8 Werkinterpretation

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8.06 Vergleichbare Ansätze

1. Auf internationaler Ebene gab es in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbare Ansätze. Überhaupt erweisen sich in diesen Jahren die Einflüsse von außen als recht beträchtlich. Wohl die wichtigsten Anregungen gingen dabei von der weitgehend formalistisch orientierten Komparatistik, den theoretischen Äußerungen T.S. Eliots, der englischen Scrutiny-Schule, dem amerikanischen „New Criticism“, der französischen „Explication des textes“ und dem erst kürzlich wiederentdeckten russischen „Formalismus“ aus. Von überragender Bedeutung in dieser Hinsicht war der in den frühen vierziger Jahren entstandene „New Criticism“. Man huldigte hier einem Kult der literarischen Vollkommenheit, der wie bei Staiger weitgehend auf der inneren Stimmigkeit der Einzelteile zum Ganzen beruht. Unter bewußter Ablehrung von den historischen und biographischen Details wollte man sich endlich auf das beschränken, was T.S. Eliot einmal die Zeitlosigkeit aller wahrhaft großen Kunst genannt hat. Für Amerika war diese Richtung der erste wirklich durchgreifende Protest gegen den immer noch weiterwirkenden Positivismus, da es hier weder eine „geistesgeschichtliche“ noch eine „völkische“ Revolution der Literaturwissenschaft gegeben hatte.

Der eigentliche Durchbruch dieser Richtung erfolgte mit der Anthologie Understanding Poetry (1938) von Cleanth Brooks und Robert Penn Warren. Jede Form der politischen, moralischen oder historischen Beurteilung von Dichtung wird in diesem Buch als antiquarisch abgelehnt. Immer wieder geht es ausschließlich um den „Kunstcharakter“ der jeweils behandelten Dichtung. Die Form ist hier der Sinn, nicht das Inhaltliche, das als bloßes Substrat gilt. Man will nicht erklären, sondern lediglich beschreiben. Was dagegen an die Welt der objektiven Realität erinnert, wird von vielen New Critics als völlig irrelevant hingestellt. Man interessiert sich nicht für „meaning“, sondern bloß für die Form als solche, die man als wesentlich aussagekräftiger empfindet als einen politischen Leitartikel oder eine philosophische Idee. (Hermand, 149ff.)

2. Die New Critics polemisierten seit den dreißiger und vierziger Jahren gegen eine positivistische Literaturgeschichtsschreibung und gegen ein die Intention des Autors rekonstruierendes Interpretationsverfahren. In England war es seit den dreißiger Jahren vor allem William Empson, der in Anlehnung, aber auch in Korrektur seines Lehrers I.A. Richards die semantische Analyse von Texten vorantrieb.

Wie man den jeweiligen theoretischen Standort auch im einzelnen beschrieb, in jedem Fall wurde gegen extrinsische Annäherungen an den Text argumentiert, die sich historischer, biographischer und sozialer Hintergrundinformationen bedienen oder sogar die Lektüre zur Erhellung historischer Zusammenhänge funktionalisieren. Betrieben und gelehrt wurde eine intrinsische Herangehensweise, die auf eine im Text sich ausfaltende, die Alltagserfahrungen weit übersteigende Erkenntnis zielt.

Das Close Reading konnte so zu einem Sammelbegriff für ein Repertoire von Lektüretechniken avancieren, mit dem man dem ‘Literarischen’ der Texte gerecht zu werden glaubte. Besonders zielte die Lektüre dann auf die Analyse von solchen komplexen rhetorischen Kunstgriffen wie Ironien, Ambiguitäten und Paradoxien. Und man schreckte nicht davor zurück, eben diese Kunstgriffe als Merkmale des Literarischen überhaupt auszuweisen. So ist immer wieder diskutiert worden, ob eine unironische und nicht auf Ambiguitäten zielende Literatur eine schlechtere Art von Literatur oder gar keine Literatur sei. Und eine jüngere Generation von Critics um Ronald S. Crane in Chicago, die sogenannten Chicago Critics oder auch Chiicago New-Aristotelians, opponierten Mitte der fünfziger Jahre gegen ältere Kritiker wie Wimsatt und Brooks mit dem Hinweis auf entsprechende Theoriedefizite.

Die Orientierung an einem spezifischen Modus des Literarischen brachte ein neues disziplinäres Selbstbewusstsein hervor. Endlich hatte man ein genuin literaturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse entdeckt. Endlich konnte man mit der Konzentration auf das Literarische in der Literatur das methodologische Problem aus der Welt räumen, dass man Bedeutungsstrukturen vornehmlich mit Hilfe anderer, nichtliteraturwissenschaftlicher Disziplinen beschrieb.

So verschieden die Ansätze im einzelnen auch waren und so deutlich sich der New Criticism schon aufgrund seiner ganz anderen institutionellen Voraussetzungen von der immanenten Schule in Deutschland unterschied, so sehr kam man darin überein, dass dem Literarischen  oder spezifisch Poetischen das Erkenntnisinteresse zu gelten habe. (Weitz, 356ff.)


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