8.07 'Übergreifende' Hintergründe
1. Der Terminus ‘Phänomenologie’
stammt aus dem Arbeitsgebiet der Philosophie. Hier hat er seine spezifische
Ausprägung bei Edmund Husserl (1859-1938) und in dessen Nachfolge bei Martin
Heidegger (geb. 1889) gefunden. Da die Begriffe ‘Phänomenologie’ und
‘phänomenologisch’ in der Philosophie als Methodenbegriffe geschaffen worden
sind, also eine Behandlungsweise kennzeichnen, können sie prinzipiell auf
andere Wissenschaftsbereiche übertragen werden. (Maren-Grisebach, 39) Im Kontext ideologischer Krisen
suchte der deutsche Philosoph Edmund Husserl eine neue philosophische Methode
zu entwickeln, die einer auseinanderbrechenden Zivilisation absolute Gewißheit
verschaffen konnte. Es ging ihm um geistige Wiedergeburt durch eine ‘absolut
selbstgenügsame’ Geisteswissenschaft. (Eagleton, 19) 2. Phänomen heißt „Erscheinung“, und
im Bezirk der phänomenologischen Methode sollte dieser Terminus in dem von
Heidegger umgrenzten Sinne des „Sich-an-ihm-selbst-Zeigens“ begriffen werden.
Das heißt: Die Sache zeigt sich an ihr selbst, sie tritt nicht durch etwas
anderes in Erscheinung. Kein Kantisches An-sich, kein Dahinter, nichts, was
durch das Offensichtliche, durch die Oberfläche hindurch, erst erschlossen
werden müsste. „Der Titel ‘Phänomenologie’ drückt eine Maxime aus, die also
formuliert werden kann: ‘zu den Sachen selbst!’“ (Heidegger 1960, 27).
(Maren-Grisebach, 39f.) 3. Zur Sache selbst führen folgende
methodische Schritte: Das Objekt muss von dem es Umgebenden befreit werden,
damit sein Selbst klar zutage trete. Husserl bezeichnet diesen Denkschritt als
„Reduktion“. Diese Reduktion betrifft zum einen den Gegenstand, zum anderen das
Subjekt, das diesen Gegenstand erfassen will. An beiden Polen müssen
Ausschaltungen vorgenommen werden, ehe das eigentliche phänomenologische Sehen
anheben kann. Alles, was sich nicht selbst am Gegenstand zeigt, ist in Husserls
Sprache das den Gegenstand Transzendierende, und dieses muss eliminiert werden.
Was danach übrigbleibt, ist das „Selbst“ der Sache, die „reine
Selbstgegebenheit“, und das ist ihr Wesen. (Maren-Grisebach, 42) Husserl begann seine Suche nach
Gewissheit durch eine Zurückweisung der ‘natürlichen Einstellung’. Die Objekte
können nicht als Dinge an sich betrachtet werden, sondern als Dinge, die vom
Bewusstsein gesetzt oder ‘intendiert’ sind. Bewusstsein ist immer Bewusstsein
von etwas: indem ich denke, bin ich mir dessen bewusst, daß meine Gedanken sich
‘auf ein Objekt richten’. Das Denken selbst und der Gegenstand, auf den es sich
richtet, sind innerlich miteinander verbunden, voneinander abhängig. Mein
Bewusstsein ist nicht nur ein passives Registrieren der Welt, sondern
konstituiert oder ‘intendiert’ sie aktiv. Um Gewissheit zu erlangen, müssen wir
also als erstes alles, was jenseits unserer unmittelbaren Erfahrung liegt,
ignorieren oder ‘einklammern’; wir müssen die Außenwelt auf unseren
Bewusstseinsinhalt reduzieren. Diese sogenannte ‘phänomenologische Reduktion’
ist Husserls erster wichtiger Schritt. Alles dem Bewusstsein nicht ‘Immanente’
muss strikt ausgeschlossen werden; alle Realitäten müssen auf der Basis ihrer
Erscheinungsform in unserem Bewusstsein als reine ‘Phänomene’ behandelt werden.
Phänomenologie ist die Wissenschaft der reinen Phänomene. Die ‘reinen’ Phänomene sind nach
Husserl mehr als nur zufällige, individuelle Einzelerscheinungen. Sie sind ein
System universeller Wesensallgemeinheiten, denn die Phänomenologie variiert jedes Objekt
in der Vorstellung solange, bis sie entdeckt, was an ihm unveränderlich ist.
Ein Phänomen ganz und rein zu erfassen, heißt das zu begreifen, was sein
unveränderliches Wesen ausmacht. Das Ziel der Phänomenologie war die
Rückkehr zum Konkreten, zu einer soliden Basis, wie dies auch ihr berühmter
Slogan ‘zu den Sachen selbst’ nahe legt. Indem die Phänomenologie auf unsere
sichere Erfahrung zurückgriff, konnte sie eine Basis für die grundlegende und
zuverlässige Erkenntnis bilden. Sie konnte eine ‘Wissenschaft der
Wissenschaften’ sein, die für jeden beliebigen Untersuchungsgegenstand eine
Methode zur Verfügung stellte. Sie stellte sich als nichts geringeres dar denn
als die Wissenschaft vom menschlichen Bewusstsein. Diese Wissenschaft fragte nach den
Bedingungen, die jegliche Form von Erkenntnis überhaupt erst ermöglichten.
Damit stellte sie, wie vor ihr die Kantsche Philosophie, eine ‘transzendentale’
Untersuchungsweise dar. Die Phänomenologie beruht auf einer
Art methodologischen Idealismus. Sie versprach eine Wissenschaft der
Subjektivität selbst. Die Welt ist das, was ich sehe oder ‘intendiere’: sie
muss in Relation zu mir erfasst werden, als Korrelat meines Bewusstseins, und
dieses Bewusstsein ist nicht einfach empirisch und fehlbar, sondern
transzendental. Diese Erkenntnis gab einem viel Sicherheit. Gegenüber den
ernsthaften Zweifeln an der traditionellen Annahme, daß der ‘Mensch’ die
Kontrolle über sein Schicksal hatte, dass er immer noch der schöpferische
Mittelpunkt seiner Welt war, setzte die Phänomenologie das transzendentale
Subjekt wieder auf seinen rechtmäßigen Thron. Das Subjekt sollte als Quelle und
Ursprung aller Bedeutung gesehen werden: es selbst war nicht wirklich Teil der
Welt, da es diese Welt überhaupt erst entstehen ließ. (Eagleton, 19ff.) 4. Setzten hermeneutische Verfahren
und klassische Kunsttheorien zumindest die Möglichkeit der Freiheit eines sich
selbst bestimmenden Subjekts voraus, erscheint das Individuum in neueren
sozialwissenschaftlichen Konzepten als sekundäre Größe innerhalb komplexer
sozialer, sprachlicher Zusammenhänge. (Rusterholz, 384) |