8.04 Konjunktur
1. In der Phänomenologie waren die
Leistungen der philosophischen Denker gegenüber den literaturwissenschaftlichen
zeitlich die früheren (Husserl zwischen 1910 und 1920, Heideggers Sein und Zeit 1927); die wie auch immer
geartete Übernahme oder Aneignung der dort reflektierend entfalteten
Denkmöglichkeit vollzog sich in der Literaturwissenschaft erst Ende der
dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Nach 1945 vermehren sich die
phänomenologischen Arbeiten. (Maren-Grisebach, 41) Zur Ausprägung der
Werkinterpretation trug die Rezeption der philosophischen Phänomenologie
entscheidend bei; die Germanistik eignete sich einzelne Elemente daraus an. Der
Begründer einer phänomenologischen Schule, Edmund Husserl, gewinnt mit seinen Logischen Untersuchungen (190/01) über
rund dreißig Jahre zunehmend an Einfluss. Seine Schüler Martin Heidegger
(Existenz-Philosophie) und Emil Staiger (werkimmanente Literaturinterpretation)
gehören zu den einflussreichen Multiplikatoren, die ein phänomenologisches
Hermeneutikkonzept entwickeln. (Baasner, 67) 2. Unter dem Einfluss der
Phänomenologie wird Werkinterpretation
zum zentralen Begriff, mit welchem zugleich beansprucht wird, eine werkimmanente Methode der
Literaturwissenschaft zu begründen. Unter diesem Namen herrschte sie von den
1930er bis in die 1960er Jahre vor; sie lieferte schließlich auch den Anlaß für
umfassende Kritik und darauf aufbauende Renovierungsversuche der Germanistik in
der Zeit nach 1965. Blütezeit: 1945-1965. (Baasner, 68,
70) 3. Die neue Richtung konnte sich in
den Jahren vor 1945 wenig entfalten, in den zwanziger Jahren war die Bedeutung
der geistesgeschichtlichen Methode überragend, nach 1933 schien die neue
Methode wenig geeignet, „völkische Aspekte“ durch die Fachwissenschaft zu
fördern. Die „kopernikanische Wende“ durch die werkimmanente
Interpretationsmethode tritt nach 1945 ein. (Klein/Vogt, 43) Erst nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde werkimmanente Interpretation zur dominierenden
literaturwissenschaftlichen Methode; darin zeigt sich u.a. auch eine Reaktion
auf die Erfahrungen mit der „Gesinnungsgermanistik“ im Dritten Reich. Einer
Literaturwissenschaft, die sich z.T. ausdrücklich mit der Frage nach
Deutschtum, Heldentum, ertüchtigendem Gedankengut in der Dichtung befasst
hatte, hielt man nun den Anspruch entgegen, ein Kunstwerk müsse als
ästhetisches Gebilde und nicht als Träger nationaler Gedanken verstanden
werden. Darin zeigt sich die Abkehr von einer politisierenden Germanistik, die
vor allem von der gesellschaftsorientierten Literaturwissenschaft beklagt wurde
und wird. In Misskredit geriet werkimmanentes
Interpretieren in den 60er Jahren. Das damals hervorbrechende politische
Engagement der jüngeren Generation, das sich vor allem in der Studentenrevolte
Geltung verschaffte, führte auch in den Geisteswissenschaften zu einer stärkeren
Orientierung an den gesellschaftlichen Implikaten von Literatur.(Petersen, 131f.) Die sogenannte „immanente
Interpretation“ ist von 1945 bis 1966 als dominierendes Paradigma der
Literaturwissenschaft kaum kritisiert worden. Sie wurde um 1968 und in den folgenden
Jahren von neomarxistischen Bewegungen als „bürgerliche Wissenschaft“
kritisiert, bis schließlich nachfolgende Studentengenerationen kaum mehr
wußten, was unter „werkimmanenter Interpretation“ zu verstehen sei, wohl aber,
dass man diese Verfahrensweise abzulehnen hätte. (Rusterholz, 366) Die „immanente Interpretation“ ist
von Staiger schon vor dem Zweiten Weltkrieg in den Grundzügen konzipiert und
exemplarisch demonstriert worden. Anfangs dem Nationalsozialismus gegenüber
nicht ganz unempfänglich, konzentrierte sich Staiger doch zunehmend auf ein
apolitisches Verständnis seines Faches und auf einen das ‘Zeitlose’ betonenden
Begriff der Kunst. Dies wurde ein wesentlicher Grund der sich nach 1945 rasch
verstärkenden Breitenwirkung in der deutschen Germanistik, die ja seit den
dreißiger Jahren ganz überwiegend eine nationalsozialistische Wissenschaft
gewesen war. Ihr bot sich nach 1945 die werkimmanente Stilkritik als nicht
korrumpierte Möglichkeit der Literaturwissenschaft an. (Rusterholz, 374f.) Nach dem Zusammenbruch des
Nazireiches setzte eine modische Begeisterung für das rein „Formale“ ein.
Während man sich bis in die frühen vierziger Jahre in einem starken Maße
geistesgeschichtlich oder chauvinistisch-völkisch engagiert hatte, wurde jetzt
das Phänomen des Weltanschaulichen als etwas ausgesprochen Trügerisches
hingestellt, dem man im Rahmen der Kulturwissenschaften mit einer geradezu
selbstverneinenden Askese begegnen müsse. Wie um 1930 begann man sich wieder
auf das rein Künstlerische zu besinnen, was zu einem mächtigen Anschwellen
aller ästhetisch-formalistischen Betrachtungsweisen führte. Das
„Außerliterarische“ trat dadurch so stark in den Hintergrund wie noch nie
zuvor. Man schwor jetzt auf eine Werkimmanenz, die sich nur noch mit dem
„Dichterisch-Sprachlichen“ auseinandersetzt, das heißt jedes Kunstwerk qua
Kunstwerk betrachtet. (Hermand, 146f.) 4. Die wichtigste kritische Anleihe
bei der Phänomenologie tritt in der sogenannten Genfer Schule zutage, die
insbesondere in den 40er und 50er Jahren ihre Blütezeit hatte und deren
Wortführer der Belgier George Poulet, die Schweizer Kritiker Jean Starobinski
und Jean Rousset und der Franzose Jean-Pierre Richard waren. Mit dieser Schule
waren auch Emil Staiger, Professor für Germanistik an der Universität Zürich,
und das frühe Werk des amerikanischen Kritikers J. Hillis Miller verbunden.
(Eagleton, 23) |