8.16 Kritik
1. Eine von allem Unwesentlichen,
wozu auch die eigene Subjektivität zählt, isolierte Begegnung ist theoretisch
klar formulierbar, praktisch stellt die radikale Abstinenz für Subjekt und
Objekt möglicherweise unerfüllbare Anforderungen an Disziplin und
Konzentration. Max Kommerell hatte die Intention,
seinen Gegenstand unbefangen zu befragen, aber doch trägt er in seinem Aufsatz
über den Faust gleich zu Beginn das
historische Wissen von der Faust-Entstehung,
von Worten Goethes gegenüber Eckermann hinein und gibt damit der Untersuchung
eine nicht allein vom Gegenstand her bestimmte Richtung. Selbst die Auswahl
eines Untersuchungsobjektes bringt schon Bestimmungsmomente mit sich, die nicht
nur im Objekt selber liegen. Teils sind sie subjektbedingt, teils durch die
Lage der Forschung, durch die mangelhafte bisherige Information oder durch ein
besonderes, neu entstandenes und allgemeines Interesse. (Maren-Grisebach, 44f.) 2. Wenn nichts aus der Werksphäre,
der Umgebung, und nichts aus der des Beschauers hinzukommen darf, eine andere
Sphäre aber nicht angenommen wird, dann könnte die Arbeit über ein Werk nur in
dessen steter Wiederholung bestehen. (Maren-Grisebach, 45) 3. Es ist schwierig, ja unmöglich,
die rein schauende diskriptive Haltung zu bewahren. Wo ist die Grenze dessen,
was im Text selbst angeboten wird und was das Bewusstsein des Interpreten
mitbringt? Wo deutet man nur das Intentionale aus und wo löst man sich in den
Begriffen vom Gedicht? (Maren-Grisebach, 49) 4. Wenn die Naturwissenschaft die
These aufstellt, dass eine absolute Trennung zwischen erkennendem Subjekt und
seinem Objekt gar nicht statthaben kann, wenn das zu erkennende Ding notwendig
schon verändert wird, sobald ein Subjekt es beschreibt, wenn der völlig
isolierte Gegenstand prinzipiell keine beschreibbaren Eigenschaften hat, dann
ist die Forderung nach einer strengen phänomenologischen Position unerfüllbar.
Möglich ist nur das Ausschalten desjenigen Subjektiven, das undialektisch dem
Gegenstand gegenüber bleibt. Mithineinzunehmen ist dasjenige Subjektive, das
vom Werk gefordert, also in der Sache selbst seine Gründe hat. Das wäre eine
dialektisch abgeänderte Form der phänomenologischen Beschreibung.
(Maren-Grisebach, 49) 5. Der Hauptangriffspunkt gegen die
phänomenologische Methode ist ihre Tendenz der Isolation: Loslösung von der
Geschichte, Nichtbeachtung des Traditionszusammenhanges. So wird eingewandt,
viele literarische Werke blieben „ohne Kenntnis dieses geistigen
Traditionszusammenhanges schlechterdings unverständlich“ (Rüdiger). Oder man
verweist auf die Grundlage der Literaturwissenschaft, die Philologie, die
gerade eine historische Wissenschaft sei. (Maren-Grisebach, 51) 6. Die Aversion gegen das
Einbeziehen von biographischen Fakten, Lebenszeugnissen und Plänen des Autors
nimmt eine übersteigerte Form an. Dass der Autor das Werk antizipiert hatte und
dann final gerichtet auf diese Antizipation hin arbeitete, müsste erlauben, ja
gebieten, die in außerhalb des eigentlichen Werkes bestehenden Lebenszeugnissen
einsehbaren Pläne und Absichten des Autors mit hineinzunehmen. Aus dem
phänomenologisch erstellten Vergleich von Antizipation und Realisierung, von
final Gedachtem und schließlich Bewirkten, wären Erkenntnisse zu gewinnen,
deren Inhalt sehr wohl auch werkimmanent sein könnte. Auf diese Weise könnte
der Phänomenologe dem Vorwurf der Isolation entgehen. (Maren-Grisebach, 51) 7. Weiter wird kritisiert, dass es
mit der beabsichtigten Selbständigkeit der Methode nicht gar so gut bestellt
sei, da ihre Prinzipien aus der Philosophie übernommen worden seien und die
Methode dadurch wiederum ein der Literaturwissenschaft fremdes Verfahren
darstelle. Hierzu aber ließe sich als Verteidigung sagen, dass Phänomenologie
generell als Zugang zu den „Sachen“ schlechthin ersonnen worden ist, so dass
sie als Methode mit jeder Sache konfrontiert werden könne. (Maren-Grisebach,
51f.) 8. Wenn durch pures Schauen das
Wesen erkannt, das Werk an sich gesehen werden soll, dann wäre jede andere
Erkenntnishilfe überflüssig. Nur falls das Wesen der Sache eine schlechthin
unabhängige, irreduzible Erscheinung ist, in keinerlei historischen, biographischen,
psychischen Zusammenhängen verwurzelt, kann die Erkenntnis solcher angeblicher
Zusammenhänge in die Irre führen.
(Maren-Grisebach, 52) 9. Mit der Fokussierung des Blickes
auf die Gestalt der Werke war es möglich, nach 1945 die notwendige
gesellschaftliche und wissenschaftliche Neuorientierung auszublenden und dort
fortzufahren, wo man nach 1930 nie aufgehört hatte. Die Werkinterpretation dient
insofern dem politischen Rückzug, der Verdrängung des Dritten Reiches.
(Baasner, 67) 10. Zum Problem wurde die Ablehnung
literarhistorischer Zusammenhänge, die für die Konstitution der
Werkinterpretation fundamental ist: wenn das Werk allein Gegenstand der
Erkenntnis ist, und die Ausdehnung seines Textes allein den Bereich der
Untersuchung vorgibt, kann es außerhalb des Werkes keinen Maßstab geben, der
die Historizität oder gar soziale Anbindung der Literatur wahrnehmbar oder
messbar macht. Der Gegenstand der Interpretation ist somit ‘zeitlose’ Dichtung
im emphatischen Verständnis. Dieser Gegenstandsbegriff erlaubt es, jegliche
historische Bedingtheit als Kennzeichen der niederen Literatur auszugrenzen:
„das Ewige, das in den Dichtungen Gestalt wird, ist überzeitlich und also dem
Spiel des Werdens und Vergehens enthoben [...]“ (Marholz 1923, 72). (Baasner
68) 11. Das Kriterium, nach dem einige
Interpretationen als unangemessen subjektiv, andere als angemessen eingeschätzt
werden, ist die am Werk entfaltete Genialität des Interpreten, die
Ausdrucksstärke und Überredungskraft seiner interpretierenden ‘Nachdichtung’.
(Baasner, 69) 12. Man entwickelte geradezu eine
Idiosynkrasie gegen alles „Außerliterarische“, was zu einer allgemeinen
Scheuklappen-Methodik führt, die über formalistischen Spitzfindigkeiten den
universalen Sinn ihres eigenen Tuns weitgehend verfehlt. Bei den Älteren lässt
sich dies nur als Flucht oder bewusster Eskapismus interpretieren. Bei den
Jüngeren steht eher der Glaube dahinter, auch mit geringen Vorkenntnissen
sofort in die immanente Struktur des jeweiligen Werkes eindringen zu können.
Diese Methode ist natürlich ständig der Gefahr des Dilettantismus ausgesetzt.
Vieles bleibt hier völlig dem persönlichen Fingerspitzengefühl überlassen,
selbst wenn es nach außen hin mit einem noch so „formalistischen“ Vokabular
abgeschirmt wird. (Hermand, 154) 13. Die Ausrichtung auf literarische
Spitzenleistungen führte zu einer merkwürdigen Schizophrenie. So hielt man für
die mehr „zeitgebundenen Schichten“ innerhalb des literarischen Gefüges, die
sich „unterhalb der geistigen Spitzen“ befinden, eine „historisch-soziologische
Betrachtungsweise für durchaus angemessen. Dichtungen „höheren Ranges“ wurden
dagegen stets mit dem Prädikat der absoluten „Souveränität“ ausgestattet.
(Hermand, 155) 14. Die ideologische Ausweglosigkeit
erschien nach dem Krieg den meisten zu groß, um noch über das Einzelne hinaus
dem Ganzen einen Sinn abgewinnen zu können. Obendrein bot die Beschränkung auf
das Formale den Vorteil einer gewissen Sachlichkeit und Pseudoobjektivität.
Endlich hatte man im Kleinen das gefunden, was man im Großen immer vermisst
hatte: das Gefühl einer neuen Sicherheit. Die „methodische Krise“ schien damit
endgültig überwunden zu sein. Das innerste „Wesen“ des Künstlerischen schien
jetzt im Mittelpunkt zu stehen: das Literaturhafte der Literatur. Die Gewähr
einer steigenden Objektivität der Betrachtungsweise schien gegeben. Sieht man jedoch etwas genauer hin,
wird man leicht enttäuscht. Ja, manchmal hat man den Eindruck, dass der
Subjektivismus dieser Richtung von der intuitiven Willkürlichkeit mancher
Geistesgeschichtler gar nicht so verschieden ist. Man landete in der Praxis oft
bei einem paraphrasierenden Nachdichten des Originals, das überhaupt keinen
wissenschaftlichen „Nutzwert“ hat. Man sollte sich daher ernstlich fragen, wie
„objektiv“ diese innerliterarische Methode eigentlich ist. Was fällt bei einer Beschränkung auf
das „meisterliche Einzelwerk“ notwendig durch die Maschen? Würde man sich auf
die reine Dichtung beschränken, so fielen z.B. bei Goethe etwa zwei Drittel
seines Gesamtwerkes unter den Tisch. Schließlich dürften wir bei einem solchen
Rigorismus überhaupt keine Briefe, Tagebücher, Memoiren, Reisebilder oder
Essaysammlungen mehr lesen. Überhaupt gleitet auf diese Weise der Umgang mit
Dichtung oft ins reichlich Sentimentale aus, indem man sich ständig das „Wunder
der Form“ vor Augen führt, dessen Vollkommenheit vom Leser eine ganz bestimmte
Ehrfurchtgebärde verlangt. So manche Interpretationen dieser Jahre lesen sich
daher fast wie religiös ergriffene Exegesen. Immer wieder ist von Dichtern die
Rede, die rein aus dem „zeitlosen Sein“ heraus zu schaffen scheinen und deren
zur künstlerischen „Gestalt“ gewordene Sprache als etwas Geoffenbartes
hingenommen werden muss. (Hermand, 158f.) 15. Geradezu unverhüllt wird die
ideologische Absicht des formalistischen Trends, wo sie sich rein „modischen“
Phänomenen zuwendet. Dazu gehört die Neigung zu dem, was man heute als
„hermetische Poesie“ bezeichnet. Man denke an das auffällige Interesse, das man
Dichtern wie dem späten Hölderlin, Baudelaire, Mallarmé, Trakl, Rilke oder
Valéry entgegenbringt. Überall spricht man von einer „poésie pure“, die nur
noch aus ästhetischen Formen und Zeichen zu bestehen scheint. Nicht Inhalte
werden mehr beredet, sondern lediglich poetische Strukturformen. Wie im New
Criticism gilt daher die Lyrik plötzlich als das Non plus ultra der Moderne,
als die reinste, die absoluteste Form der Poesie, während man der mehr inhaltsgebundenen
Prosa nur eine untergeordnete Rolle innerhalb des dichterischen Haushalts
einräumt. Daneben traten auch andere
„Randzonen“ des Literarischen wieder stark in den Vordergrund. Man denke an die
steigende Vorliebe für alles Manieristische, Groteske, Absurde, Tragikomische,
Symbolistische, Surealistische oder Montierte, die man als Vorformen einer
allgemein akklamierten „Moderne“ interpretiert. Kunstwerke existieren nach
Meinung dieser Kreise bloß noch in sich selbst und sagen nichts mehr über die
sie umgebende Wirklichkeit aus. Das Wort spiegelt für diese Richtung
keinen objektiven Sachverhalt wider, sondern wird vorwiegend als formales
„Zeichen“ verstanden. Was hier entscheidet, ist allein die subjektive,
solipsistische „connotation“ der Sprache, die von Dichter zu Dichter sehr
verschieden sein kann. Bei einem so absoluten Verlust der
herkömmlichen Kommunikationsfunktionen bleiben schließlich bloß noch abstrakte
Sprachbilder und symbolische Strukturen übrig. Und so kommt es, daß vom
eigentlich Menschlichen im Rahmen dieser Kategorien nur selten die Rede ist.
Was sollen hier noch Phänomene wie Tragik, Schuld oder Sühne? An ihre Stelle
sind längst formale „patterns“ getreten, die mit dem ursprünglichen „meaning“
nichts mehr zu tun haben. (Hermand, 159ff.) 16. Einerseits soll bei Staiger das,
was der unmittelbare Eindruck aufschließt, nicht nur Ausgangspunkt, sondern
auch Ziel literaturwissenschaftlicher Forschung sein, andererseits soll
eigentlich literaturwissenschaftliche Arbeit erst dann beginnen, wenn wir
bereits in die Lage eines zeitgenössischen Lesers versetzt sind. Das Konzept
setzt also gleichzeitig Unmittelbarkeit der Wahrnehmung und einen fast
gottähnlichen historischen Horizont voraus; Vermittlungsprobleme sind
ausgeblendet. Gadamer kritisiert deshalb, daß diese Versetzung in die Lage
eines zeitgenössischen Lesers nie möglich sei. (Rusterholz, 373f.) 17. Die Fragwürdigkeit und Grenze
des Verfahrens Staigers liegt nicht in der radikalen Negation der Geschichte,
die er gar nicht vornimmt, sondern in der faktischen Beschränkung auf
Literatur- und Kulturgeschichte ohne Einbezug der politischen und der Sozialgeschichte
und in der Beschränkung auf diejenigen Formen der Kunst, die noch eine gewisse
Unmittelbarkeit des Zugangs ermöglichen. Der gravierendste Mangel aber liegt
wohl im einseitig klassizistischen Kunstbegriff, der die Norm der
Interpretation ebenso bestimmt wie die Norm dessen, was als Kunst zu gelten
habe: Das Kunstwerk muss als stilistisch kohärente Einheit zu beschreiben sein;
das historische Wissen wird auf seine heuristische Funktion zum Erweis dieser
„Stimmigkeit“ beschränkt. (Rusterholz, 381) 18. Max Wehrli hat auf Staigers
Forderung, „zu begreifen, was mich ergreift“, erwidert, dass es „freilich auch
gelingen soll zu begreifen, was mich nicht ergriffen hat“. Bestimmte Texte des
Mittelalters, des Barock, aber auch der Moderne sind unmittelbarer Wahrnehmung
des Gefühls nicht zugänglich, weil sie von ganz anderen Dichtungskonzepten
ausgehen als dem von Staiger vorausgesetzten. (Rusterholz, 381) 19. Die Grenzen und Probleme der
immanenten Werkinterpretation zeigten sich in aller Schärfe im sogenannten
„Zürcher Literaturstreit“ von 1966. Staiger griff in einer Rede die engagierte
Literatur der Gegenwart als eine Entartung jenes Willens zur Gemeinschaft an,
der Dichter vergangener Tage beseelt habe, und beklagte eine amoralische
Haltung der gegenwärtigen Literatur, in der es „lichtscheu“ und
„niederträchtig“ zugehe. (Rusterholz, 382) 20. Die ‘immanente
Werkinterpretation’ versteht sich wie
die existenzphilosophische Deutung von Dichtung im Grunde als eine
nicht-positivistische Wissenschaft, denn ihre Arbeit zielt nicht auf Analyse
und Erklärung von Faktenkomplexen, sondern vollendet sich im Begreifen des
Wesens eines Wortkunstwerkes. Die intendierte Wesensschau hat für die
wissenschaftliche Praxis Konsequenzen: einerseits Enthistorisierung und
Entrealisierung der Literatur, andererseits eine ideologische und eskapistische
Funktion der Literaturwissenschaft. Die Wahrheit, um deren Verstehen es jeweils
geht, ist nicht in der konkreten Historizität und Geschichtsbedingtheit von
Text und Leser verankert, sondern beruft sich auf eine Theorie abstrakter Geschichtlichkeit. Die methodologische
Fragwürdigkeit der ‘Kunst der
Interpretation’ zeigt sich unter dem Blickwinkel der Hermeneutik Gadamers
besonders in folgenden Punkten: (1) Man vermisst eine hermeneutische
Reflexion auf die Geschichtlichkeit des Interpreten und auf die Vermitteltheit
seiner Erkenntnisperspektiven, die das Forschungsfeld erst konstituieren. (2) Die Interpretation des
Textmaterials geschieht allein im Hinblick auf eine Bestätigung des gewählten
bzw. vorgegebenen Problemhorizonts, so dass der empirischen Forschung keine
Möglichkeit eingeräumt wird, das auf einem bestimmten Vorverständnis beruhende
Hypothesengefüge zu modifizieren, zu revidieren, zu falsifizieren. (3) Die Diltheysche
Erlebniskategorie wird in ihrer vagen Irrationalität übernommen, was dazu
führt, Gefühl als das „Kriterium der Wissenschaftlichkeit“ (Staiger) zu
betrachten. (Hauff, 40f.) 21. Vietor feierte noch 1933 den
„Sieg der national-sozialistischen Bewegung“ als „Beginn einer neuen Epoche der
deutschen Geschichte“. Er, der dann früh dem nationalsozialistischen Staat den
Rücken kehrte, ist einer der ersten Wortführer der neuen Methode, durch die
sich die Germanistik wieder von der Politisierung ihrer Arbeit lösen könne. Das zähe Beharren auf der
ahistorischen Grundkonzeption stimmt bedenklich; es belastet die Germanistik
bis zur Gegenwart. Versuche, die Literatur als historisch, gesellschaftlich und
politisch verankerte Erscheinung zu fassen, bleiben der Peripherie der deutschen
Germanistik. Noch 20 Jahre nach dem Zusammenbruch urteilt Erik Lunding die
„Politisierung“ der Literaturwissenschaft (ohne den Begriff „Politisierung“ zu
differenzieren) pauschal als „Krebskrankheit“ ab. (Klein/Vogt, 44f.) 22. Durch die programmatische
Beschränkung auf das „zeitlose Sein“, den „Kunstcharakter“ der Dichtung,
entzieht sich die werkimmanente Interpretation gesellschaftskritischer
Selbstreflexion. Versuchte Kayser noch im Sprachlichen
Kunstwerk, Fragen der literarischen Wertungen im formalästhetischen Bereich
zu beantworten, so erkannte er später die geschichtliche Bedingtheit des
Interpreten an, klammerte aber weiterhin literarhistorische Fragen als
„Vorfeld“ der Wissenschaft aus. (Klein/Vogt, 47f.) 23. Die „Interpretationspraxis“ der
Kayser verpflichteten Literaturwissenschaftler erreichte nur selten die reine
„Werkimmanenz“ von dessen Theorie. Am Einzeltext zeigt sich immer wieder, dass
seine Prämisse vom zeitlos-überzeitlichen Kunstwerk, die Interpretation eines
sprachlichen Gefüges „aus sich selbst“ heraus, unzureichend, wenn nicht
tautologisch blieb. Vor allem die Interpretation älterer Texte machte es oft
unerlässlich, zur Erklärung ihrer sprachlichen, sachlichen, stilistischen,
poetologischen und gedanklichen Eigenart die fast verachteten
„außerdichterischen“ Fakten heranzuziehen (Sprachgeschichte,
politisch-geschichtlicher Hintergrund, Biographie des Verfassers u.a.m.). So
werden viele Texte weniger werkimmanent, d.h. zeitenthoben, als vielmehr historistisch, aus ihrer Entstehungszeit
heraus interpretiert. Die Unzulänglichkeit dieses Verfahrens, das auf
Anschauungen Wilhem Diltheys zurückgreift, liegt freilich in der Verabsolutierung
der Kriterien jener Entstehungszeit, die nicht dialektisch mit denen der
Gegenwart des Lesers konfrontiert werden. Die literarische Erfahrung des
Rezipierenden ist auf ein angeblich zeitloses Sein der Dichtung reduziert, eine
Aktualisierung des literarischen Textes in Bezug auf die jeweils rezipierende
Öffentlichkeit und somit eine Rückwirkung auf gesellschaftliches Verhalten ist
in der konsequenten Anwendung von Kaysers Interpretationslehre nicht möglich.
Die rein formalästhetische Interpretation bleibt gesellschaftlich weitgehend
unverbindlich; sie birgt zudem die Gefahr in sich, subjektive Eindrücke und
Gefühle wissenschaftlich zu untermauern. Die echte Wertung bleibt den
„Berufenen“ (Kayser) vorbehalten. (Klein/Vogt, 48f.) 24. Karl Otto Conrady wies in einer
Kritik nicht nur an Kaysers, sondern auch an Welleks und Warrens
Dichtungsbegriff auf den Reduktionismus eines Literaturbegriffs hin, der sich
an den Leitbegriffen der Einheit und der Autonomie des Kunstwerks orientierte.
Conrady sprach von einer „Mystifikation der Dichtung und des Dichters“. Aus
marxistischer Perspektive stellten der New Criticism und die Werkästhetik
Verfallssymptome der bürgerlichen Literaturwissenschaft dar. Obwohl die
Einwände gegen einen reduktionistischen Literaturbegriff richtig waren,
antworteten sie doch nicht auf die hermeneutischen Fragestellungen, die Staiger
aufwarf. Der Hinweis auf die komplizierten Prozesse gesellschaftlicher
Vermittlung von Literatur schafft das Problem des Verstehens, das Staiger im
Sinn hat, nicht aus der Welt. Deshalb ist es kaum übertrieben zu sagen, dass in
der Bundesrepublik, insgesamt gesehen, eine Auseinandersetzung mit der
werkimmanenten Methode und ihrer Lektürepraxis, die sich auf die Probleme der
Lektüre wirklich einließ, nicht stattfand. (Weitz, 368f.) 25. Die Phänomenologie stellte den
alten Traum des klassischen bürgerlichen Bewusstseins wieder her und versah ihn
mit neuem Glanz. Denn diese Ideologie hatte um den Glauben gekreist, dass der
‘Mensch’ seiner Geschichte und seinen sozialen Bedingungen irgendwie
vorausging, die ihm entsprangen, wie das Wasser aus einem Brunnen sprudelt.
Indem sie die Welt wieder auf das menschliche Subjekt zentrierte, lieferte die
Phänomenologie eine imaginäre Lösung für ein drängendes historisches Problem.
(Eagleton, 22) 26. Die phänomenologische ist eine
völlig unkritische, ‘wertfreie’ Untersuchungsmethode. Kritik wird nicht als
Auslegung gesehen, als aktive Werkinterpretation, die unausweichlich die
Interessen und Vorurteile des Kritikers mit einbezieht; Kritik ist eine bloß
passive Rezeption des Textes, eine reine Transkription seiner geistigen
Wesenheiten. (Eagleton, 24) 27. In der Annahme, dass ein
literarisches Werk ein organisches Ganzes bildet, ja dass sogar alle einzelnen
Werke eines bestimmten Autors dies tun, kann die phänomenologische Kritik bei
ihrer entschlossenen Jagd nach Einheitlichkeiten unerschrocken zwischen den
zeitlich am weitesten auseinanderliegenden, thematisch unterschiedlichsten
Texten hin- und herspringen. Dies ist eine idealistische, essentialistische,
ahistorische, formalistische und organizistische Kritikform, eine Art reines
Destillat aus den blinden Flecken, Vorurteilen und Beschränktheiten der
gesamten modernen Literaturtheorie. (Eagleton, 24) 28. Für die phänomenologische Kritik
ist die Sprache eines literarischen Werkes wenig mehr als ein ‘Ausdruck’ seiner
inneren Bedeutung. Diese etwas überholte Sprachauffassung geht auf Husserl
selbst zurück. Husserl spricht von einem rein privaten oder inneren
Erfahrungsbereich; aber in Wirklichkeit ist ein solcher Bereich eine Fiktion,
da jede Erfahrung auch Sprache beinhaltet, die Sprache aber unabdingbar sozial
ist. Für Husserl geht die Bedeutung der
Sprache voraus: Sprache ist nicht mehr als eine sekundäre Tätigkeit, die die
Bedeutungen, über die ich irgendwie schon verfüge, mit Namen versieht. Wie es
mir überhaupt möglich ist, über Bedeutungen zu verfügen, ohne auch schon eine
Sprache zu haben, ist eine Frage, die Husserls System nicht beantworten kann. Das Charakteristikum der
‘linguistischen Revolution’ des 20. Jahrhunderts ist die Erkenntnis, dass
Bedeutung nicht einfach etwas von der Sprache ‘Ausgedrücktes’ oder
‘Widergespiegeltes’ ist: sie wird durch sie überhaupt erst hergestellt. Es ist nicht so, als ob wir Bedeutungen oder
Erfahrungen hätten, die wir dann in Wörter kleiden; wir können Bedeutungen und
Erfahrungen überhaupt nur haben, weil wir über eine Sprache verfügen, in der
wir sie machen. Damit liegt es darüber hinaus nahe, dass unsere Erfahrungen als
Individuen zutiefst sozial sind. So etwas wie eine private Sprache kann es gar
nicht geben. Im Gegensatz hierzu will die Phänomenologie bestimmte ‘reine’
innere Erfahrungen von der sozialen Verseuchung durch die Sprache freihalten – oder in der Sprache alternativ
dazu nicht mehr sehen als ein bequemes System zur ‘Fixierung’ von Bedeutungen,
die sich unabhängig von diesem herausgebildet
haben. Aber wie kann man etwas überhaupt klar sehen, ohne die
konzeptuellen Vorgaben der Sprache zur Verfügung zu haben? (Eagleton, 24f.) 29. Die Phänomenologie verspricht
eine feste Basis für menschliche Erfahrung, kann sie aber nur um den hohen
Preis der Opferung der menschlichen Geschichte selbst herstellen. Denn
menschliche Bedeutungen sind mit Sicherheit historisch. Die phänomenologische
Einstellung zur Welt bleibt trotz ihres Hauptaugenmerks auf die real erfahrbare
Wirklichkeit kontemplativ und ahistorisch. Die Phänomenologie versuchte den
Alptraum der modernen Geschichte zu lösen, indem sie sich in eine spekulative
Sphäre zurückzog, wo eine Gewissheit lauerte; so wurde sie in ihrem einsamen,
entfremdeten Grübeln zum Symptom eben jener Krise, die zu überwinden sie
angetreten war. (Eagleton, 26) |