8.08 Literaturtheoretische Grundannahmen
1. Für die phänomenologische
Literaturwissenschaft ist Literatur das „Phänomen“. So, wie sie erscheint, wie
sie sich dem Betrachter unmittelbar stellt, so ist sie. Die
Literatur-Wissenschaft also als Literatur-Phänomenologie hat sich nur diesem
Phänomen, dem literarischen Werk zuzuwenden.(Maren-Grisebach, 40) Den Status der ‘äußeren Werkgestalt’
wertet die Phänomenologie auf, indem sie das Wesentliche in den Phänomenen
selbst, also in den wahrnehmbaren Erscheinungen ansiedelt. (Baasner, 68) Zwischen 1950 und 1960 huldigt man
überall einer „werkimmanenten Strukturanalyse“, die sich fast ausschließlich
auf die formalästhetische Qualität ihrer Forschungsgegenstände beschränkt.
Nicht der Zeugniswert, sondern der Werkcharakter der jeweils behandelten
Dichtung ist plötzlich der entscheidende Gesichtspunkt, unter dem man Literatur
analysiert. Aus diesem Grunde wird das Werk immer stärker aus seinen ideen- und
geistesgeschichtlichen Zusammenhängen herausgelöst, das Biographische fast
völlig vernachlässigt, ja sogar das Politische, Religiöse und Soziale an die
Peripherie verbannt, um sich rein „puristisch“ mit dem Werk als solchem
beschäftigen zu können. (Hermand, 154) Die phänomenologische Kritik ist ein
Versuch, die phänomenologische Methode auf literarische Werke anzuwenden. Wie
bei Husserls Einklammerung des realen Objekts werden der realgeschichtliche
Kontext, der Autor, die Entstehungsbedingungen und die Leserschaft des
literarischen Werkes ignoriert; phänomenologische Kritik zielt vielmehr auf
eine völlig ‘immanente’, von allem Äußeren gänzlich unberührte Lesart des
Textes. Der Text selbst wird auf eine bloße Verkörperung des
Autorenbewusstseins reduziert: alle seine stilistischen und semantischen Aspekte
werden als organische Teile eines komplexen Ganzen begriffen, dessen
einheitsstiftender Wesenskern der Geist des Autors/der Autorin ist. Um diesen
Geist kennen zu lernen, dürfen wir nicht auf das Bezug nehmen, was wir über den
Autor wissen – biographische Kritik ist verboten –, sondern nur auf diejenigen
Aspekte seines oder ihres Bewusstseins, die sich im Werk selbst manifestieren.
Darüber hinaus beschäftigen wir uns mit den ‘Tiefenstrukturen’ dieses Geistes,
die in wiederkehrenden Themen und Vorstellungsmustern gefunden werden können;
indem wir diese aufspüren, erfassen wir die Art, wie der Autor seine Welt
‘lebte’. Die typische phänomenologische Kritik konzentriert sich auf die Art
und Weise, wie ein Autor Zeit und Raum, die Beziehungen zwischen dem Selbst und
dem Anderen oder die Wahrnehmung materieller Objekte erlebt. (Eagleton, 23f.) Um in das Innerste des
schriftstellerischen Bewusstseins einzudringen, versucht die Phänomenologie
völlige Objektivität und Neutralität zu erreichen. Sie muß sich von ihren
eigenen Vorlieben reinigen und einfühlend in die ‘Welt’ des Werks eintauchen.
Was sie dort findet, soll sie so genau und unvoreingenommen wie nur möglich
wiedergeben. Wenn sie ein christliches Gedicht in Angriff nimmt, ist es nicht
ihr Anliegen, moralische Wertungen über diese spezifische Sichtweise der Welt
abzugeben, sondern zu zeigen, was es für den Autor bedeutet, sie zu ‘leben’.
(Eagleton, 24) 2. Durch das werkimmanente Verfahren
sollte die Literaturwissenschaft zu einer Selbständigkeit geführt werden, wie
sie bislang noch nicht erreicht worden war. Nun sollten die Ergebnisse der
literaturwissenschaftlichen Forschung nur dem eigenen speziellen Gegenstand
entnommen sein, keiner anderen Disziplin verpflichtet. Im angelsächsischen
Gebiet wird dies Eigenständige „intrinsic approach“, innere Annäherung, oder
auch „close reading“ genannt, im französischen „explication des textes“,
Ausfaltung des im Text Gegebenen, im deutschen Arbeitsgebiet sagt man
„werkimmanente Interpretation“. (Maren-Griesebach, 41f.) 3. Die literaturwissenschaftlichen
Verfechter der Phänomenologie behaupten, dass mit ihrem Vorgehen das Wesen der
Literatur erscheine. (Maren-Grisebach, 42) 4. Nach Husserls
Intentionalitätskonzept liegt im Charakter des intentionalen Verweisens eine
mögliche Breite und Fülle der Deutung, der Bedeutung. Voneinander abweichende
Deutungen und ihre Urheber können auf dem Felde des intentionalen Verhaltens
der Phänomenologen koexistieren. (Maren-Grisebach, 47) 5. Die Kontur einer weitreichenden
Stil- oder Formgeschichte, so wurde allgemein zugestanden, ließe sich erst auf
der Basis einer großen Zahl von Einzeluntersuchungen zur Gestalt des
dichterischen Kunstwerks erkennen: „Literaturgeschichte aber rückt damit an die
zweite Stelle. [...] Sie ist nicht die Grundlage für die Deutung der einzelnen
Werke, sondern baut sich, umgekehrt, selber erst auf die Interpretationsarbeit
auf“ (Vietor 1945, 915). Im weiteren Verlauf wurde der geschichtliche Aspekt
noch weiter zurückgedrängt: die Interpretation gelte dem einzelnen Werk, und
dessen historisches Umfeld sei für diesen Vorgang irrelevant. Durch diese
generelle Enthistorisierung wurde schließlich die Literaturgeschichte immer
unbedeutender, sie sank auf den Status eines Hilfsmittels für den
Schulunterricht herab. (Baasner, 67) 6. Aus dem seinsphilosophischen
Fundament der Staigerschen Interpretationslehre geht ein Bekenntnis zum
hermeneutischen Zirkel hervor. Er wird als zentrale methodische Vorgabe
beschrieben. (Baasner, 69) Staigers oft zitierte Formel „daß wir
begreifen, was uns ergreift“, beschreibt den Erkenntnisvorgang und zugleich die
hermeneutische Position werkimmanenter Auslegung. In dieser Formel treffen zwei
Momente aufeinander. Erkenntnis besteht darin, dass etwas begriffen, also rational erfaßt wird, was uns
„ergriffen“, also emotional erfasst
hat. Ergriffenheit meint die Faszination durch das Ästhetische, das geweckte
Interesse am poetischen Text. Damit beschreibt Staiger die subjektive Komponente, die bei jedem geisteswissenschaftlichen
Erkenntnisvorgang beteiligt ist. Denn wo es um das Verstehen eines geistigen
Produkts geht, sind immer auch die subjektiven Bedingungen zu beachten und zu
analysieren, unter denen wir überhaupt verstehen können. Unsere
Verstehensfähigkeit ist nämlich abhängig von unseren Neigungen, Interessen, von
unserer Vorbildung und intellektuellen Begabung usw., weshalb
literaturwissenschaftliche Untersuchungen unterschiedlicher Autoren auch zu
sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangen können. Erkenntnis des Kunstwerkes,
also Verstehen, ist nach Steiger und den anderen Verfechtern werkimmanenter
Interpretation (subjektiv) nur auf der Basis der Faszination durch das
Ästhetische möglich. Staigers Formel trägt aber auch der objektiven Komponente des
Erkenntnisvorgangs und damit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit Rechnung,
wenn er für den Literaturwissenschaftler fordert, er habe zu „begreifen“, was
ihn ästhetisch fasziniere. Damit kommt Verstand, Rationalität, nachprüfende
Wissenschaft ins Spiel, die ihre Ergebnisse mit Hilfe einer detaillierten
Textanalyse gewinnen muss. Man kann sagen, dass in Staigers Formel das
‘Ergreifen’ den prinzipiellen Unterschied zwischen Geistes- bzw.
Literaturwissenschaft und Naturwissenschaft artikuliert, indem es die
subjektiven Bedingungen des Verstehens berücksichtigt, und dass das ‘Begreifen’
der werkimmanenten Literaturbetrachtung ihren Wissenschaftscharakter
garantiert. (Petersen, 127ff.) Der Erkenntnisvorgang vollzieht sich
in Form einer Kreisbewegung, die man als hermeneutischen
Zirkel bezeichnet. Er stellt sich als ein Hin und Her zwischen erkennendem
Subjekt und zu erkennendem Objekt bzw. zwischen dem „Ganzen“ und dem
„Einzelnen“ dar, das zu einem gesteigerten, im Idealfall vollständigen
Verständnis führt. Im Bereich werkimmanenter Interpretation, in dem es um das
Erfassen eines einzelnen, isolierten Textes geht, spricht man auch vom philologischen Zirkel. Der philologische
Zirkel setzt bei der Ergriffenheit des Subjektes an, die von dessen
Empfänglichkeit für ästhetische Phänomene, Interessen, Vorbildung usw. abhängt.
In der ersten Begegnung mit dem literarischen Produkt ergibt sich beim Leser
ein erster Eindruck von dem Textganzen, der durch die Analyse der einzelnen
Textmomente verifiziert, modifiziert oder falsifiziert, also bestätigt, korrigiert
oder in sein Gegenteil verkehrt wird. Gliedert man diesen Vorgang in einzelne
Phasen auf, so erfolgt die Untersuchung der einzelnen Textphänomene nach
Maßgabe des jeweils korrigierten, falsifizierten oder fester fundierten
Gesamteindrucks, der seinerseits wieder durch die genauere Untersuchung der
Details verändert oder präzisiert und gefestigt werden kann usw. Das Hin und
Her zwischen Erkennendem und Text dauert so lange, bis sich eine Entsprechung
zwischen dem Verständnis des Textganzen und dem der Textdetails im Subjekt
ergeben hat; insofern handelt es sich eigentlich nicht um einen Zirkel, sondern
um eine Spirale, da die Erkenntnis wächst und die hermeneutische Differenz
immer weiter überwunden wird. Die Einzelzüge besitzen ihre
Funktion nur als Mittel, das Textganze, den „Sinn“ zu konstituieren, d.h. das
Ganze ist Grund und Maßstab dafür, daß einzelne Momente überhaupt eine
Bedeutung haben. Andererseits ergibt sich aber auch das Ganze erst aus dem
Zusammenspiel der einzelnen Merkmale, beide setzen sich also wechselseitig
voraus. Denn erst die Erkenntnis der Einzelheiten vermittelt das Verstehen des
Ganzen, doch haben die Einzelzüge ihrerseits überhaupt nur eine Bedeutung nach
Maßgabe des Sinnganzen. Das macht die zirkulare Struktur dieses Verstehens aus:
das eine bedingt das andere, das andere das eine. Ein solcher Zirkel stellt für
die Geisteswissenschaftler überhaupt die entscheidende Erkenntnisstruktur dar.
(Petersen, 129f.). 7. Bei den Positivisten, ja selbst
den Geistesgeschichtlern hatte jedes Dichtwerk noch einen bestimmten
Stellenwert im Rahmen eines größeren Ganzen gehabt. Hier wollte man in erster
Linie „erkennen“, und dazu waren auch Werke minderer Qualität geeignet. Im
Gegensatz dazu beschäftigte man sich jetzt wie der New Criticism bloß noch mit
„Meisterleistungen“. Nicht die „unfreie Literatur“ ist es, für die wir uns
interessieren, schrieb Emil Staiger apodiktisch, sondern nur die „Leistung des
Genies“ (Staiger 1939, 17). Die „untere Sphäre“, in der sich die Dichtung mit
dem „Zeitgeist“ berührt, macht deshalb mehr und mehr jenen Spitzenleistungen
Platz, die sich zu den einsamen Höhen wahrer „Dichtung“ erheben. Auch darin
verbirgt sich ein bewußter Enthistorisierungsprozess. Denn da, wo man noch
„erkennen“ will, ist man stets auf eine umfassende historische Bildung
angewiesen. Bloß zu „werten“ ist dagegen etwas, was sich selbst ein Banause
zutraut. (Hermand, 155) 8. Die methodologischen Reflexionen
Staigers sind deshalb symptomatisch für das wissenschaftliche Selbstverständnis
der Germanistik in der Nachkriegszeit, weil sie einerseits an die
stilanalytische deutsche Tradition anknüpfend Anschluss suchen an den formalistischen
Trend, und weil sie andererseits philosophische Theorien Heideggers aufgreifen,
um mit Hilfe bestimmter Kategorien den literaturwissenschaftlichen
Erkenntnisprozess zu fundieren. (Hauff, 38) 9. Wissenschaftstheoretische
Prämisse des werkimmanenten Verfahrens ist nach Kayser: „Das sprachliche
Kunstwerk lebt als solches und in sich“. Zur Auslegung und Deutung eines
dichterischen Textes sind nur „textimmanente“, d.h. im weitesten Sinne sprachliche
und stilistische Faktoren heranzuziehen. Dringendstes Anliegen der Forschung
sei es, „die schaffenden sprachlichen Kräfte zu bestimmen, ihr Zusammenwirken
zu verstehen und die Ganzheit des einzelnen Werkes durchsichtig zu machen“
(Kayser 1968, 5). Der Literaturbegriff bleibt auf
die „autonomen“ Sprachkunstwerke
beschränkt, literarische Sonderformen, Essay, Tagebuch, Biographie,
Reiseberichte usw., stehen ebenso wie ästhetisch Geringwertiges außerhalb des
Forschungsinteresses der Dichtungswissenschaft. In der „Sphäre der reinen
Dichtung“ haben nach Kaysers Theorie außerliterarische Phänomene keinen Platz.
(Klein/Vogt, 46f.) 10. Da man davon ausging, dass
Literatur einen ganz eigenen kognitiven Weltbezug herstellt, den es zu erkunden
gilt, konzentrierte man sich auf Sprach- und Formanalysen, mit denen man diesen
eigentümlich literarischen Weltbezug
in den Griff zu bekommen dachte. (Weitz, 358) |