8.10 Ziele/Perspektiven
1. Es kommt darauf an, die
Aufmerksamkeit auf die Dichtung und nur auf sie, auf den Buchstaben genau, zu
lenken. Die phänomenologische Methode fordert das „unbefangene Befragen des
Gegenstands“ (Kommerell). (Maren-Grisebach, 41) 2. Die Methode der
phänomenologischen Reduktion fordert in bezug auf literarische Texte: Erstens
ist abzusehen von der Frage Wo?, von den Beziehungen eines Werkes auf seinen
Raum, in dem es entstand oder den es widerspiegelt. Der mögliche Lokalgehalt
und die geographisch bedingten Aussagen sind nicht als derartige zu deuten,
sondern nur als Teile eines in sich abgeschlossenen Werkes. Zweitens ist
abzusehen von der Frage Wann? Die Entstehungszeit eines Werkes wird nicht
untersucht, auch nicht, in welche zeitgeschichtlichen Funktionen das
entstehende Werk eingeflochten war. Die außerwerkhafte Geschichte gehört nicht
zum Sich-selbst-Zeigen des Werkes. „Das Werk gehört als solches einzig in den
Bereich, der durch es selbst eröffnet wird“ (Heidegger 1957, 30). Drittens ist
das Ich des Dichters als unwesentlich auszuschalten, seine Biographie, seine
Lebensumstände, die möglicherweise lebensbegründeten Anlässe für sein Werk.
Auch die psychischen Prozesse der Entstehung, die gesamte Psychologie als
Hilfswissenschaft , werden beiseite gehalten. Viertens ist abzusehen vom
Entwicklungsstand dessen, was Geistesgeschichte, Sprachgeschichte,
Bewusstseinsgeschichte genannt werden kann. Wertetiketten wie „original“ und
„epigonal“ sind, da nur einem Vergleich mit anderen entnommen, keine immanenten
Kriterien. Oder das Deuten der Gedanken des einen Autors mit Hilfe der Gedanken
eines anderen ist verfälschend, da wiederum die Grenzen des als abgeschlossene
Sache vorliegenden Werkes überschritten werden. Der Text soll für sich selber
stehen. (Maren-Grisebach, 42f.) Wenn das Essentielle in der
Erscheinung zum Ausdruck kommt, ohne daß etwas dahinter vermutet werden darf,
dann erschließt die Auslegung der Form den Blick auf ‘das Dichterische’ selbst.
Dieses ist zeitloser Ausdruck des ‘Seins’, es zu erfassen ist das Ziel der
Interpretation. (Baasner, 68) Die Werkinterpretation betrachtet
das dichterische Werk ohne Berücksichtigung seiner historischen Bedingungen;
wichtig ist nur, was im Text des Werkes selbst gesagt wird (‘werkimmanent’);
Interpretation entsteht aus der Betrachtung des Verhältnisses von Gehalt und
Gestalt. (Baasner, 70) 3. Staiger strebt bei Mörikes
Gedicht Auf der Lampe an, dessen
„unverwechselbar eigenen Stil“ zu interpretieren. Der „Stil“ ist für ihn das
Gesamte aller die Individualität ausmachenden Momente und der Träger des
Kunstschönen. „Die Kategorie der Kausalität ist nichtig, wo makellose Schönheit
als solche verstanden werden soll“ (Staiger 1955, 21). (Maren-Grisebach, 47f.) Staiger will nicht „erklären“,
sondern nur „beschreiben“, und zwar hauptsächlich das, worin sich die
stilistische Stimmigkeit des in Frage stehenden Werkes manifestiert. (Hermand,
149) Interpretation ist für Staiger die
Kunst, der inneren Stimmigkeit der Einzelteile im Ganzen des Sprachkunstwerks
nachzuspüren – sie ist keine nach Objektivität der Erkenntnis strebende
Fertigkeit (Wissenschaft). Diese Kunst ist nicht erlernbar, sie entwächst
vielmehr dem einfühlenden Nachempfinden eines Kunstwerks. Historische, biographische und
gattungsgeschichtliche Zusammenhänge bedeuten für die Interpretation nur eine
aufhellende Hilfe. Die „eigentliche“ Interpretation hingegen betrachtet das,
was der Zeit entrückt sei, gleichsam ‘sub specie aeternitatis’. Das zeitlose
Ergriffensein ist das Kriterium der subjektiven Interpretation, das Begreifen
setzt das Ergriffensein voraus, das dichterische Werk ruht jenseits des
Geschichtlichen als Ewigkeitswert. (Klein/Vogt, 49f.) Staiger stellte kausalen Erklärungen
der Naturwissenschaften die phänomenologische Beschreibung des Kunstwerks
gegenüber, des Kunstwerks, wie es sich selbst zeigt in der Eigenart seiner
sprachlichen Struktur. Der Begriff Stil wird verstanden im Sinne einer Einheit
von Gedanke, Vers, Syntax und Bildlichkeit. (Rusterholz, 374) Kunstgebilde sind nach Staiger
vollkommen, wenn sie stilistisch einstimmig sind. Während Liebhaberlektüre sich
mit dem vagen Eindruck zufriedengebe, habe die wissenschaftliche Interpretation
den Nachweis der Übereinstimmung von Teil und Ganzem zu leisten. (Rusterholz,
376) Begreifen,
was ergreift und beschreiben statt
erklären sind die Schlagwörter, unter denen Staigers Anleitung zur
Interpretation auf breiter Basis aufgegriffen wird. (Baasner, 69) 4. Staigers Ablehnung der
historisch-soziologischen Perspektiven erfolgt keineswegs absolut, sondern
bezieht sich nur auf Versuche, das Kunstwerk auf die Funktion als historischen
Quellentext zu reduzieren. (Rusterholz, 373) Die Formel von Staigers
Enthistorisierung der Texte ist ohne Differenzierungen nicht richtig. Staiger
versucht sehr wohl, das ausgedehnteste historische Wissen für die
Interpretation des Textes einzusetzen, aber ihn interessiert nur die Geschichte
im Text, nicht der Text in der Geschichte. Faszination und Wirkung seiner
Methode beruhen in hohem Maße auf der Konzentration auf eine Frage, die frühere
Methoden völlig ausgeblendet hatten: Was sagt mir dieser Text? (Rusterholz,
374) 5. „Eine Dichtung lebt und entsteht
nicht als Abglanz von irgend etwas anderem, sondern als in sich geschlossenes
sprachliches Gefüge. Das dringendste Anliegen der Forschung sollte demnach
sein, die schaffenden sprachlichen Kräfte zu bestimmen, ihr Zusammenwirken zu
verstehen und die Ganzheit des einzelnen Werkes durchsichtig zu machen“ (Kayser
1948, Vorwort). (Baasner, 69f.) Als Ziel germanistischer Forschung
bestimmt es Kayser, Dichtung als in sich geschlossenes sprachliches Gefüge zu
verstehen. (Rusterholz, 383) Ziel
der werkimmanenten Methode ist es, das „Wortkunstwerk“ als autonomes
ästhetisches Gebilde zu erfassen. Mittel
dazu ist eine Analyse aller Phänomene, die sich in dem entsprechenden Text
selbst finden (immanent = enthalten, einbegriffen in, ‘werkimmanent’ also: im
Werk selbst enthalten). Werkimmanente Interpretation geht davon aus, dass ein
Kunstwerk als solches aus sich heraus erfasst werden kann und erfasst werden
muss. (Petersen, 126f.) Die Fügungsart des Ganzen zu fassen,
ist das gemeinsame Ziel verschiedenster Richtungen der Werkinterpretation.
(Rusterholz, 368) |