistischem Ansatz und
„heroischer Geschichtsauffassung mit Persönlichkeitskult, Heldenverehrung und
Führerideal“. Die Ableitung eines historisch unwandelbaren Volkstums aus der
Literatur sei unwissenschaftlich, ebenso die Bezeichnung „volkhafte Literatur“,
die keineswegs unmittelbarer Ausdruck einer „Volksseele“ sei. Julius Petersen stellt jedes
biologistische Literaturverständnis infrage: durch die Aufzählung von Autoren,
bei denen „Rassenmischungen“ festgestellt wurden, relativiert er indirekt die
Grundsätze der „Rassenreinheit“ sowie das Wertmonopol des
Nordisch-Germanischen. Er bezweifelt die „Einheit der Rasse“, damit auch eine
herrschende „Rassenseele“ mit entsprechendem „Rassenstil“. Der mythisierte
Terminus „Blut“ wird als hypostasierter Begriff, die monokausale Rückführung
aller Dichtung auf die „Kraft des Blutes“ als fragwürdig bezeichnet.
(Brude-Firnau, 198f.) |